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|ak 697 | Wirtschaft & Soziales

Zentralbankmalheur

Welche Wirtschafts- oder Zinspolitik auch immer bei der Bekämpfung der Inflation verfolgt wird, die Ergebnisse bleiben unbefriedigend

Von Janina Urban

Blick auf die EZB in Frankfurt am Main, im Vordergrund der Main.
Die EZB in Frankfurt/Main: Was für Gedanken machen sich die Menschen in diesem Gebäude? Foto: Charlotte Venema/Unsplash

Sind steigende Profite ein dauerhafter Treiber von Inflation in Europa? Diese Frage und die, ob der Staat dagegen Mittel in der Hand hat, sorgt für viel Aufmerksamkeit. Doch bei der Debatte um eine sogenannte Gewinninflation oder Greedflation (dt. Gierinflation) fällt hinten runter, dass auch die vorausgegangene Deflation bestimmten Kapitalien und reichen Haushalten genutzt hat. Die Abkehr der Europäischen Zentralbank (EZB) von der Niedrigzinspolitik bewirkt nun, dass sich dieses Kräfteverhältnis zugunsten anderer Akteur*innen umkehrt. Dabei entstehen Kollateralschäden, mit denen die Entscheidungsträger*innen möglicherweise selbst nicht gerechnet haben. So drohen die hohen Preise und Zinsen, die Konjunktur abzuwürgen, während sich die wirtschaftliche Grundstruktur kaum verbessert. Eine Politik im Interesse der Lohnabhängigen tut deshalb gut daran, sich auch die längere Dimension der aktuellen Inflation anzuschauen. 

Anfang 2021, auf dem Höhepunkt der Coronapandemie, treten zwei Phänomene auf, die stutzig machen: Nicht nur nimmt die Geldaufnahme der Unternehmen in Deutschland erstmals wieder zu, sondern auch die Unternehmensgewinne – Ausgangspunkt der Analyse der Gewinninflation – steigen. Zentralbanker*innen zeigten sich besorgt: Gegen gesamtwirtschaftlich schädliches Verhalten von Unternehmen, wie etwa Preiserhöhungen zur Gewinnsteigerung, hätten sie in Zeiten multipler Wirtschaftskrisen wenig auszurichten – ähnlich wie in den Jahren zuvor gegen die Investitionsabstinenz produzierender Unternehmen. 

Dies zeigt sehr gut die Charakteristika der heutigen kapitalistischen Konstellation: Trotz ständiger staatlicher Versuche, Produktion und Verteilung zu steuern, bleibt das Ergebnis unbefriedigend. 

Daher ist es sinnvoll, sich mit den Größen zu befassen, die durch die Inflation in den Bilanzen der privaten Haushalte, der Unternehmen und des Staates umgeschichtet werden. Das erlaubt es, zwei sozialdemokratisch geprägte Strategien gegeneinander abzuwägen: die der Modern Monetary Theory (MMT) und die des Keynesianismus. Die MMT hat eine Wirtschaft mit dauerhaft niedrigen Zinsen vor Augen, kritisierte jedoch an der vergangenen Niedrigzinsphase, dass hier Finanzgeschäfte zu stark bevorteilt wurden. Der Keynesianismus begreift Inflation per se als nichts Schlechtes, wenn diese dazu beiträgt, die unternehmerische Investitionstätigkeit anzukurbeln, und Löhne und Gehälter mitsteigen – sei es durch starke Gewerkschaften oder Inflationsbindung. 

Niemand will mehr Schuldner*in sein

Aktuell gerät bisweilen in Vergessenheit, dass auch die Deflation nach der Finanzkrise von 2008 als nachteilig für die arbeitende Bevölkerung galt. Stagnierende Preise und die Schwäche der Gewerkschaften hatten zu Nullrunden bei Tarifverhandlungen geführt; die Staatsverschuldung stieg, weil das Wirtschaftswachstum hinter den Erwartungen blieb und Unternehmen trotz niedriger Zinsen wenig investierten, was in ganz Europa zu anhaltender Erwerbslosigkeit führte. 

