Die Pandemie besiegen
Wir können nicht lernen, mit dem Virus zu leben – wir brauchen einen kompletten Kurswechsel und einen solidarischen Shutdown
Von Verena Kreilinger und Christian Zeller
Es ist Januar 2021, ein Jahr nach Beginn der Pandemie. Auf den Webseiten, welche täglich Zahlen zur Pandemie erfassen, zeigen alle Kurven steil nach oben. Die Zahl der Infizierten, die Zahl der Toten. Rund 15.000 Menschen sterben derzeit weltweit an jedem einzelnen Tag an Corona. Aber auch an der Verantwortungslosigkeit der Regierungen, deren Pandemiebekämpfung das Wohl der Wirtschaft dem Leben der Menschen überordnet. Entschlossen gilt es hierzu einen Kurswechsel durchzusetzen: Zero-Covid. Solidarischer Shutdown. Doch was heißt das?
In der öffentlichen Debatte in den deutschsprachigen Ländern ist eine ZeroCovid-Strategie bisher quasi nicht existent. Lockdowns sollen immer nur dem Ziel »Flatten the Curve« dienen. Es darf gern noch wochenlang weitergestorben werden, aber eben geordnet, nur in dem Ausmaß, wie die Intensivstationen Betten hergeben. Dieser Zustand ist unsäglich, besonders, weil die Wahrscheinlichkeit, sich anzustecken, (schwer) zu erkranken und zu sterben, ausgesprochen ungleich verteilt ist. Das Virus trifft bekanntlich auf eine rassistisch und patriarchal geprägte Klassengesellschaft und wird entsprechend zu einer Pandemie der Ungleichheit. Diese strukturelle Ungleichheit wird nun weiter reproduziert und verschärft durch die Maßnahmen und Strategien, die die Regierenden zur Pandemieeinhegung wählen.
In der öffentlichen Debatte in den deutschsprachigen Ländern ist eine ZeroCovid-Strategie bisher quasi nicht existent. Lockdowns sollen immer nur dem Ziel »Flatten the Curve« dienen.
Kapitalinteressen als Gradmesser
Diese Strategie klammert in einem perfiden Spin die Fabriken und Büros, in denen täglich Millionen Menschen zusammenkommen, als mögliche Orte der Ansteckung in der öffentlichen Diskussion trotz anderslautender Statistiken weitgehend aus. Die Befindlichkeit des Kapitals wird zum Gradmesser für Umfang und Dauer jeglicher Eindämmungsstrategie des Virus. Die Ökonomie ist nicht zum Wohle der Menschen da, sondern umgekehrt: Das Leben der Menschen wird aufs Spiel gesetzt, um weiterhin unaufhaltsam die Profitmaschine in Gang zu halten.
Den wirtschaftlichen Interessen entsprechend, hangelt sich die Corona-Politik vieler Länder faktisch immer entlang des Infektionsgeschehens, um dieses gerade noch so unter Kontrolle zu halten – oder eben auch nicht. Die Regierungen zwingen die Menschen durch immer neue Lockdowns. Setzt sich die britische Mutation des Virus großräumig durch, verschärft sich die Situation noch mal dramatisch. Und je mehr Menschen sich infizieren, desto wahrscheinlicher werden weitere Mutationen.
Die Regierungen setzen nun ihre ganze Hoffnung auf eine umfassende Durchimpfung der Bevölkerung. Viele Linke folgen ihnen hierin. Dieser Ansatz ist auf Sand gebaut. Erstens reichen die Impfstoffe bei Weitem nicht aus, um die Menschen genügend schnell zu impfen. Zweitens zeigen sich in der Konkurrenz um die Zuteilung der Impfstoffe die ganz banalen geopolitischen und wirtschaftlichen Machtverhältnisse. Die abhängigen und armen Länder werden nur einen Bruchteil ihrer Bevölkerung impfen können. Das heißt, das Virus wird weiter zirkulieren und mutieren. Die Impfkampagnen werden nicht verhindern, dass in den nächsten Monaten abermals Hundertausende von Menschen sterben werden. Die auch von Linken unbedacht daher gesagte Devise »mit dem Virus leben lernen« wird nicht funktionieren.
Radikale Eindämmung
Mehr als 1.000 renommierte Forscher*innen, darunter erstmals auch der Chef des Robert-Koch-Instituts, Lothar Wieler, haben sich für einen Strategiewechsel ausgesprochen. In einer gemeinsamen Stellungnahme im Fachblatt Lancet fordern sie, dass die Fallzahlen in Europa drastisch gesenkt werden müssen. Die angezielte Inzidenz von zehn Neuinfektionen pro Tag pro Million Einwohner*innen sowie deren konsequente Nachverfolgung und Isolation kommt einer Zero-Covid-Strategie gleich.
Eine solche Strategie verfolgt die radikale Eindämmung des Virus. Dazu müssen wir in ganz Europa einen solidarischen Shutdown »von unten« durchsetzen: gegen die Pandemie sowie das Kapital und seine Regierungen. Hierbei gilt es nicht die Menschen komplett unter Hausarrest zu stellen, wie manche Kritiker*innen schnell einwenden, sondern es braucht zuallererst einen Shutdown aller gesellschaftlich nicht notwendigen Bereiche der Wirtschaft. Das darf keine Frage der wirtschaftlichen Kosten sein. Es ist genügend Reichtum in unserer Gesellschaft vorhanden, um eine effektive Eindämmungsstrategie so zu organisieren, dass die Menschen weder gesundheitlich noch ökonomisch in ihrer Existenz bedroht werden. Die Beschäftigten erhalten auch im Shutdown ihre Löhne von den Unternehmen oder – sofern diese nicht mehr dazu in der Lage sind – vom Staat.
