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Zwischen Krieg und Frieden 

Warum der türkische Staat trotz anhaltender Angriffe auf Rojava den Gesprächsfaden zu Öcalan wieder aufgenommen hat

Von Müslüm Örtülü

Man sieht mehrere Reihen kurdische Kämpfer*innen mit Fahnen der YPG, YPJ und von Öcalan.
Seit dem Sturz des Assad-Regimes setzt der türkische Staat sein bereits zuvor formuliertes Ziel, die Demokratische Autonome Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens, auch als Rojava bekannt, zu zerschlagen, um. Foto: kurdishstruggle/Flickr, CC BY 2.0

Sırrı Süreyya Önder ist eigentlich Filmemacher, doch dafür hat er in diesen Tagen kaum Zeit. Denn gemeinsam mit den kurdischen Politiker*innen Pervin Buldan und Ahmet Türk klopft er aktuell an verschiedenste Türen der türkischen Politikwelt. So besuchten sie am 11. Januar die beiden inhaftierten ehemaligen Co-Vorsitzenden der HDP Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ im Gefängnis. Önder, der vor der Kamera meist sympathisch mit einem zurückhaltenden Lächeln auftritt, klingt derzeit eher mahnend: »Wenn wir diese Chance nicht nutzen, werden sich 72 Parteien in die Angelegenheit einmischen«, sagte er etwa nach dem Besuch bei Demirtaş.

Die Gruppe, die derzeit durch das Land reist, um verschiedene Politiker*innen davon zu überzeugen, ebendiese »Chance« zu nutzen, handelt im Auftrag von Abdullah Öcalan, dem seit 1999 in der Türkei inhaftierten PKK-Gründer. Nach mehr als dreieinhalb Jahren völliger Isolation erhielt dieser am 23. Oktober 2024 zunächst Besuch von seinem Neffen und Ömer Öcalan von der DEM-Partei, der Nachfolgepartei der HDP, bevor Önder am 28. Dezember gemeinsam mit Buldan nach Imrali reiste. Die beiden letzteren hatten Öcalan bereits während des gescheiterten Friedensprozesses zwischen 2013 und 2015 immer wieder auf der Gefängnisinsel besucht und in seinem Namen Gespräche mit dem türkischen Staat und Vertreter*innen der PKK geführt. Damals ließ der türkische Präsident Erdoğan den Prozess einseitig scheitern, was selbst in seiner Regierungspartei AKP auf Unverständnis stieß. Es folgten fast zehn Jahre erneuter Krieg in Kurdistan, innerhalb und außerhalb der türkischen Grenzen. Jetzt gibt es zwar wieder Gespräche, aber von Frieden wagt noch niemand zu sprechen.

Schlechte Signale aus Rojava

Denn derselbe türkische Staat, der den Gesprächskanal mit Öcalan eröffnet hat, scheint von einem Frieden in Nordsyrien nicht viel zu halten. Gleich mehrfach bombardierten türkische Kampfflugzeuge Menschen, die zu einer Friedensmahnwache am Tişrîn-Staudamm gelangen wollte. Sowohl die Luftangriffe als auch die anhaltenden Kämpfe zwischen der protürkischen Dschihadistenarmee Syrische Nationalarmee (SNA) und den Demokratischen Kräften Syriens (SDF), die die Selbstverteidigung der Autonomieregion repräsentieren, fordern täglich Todesopfer.

Die gesamte Region ist seit dem 7. Oktober 2023 im Umbruch; die gewaltsam aufrechterhaltenen Gleichgewichte sind ins Wanken geraten.

Seit dem Sturz des Assad-Regimes setzt der türkische Staat sein bereits zuvor formuliertes Ziel, die Demokratische Autonome Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens, auch als Rojava bekannt, zu zerschlagen, konsequent in die Tat um. Gemeinsam mit der SNA wurde bereits die Stadt Minbic eingenommen. Am Tişrîn-Staudamm ist die türkische Offensive jedoch ins Stocken geraten. Hier wird seit Wochen gekämpft. Wegen der türkischen Luftangriffe warnt die Selbstverwaltung mittlerweile vor einem Kollaps des Staudamms. Sie befürchtet eine verheerende Überschwemmung sowie eine humanitäre und ökologische Katastrophe mit Auswirkungen bis in den Irak.

Sollten die Türkei und ihre dschihadistischen Milizen Tişrîn unter ihre Kontrolle bringen, droht ein Großangriff auf die symbolträchtige Stadt Kobanê. Hier hatten die kurdischen Kämpfer*innen der YPG und YPJ vor ziemlich genau zehn Jahren dem sogenannten Islamischen Staat seine erste militärische Niederlage zugefügt. Danach baute die Bevölkerung ihre damals völlig zerstörte Stadt von Grund auf wieder auf, um die nun eine neue Schlacht droht.

Festhalten an der Friedenschance

»Es ist ein Prozess. Natürlich ist es auch für uns ein Prozess. Es ist noch kein abgeschlossener Prozess, es sind noch nicht alle Fragen geklärt.« Mit diesen Worten beschreibt der bekannte kurdische Politiker Zübeyir Aydar, Mitglied der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK), die aktuellen Gespräche auf Imrali.

Dass der türkische Staat einen solchen Prozess eingegangen ist und sich parallel zu den Kriegshandlungen in Syrien gezwungen sieht, den Gesprächsfaden mit Öcalan wieder aufzunehmen, hat hauptsächlich zwei Gründe. Erstens befindet sich die gesamte Region seit dem 7. Oktober 2023 im Umbruch; die gewaltsam aufrechterhaltenen Gleichgewichte in der Region sind ins Wanken geraten. Welche Auswirkungen das auf Irak, Iran und möglicherweise auch auf die Türkei haben werden, ist schwer abzuschätzen. Die Regierung in Ankara will sich für mögliche Szenarien gut wappnen, hat sich aber wohl noch nicht entschieden, ob sie das durch einen Frieden oder durch einen Krieg mit den Kurd*innen tun möchte. Zweitens hat der türkische Staat vergeblich versucht, die kurdische Freiheitsbewegung militärisch zu zerschlagen. Das von der Türkei seit 2015 immer wieder verkündete Ende der PKK ist aber nie eingetreten, ebenso haben sowohl die Selbstverwaltung in Rojava als auch die kurdische und linke Opposition innerhalb der türkischen Staatsgrenzen allen Angriffen des türkischen Staates getrotzt. Nach dem Scheitern der militärischen »Lösungskonzepte« muss der türkische Staat nun Öcalan wieder als Gesprächspartner anerkennen.

In dieser Umbruchphase haben allerdings auch internationale Kräfte die Kurd*innen als bedeutenden Akteur erkannt, den sie in ihre Pläne zur Neugestaltung der Region einspannen möchten. Öcalan hatte in seiner letzten Botschaft mit Verweis auf Gaza und Syrien vor der weiteren Einmischung externer Akteure gewarnt. Er bevorzugt eine Friedenslösung durch den Dialog der Konfliktparteien. Interventionen von außen würden hingegen neue Kriege schüren und die Situation auf unabsehbare Zeit verschlimmern.

Ähnlich sieht es Sırrı Süreyya Önder, der genau deshalb vor der Einmischung von »72 Parteien« warnt, sollte die auf dem Tisch liegende Chance ungenutzt verstreichen. Jetzt gehe es vor allem darum, wie die türkische Regierung sich zwischen den beiden Optionen – Frieden oder weitere Konfrontation in Syrien – entscheiden werde, so der DEM-Politiker, der sich wohl noch für eine ganze Weile mehr der Politik als dem Filmgeschäft wird widmen müssen.

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