Durch die Eurokrise ab 2010 noch befördert setzte eine rege publizistische Beschäftigung mit dem Thema Schulden ein. So charakterisiert beispielsweise der Ökonom Mark Blyth das gegenwärtige Wirtschaftssystem als eines, das es Vermögenden erlaubt, den Einkommensschwachen Schulden aufzudrücken, damit sie ihren eigenen Wohlstand vergrößern können. Die Rechtswissenschaftlerin Katharina Pistor wiederum beschreibt, wie verschiedene Eigentumsformen (bspw. Unternehmen), intellektuelle Eigentumsrechte sowie Finanzprodukte dazu beitragen, Vermögenswerte zu schaffen, auf deren Auszahlung nur ein privilegierter Teil der Weltbevölkerung Zugriff hat. Alle anderen hingegen tragen das Risiko und die Wertschwankungen. Auf politischer Ebene drückt sich diese Übermacht der Vermögenden über die Schuldner*innen darin aus, dass die Austeritätspolitik weiter fest im Sattel sitzt, damit – zynisch gesprochen – die Anleger*innen ihr Geld zurückbekommen. Zudem haben Vermögensverwalter*innen wie BlackRock, Vanguard und Co. erheblichen Einfluss darauf, wie die Europäischen Union beispielsweise den Klimawandel bekämpfen will. Die Ökonomen Thomas Ferguson und Servaas Storm diskutieren außerdem, wie die Vermögenswertstabilisierung der Zentralbank während der Coronakrise die Kaufkraft von reicheren Haushalten erhöht und damit zur Inflation beigetragen hat. Sie halten die Unternehmenskonzentration in Europa für zu gering für dauerhafte Überprofite. Was passiert also, wenn die Inflation die Werte umschichtet, während die Zentralbankpolitik die Anreize im System neu verteilt? 

Löhne sind aktuell der Inflationsstopper Nummer 1.

Auf den ersten Blick gibt es einen klaren Gewinner der Inflation: Staaten mit hohen Verschuldungsquoten. Deutschlands Schuldenstand sank 2022 trotz relativer Ausgabensteigerung von 69 auf 66 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP); in Italien reduzierte sich dieser um mehr als fünf Prozentpunkte. Dies kann als eine intendierte Folge der Zinspolitik der Zentralbanken verstanden werden, da unter aktuellen Bedingungen die Staatsschulden der Eurozone auch als Maßstab für die Stabilität des Euro gewertet werden.

Ein weiterer Effekt greift tiefer in die Verbindungen der Akteur*innen untereinander ein. Staatsanleihen sind zum wichtigen Stabilitätsanker für Finanzmärkte geworden, so dass nicht nur Zentralbanken, sondern auch Banken und Pensionsfonds große Mengen davon halten. Die Zinswende hat nun dazu geführt, dass Zentralbanken ihre Bestände an Staatsanleihen abbauen. Finanzinstitute mussten wiederum die Differenz zwischen dem Marktzins und der niedrigen Festverzinsung dieser Papiere ausgleichen. Das konnte, wie im Fall der US-amerikanischen Silicon Valley Bank, zur Pleite führen. (ak 691) Doch für Staaten hat die Zinswende auch negative Folgen: Sie müssen höhere Zinszahlungen leisten – und das unter ungleichen Bedingungen. Während Deutschlands Anteil des Zinsaufkommens aktuell bei 0,6 Prozent des BIP liegt, sind es in Italien 2,8 Prozent, Tendenz leicht steigend. 

Haushalte – die doppelten Verlierer

Private Haushalte können als doppelte Verlierer der Inflation bezeichnet werden. Ihre Löhne halten mit der Inflation kaum Schritt, und sie sind deutlich weniger verschuldet als sie Vermögen in Form von Geldanlagen, Immobilien usw. besitzen. Die Wertminderung, die den Schuldner*innen in einer Inflation zugutekommt, ist für sie eine Reduktion ihres Vermögens. Dabei ist zu berücksichtigen, dass in den vergangenen Jahrzehnten eine Politik der Lohnzurückhaltung und eine der Vermögenskonservierung betrieben wurde, so dass Vermögensveränderungen vor allem die reicheren Haushalte betreffen.

Zwei Drittel der Haushalte beziehen einen Großteil ihres Einkommens aus der Lohnarbeit. Die deutsche Politik konnte diese Einkommen durch staatliche Entlastungspakete (ak 683685) im Jahr 2022 einigermaßen stabilisieren; nun haben höhere Lohnabschlüsse diese Rolle übernommen. Dennoch bleibt ein Kaufkraftverlust von zwei bis drei Prozent des Nettoeinkommens, so dass Löhne aktuell der Inflationsstopper Nummer 1 sind. Der Teil der Haushalte mit großem Vermögen erfuhr kurzzeitig das, was die konservative Presse in deflationären Zeiten als Enteignung der Sparer*innen bezeichnet hatte. Im vergangenen Jahr beliefen sich diese Bewertungsverluste auf 336 Milliarden Euro, was die Bundesbank als die längste Phase sinkender Geldvermögen seit der Wirtschafts- und Finanzkrise beschreibt (Immobilienwerte ausgenommen). Im laufenden Jahr setzt jedoch eine Erholung ein, von der sie durch die Aufwärtsbewegung an den Börsen und höhere Zinsen auf Spareinlagen profitieren. Während also die Konflikte um angemessene Löhne weitergehen, sieht es für die Anleger*innen mittelfristig wieder besser aus.