Zudem braucht es ein umfassendes Unterstützungsprogramm für all jene Menschen, die ihre Existenzgrundlage bereits verloren haben. Menschen, zumeist Frauen, deren Betreuungs- und Sorgearbeit durch einen umfassenden Shutdown verdichtet und verlängert wird, müssen auch dort, wo Homeoffice möglich ist, ihre Arbeitszeit reduzieren oder aussetzen können. Das kostet viel Geld. Doch eine inkonsequente Pandemiebekämpfung mit geringen Maßnahmen kostet die Länder langfristig mehr als ein kurzfristiger, effektiver Shutdown. Dies hat eine Studie des Internationalen Währungsfonds bereits im Oktober gezeigt. Subventionszahlungen an Unternehmen sind einer harten Prüfung nach unmittelbarer gesellschaftlicher Notwendigkeit und ökologischer Verträglichkeit zu unterziehen. Viele Geschäftsmodelle waren bereits vor der Ausbreitung des Corona-Virus nicht nachhaltig; weder sozial, wirtschaftlich noch ökologisch. Die Entscheidung darüber, welche Unternehmen auch im Shutdown weiter in Betrieb bleiben, soll von den Beschäftigten selbst mitbestimmt und nötigenfalls mit Streiks durchgesetzt werden. Dies verhindert, dass gut vernetzte Lobbyverbände die Partikularinteressen einzelner Industriezweige erwirken.
Das Virus lässt nicht mit sich verhandeln. Wir können seine Wirkungen nicht abwägen oder kleinreden, sondern nur akzeptieren und die erforderlichen solidarischen Schlüsse daraus ziehen.
Linke Relativierungen
Auch viele Linke haben sich mit der Pandemie längst abgefunden, wollen ihre gesellschaftlich zerstörerische Wirkung nicht wahrhaben, ignorieren oder negieren sogar ihre Konsequenzen. Sowohl die Linkspartei als auch Aktivist*innen in anderen Zusammenhängen sprechen sich in erster Linie für eine soziale Abfederung der Wirkungen der Pandemie und der Regierungsmaßnahmen aus. Diese Position erfasst weder die Dynamik und Tragweite der Pandemie noch die Möglichkeiten, die sich der Gesellschaft bieten. Sie unterscheidet sich in ihrer Zielsetzung nicht maßgeblich von der »Flatten the Curve«-Strategie, die die Regierungen in Europa verfolgen.
Hinter dem Unverständnis und der Relativierung der Pandemie steht ein grundsätzliches Problem. Das Virus verbreitet und mutiert sich gemäß Naturgesetzen. Das Virus lässt nicht mit sich verhandeln. Wir können seine Wirkungen nicht abwägen oder kleinreden, sondern nur akzeptieren und die erforderlichen solidarischen Schlüsse daraus ziehen. Im Fall der Erderhitzung wagt kaum noch jemand, die Prozesse zu leugnen. Auch das Erdsystem lässt nicht mit sich verhandeln. Die Anreicherung von CO2 in der Atmosphäre bewirkt den Treibhauseffekt. Wenn wir die Erwärmung gegenüber der vorindustriellen Zeit nicht auf 1,5 Grad Celsius begrenzen, überschreitet das Erdsystem mit hoher Wahrscheinlichkeit Kipppunkte, die eine unkontrollierbare Eigendynamik auslösen.
Das heißt, es bleibt uns nichts anderes übrig, als die Gesetze der Natur anzunehmen, sofern wir sie überhaupt einigermaßen verstanden haben. Hingegen können wir sehr wohl gestalten und entscheiden, wie die Gesellschaft mit der Virusausbreitung und der Erderhitzung umgehen soll. Die Einsicht, Prozesse der Natur zu respektieren und einen rationalen Umgang mit ihnen zu pflegen, hat sich im Fall der Covid-19-Pandemie leider noch nicht durchgesetzt.
In Ländern wie Taiwan und Neuseeland haben die herrschenden Kreise frühzeitig erkannt, dass ein Laufenlassen der Pandemie ihren Interessen entgegengesetzt wäre. In Europa hingegen haben viele Regierungen und die herrschenden Klassen die Pandemie unterschätzt. Darum kommen die Staaten ihrer Rolle als »ideeller Gesamtkapitalist«, der für die Aufrechterhaltung der Akkumulationsbedingungen für das gesamte Kapital zu sorgen hat, nur noch eingeschränkt nach. Nun befinden sie sich in einer verworrenen Eigendynamik und erkennen nicht mehr, wie sie aus der Situation herauskommen, außer mit autoritären und selektiven Lockdowns die Pandemie am Köcheln zu halten.
Mit dieser absurden und menschenfeindlichen Dynamik ist radikal zu brechen. Eine solidarische Perspektive auf ZeroCovid muss keineswegs den autoritären Staat befördern, sondern setzt ihm eine demokratische Alternative von unten entgegen. ZeroCovid ist eine emanzipatorische Strategie. Es geht darum, die Menschen glasklar über die Ziele der Viruseindämmung zu informieren und sie von einer schwierigen, aber überschaubaren Zeit zu überzeugen. Sozialist*innen und emanzipatorische Linke setzen auf die kollektive Einsicht und die Lernfähigkeit der Menschen.
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