Zwölf Stunden töten
Lange Schichten sind gefährlich, dennoch wurde die erlaubte Arbeitszeit erweitert
Von Silvia Habekost
Man hat in Wuhan eine klare Relation zwischen der Länge der Arbeitsschichten und der Überlebenswahrscheinlichkeit der Patienten sowie der Ansteckungswahrscheinlichkeit der Krankenhaus-Mitarbeiter entdeckt«, heißt es in einem Interview mit Eckhard Nagel, Professor für Medizinmanagement und Gesundheitswissenschaften, der von 2010 bis 2015 Ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender des Universitätsklinikums Essen war.
In der ersten hektischen Phase, so Nagel, »arbeiteten Ärzte und medizinisches Personal in Wuhan oft 12 bis 14 Stunden. Sehr viele Helfer haben sich damals angesteckt. Diese Entwicklung sehen wir auch in Italien und Spanien. Erst als in China sehr viel mehr Personal zur Hilfe kam und die Schichten sich auf sechs Stunden verkürzten, sanken die Ansteckungs- und Sterberaten. Die Kehrseite der Medaille: Kürzere Schichten bedeuten einen sehr viel höheren Bedarf an Schutzausrüstung.« Seine Schlussfolgerung ist deutlich: Die Lehre für Deutschland und Europa sei, »dass eine Sechs-Stunden-Schicht Leben rettet«.
Welchen Grund gibt es also in der jetzigen Situation in Deutschland, Zwölf-Stunden-Schichten und eine Verkürzung der Ruhezeit auf neun Stunden für systemrelevante Berufe, darunter der Gesundheitsbereich, zuzulassen, wie es Anfang April das SPD-geführte Arbeitsministerium beschlossen hat? Ist es allen Ernstes der Mangel an Schutzausrüstung?
Wenn das ein Hintergrund dieser Verordnung ist, macht mich das nur wütend. Bisher gibt es von der Politik keine Signale, die die Situation in den Krankenhäusern nachhaltig verbessern könnten. Es scheint zudem vergessen, dass wir uns schon seit Jahren im Krisenmodus befinden.
Dass zu wenig Personal – vor allem hochqualifiziertes – da ist, ist nichts Neues. Die Ursachen dafür sind ebenfalls bekannt: Marktorientierung, verfehlte Finanzierungspolitik der Krankenhäuser und der Gesundheitsversorgung allgemein. Seit Jahren prangern wir die Arbeitsbedingungen als Ursache für den Fachkräftemangel an und streiken regelmäßig, in verschiedenen Teilen Deutschlands, für Entlastung. Uns wird und wurde aber nicht zugehört. Und das ist nun erneut der Fall. Jetzt wird auch noch der Mangel an Schutzausrüstung zum Argument für die Verlängerung der Arbeitszeiten: Sagt mal, geht’s noch? Wollen wir die fatalen Fehler aus China und Italien wiederholen, wo die Krankenhäuser maßgeblich zur Ausbreitung des Virus beigetragen haben?
Eine Sechs-Stunden-Schicht rettet Leben.
Jetzt ist der Zeitpunkt, an dem nach Arbeitszeitmodellen gesucht werden muss, die die Versorgung der Patient*innen gewährleisten sowie das Personal schützen und entlasten. Wir sind die kostbarste Ressource, die ihr habt. Und die funktioniert nicht mit Zwang und programmierter Überlastung. Nicht umsonst haben etliche Gesundheitsarbeiter*innen den Beruf verlassen oder sind ins Leasing »geflüchtet«. Die wichtigsten Gründe für diese Flucht sind die Arbeitszeiten, die Arbeitsverdichtung und ein verlässlicher Dienstplan.
Wieso wird nicht versucht, Sechs-Stunden-Schichtmodelle zu etablieren, insbesondere in den belasteten Bereichen? Das würde die Attraktivität erhöhen, in den Beruf zurückzukehren. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Freiwilligkeit und die Einbeziehung unserer Einschätzungen in Entscheidungen, also derjenigen, die sich wirklich auskennen.
Dem Beispiel unserer Kolleg*innen am Universitätsklinikum in Jena folgend, haben gewerkschaftlich aktive Beschäftigte von Vivantes und der Charité in Berlin einen offenen Brief verfasst, in dem wir Forderungen an die Politik gestellt haben. An erster Stelle steht dabei der Schutz der Beschäftigten, d.h. dass ausreichend Schutzkleidung zur Verfügung steht und dass Beschäftigte aus Risikogruppen nicht direkt mit Covid-19-Patient*innen arbeiten. In diesen offenen Briefen, die es inzwischen bundesweit gibt, ist nachzulesen, welche Maßnahmen wir für richtig halten. Eine Ausweitung der Arbeitszeit ist nicht darunter.
Es wird häufig gesagt, die Pflege habe keine Stimme. Aber: Wir haben viele Stimmen, zum Beispiel in unserer Gewerkschaft ver.di. Wir sind laut. Also: Hört uns endlich auch zu!