Gewinne in vier Branchen treiben die Preise

Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine sind die Preise drastisch gestiegen. Schon früh wurde unter dem Stichwort Gewinninflation diskutiert, ob Konzerne durch Preiserhöhungen ein wichtiger Treiber dieser Inflation sind. Ende September veröffentlichte das gewerkschaftsnahe Institut für Makroökonomie eine Studie, die den Stand der Diskussion und der empirischen Forschung zusammenfasst und die Rolle der Gewinnentwicklung für die aktuelle Inflation in Deutschland untersucht. Das Ergebnis: Ja, für vier Branchen trifft es tatsächlich zu, dass ihre Profite die Inflation getrieben haben. Dies waren das Baugewerbe, Handel, Verkehr und Gastgewerbe. In diesem Jahr hat sich das Gewinnwachstum dort jedoch verlangsamt. Die Autor*innen definieren Gewinne dann als preistreibend, wenn »die Stückgewinne über einen längeren Zeitraum mit einer höheren Rate steigen als das Inflationsziel der Europäischen Zentralbank. Gesamtwirtschaftlich hätten die Stückgewinne seit dem Frühjahr 2022 bis Mitte dieses Jahres einen »deutlichen Beitrag zur Preissteigerung« geleistet, heißt es. Man könne daher von einer »gewinninduzierten Inflation« sprechen.  (gsp)
Die Studie »Gewinninflation: Realität oder Fata Morgana?« findet sich unter: https://www.imk-boeckler.de

Die vielleicht widersprüchlichste Inflationsdynamik ergibt sich für die produzierenden Unternehmen. Im Vergleich zum Staat und den privaten Haushalten haben sie mit die höchsten Schulden und das größte Vermögen – und das in etwa in gleicher Höhe. Inflation könnte für sie ein reines Plus-Minus-Geschäft sein. Finanzialisierung bedeutet aber, dass Unternehmen immer weniger in die Produktion investieren und stattdessen verstärkt auf den Finanzmärkten aktiv werden.

Geht das mit niedrigen Zinsen einher, trägt dies tatsächlich zu Verzerrungen bei, die von Ökonom*innen häufig kritisiert werden. Kritikpunkte waren etwa die Anleihekäufen der EZB auch von klimaschädlichen Unternehmen oder die Start-up-Blase. Inflation und hohe Zinsen haben nun einen doppelten Effekt. Zum einen erscheint es wieder attraktiver, Gewinne über den Verkauf von Produkten zu erzielen. Die Profite in der Realwirtschat – alles weitere ausgeklammert – hätten damit das Potenzial, die Investitionstätigkeit der Unternehmen anzukurbeln. Zum anderen erfahren die Unternehmen, ähnlich wie zuvor die privaten Haushalte, eine Stabilisierung ihrer Einkommen durch Zinsen. Das heißt, es gibt wenig Anreize für Unternehmen, ihre finanzialisierten Struktur grundsätzlich zu verändern. 

Das Ergebnis: Zunächst haben niedrige Zinsen und Anleihekäufe, später Konjunkturhilfen die Kreditaufnahme und die Investitionstätigkeit der Unternehmen in Deutschland gestützt. Jetzt steigen die Gewinne in der Realwirtschaft wieder. Das könnte den Unternehmen mehr Lust auf Geschäfte machen, aber die hohen Notenbankzinsen ersticken diese Aussicht wieder. Und somit zeigt sich, dass Modern Monetary Theory und Keynesianismus nicht viel mehr als idealbildliche Beschreibungen unterschiedlicher kapitalistischer Krisenphasen sind.

Fazit: Hinter der sichtbaren Ungleichbehandlung von Kapital zuungunsten der Arbeit durch staatliche Lohn-, Gewinn- und Subventionspolitik steht auch die Politik der Zentralbanken. Mit Inflation und Zinswende wurde eine Dynamik in Gang gesetzt, die zwar zu einer temporären Entschuldung von Staatshaushalten und Unternehmensbilanzen beitragen kann, sich aber aufgrund der schwachen Konjunktur und der Finanzialisierung nicht in längerfristigen Investitionen beider Akteure niederschlägt. Diese Politik hat zu multiplen Schocks für Haushalte, Bankbilanzen und die Kreditaufnahme von Unternehmen geführt und wird dies zum Teil auch in Zukunft tun. Das Einzige, was sich verbessert hat, ist die makroökonomische Steuerung durch die Zentralbank, die einige Verzerrungen in der Wirtschaft verringert und Verstrickungen in den Bilanzen aufgelöst hat. Zu erwarten ist, dass sich diese Position in der nächsten Krise wieder umkehrt und somit der Nutzen der Hochzinspolitik insgesamt infrage steht. 

Janina Urban

ist Doktorandin in einem Projekt zu Klimawandel und globaler Finanzwirtschaft an der Universität Witten/Herdecke. Sie beschäftigt sich mit Geldtheorien, sozialer Teilhabe und demokratischen Alternativen zum Kapitalismus.