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Wo Mexiko-Stadt den Dreck hinschafft

Umweltaktivist*innen leben in der mittelamerikanischen Metropole gefährlich – ist auch Abisai Pérez Romero ermordet worden?

Von Monika Streule

Mann mit Schubkarre vor Haufen mit Müll.
Aufräumarbeiten nach der Überschwemmung von 2021. Die Markthalle im Zentrum der Stadt Tula stand zwei Meter unter Wasser und erlitt Totalschaden. Foto: Abisai Pérez Romero

Am 13. Februar 2023 wird der mexikanische Umweltaktivist und Journalist Abisai Pérez Romero in der Nähe der Stadt Tula, nordwestlich von Mexiko-Stadt, tot aufgefunden. Als Todesursache geben die Behörden Kopfverletzungen durch einen Sturz an. Doch Freund*innen sind davon alles andere als überzeugt. Denn der Student hatte sich seit Längerem durch seinen Umweltaktivismus exponiert.

Zwei Monate vor seinem Tod hat mich Pérez Romero in Tula herumgeführt. »Hier war eine Hängebrücke, bevor sie von der Flut vor einem Jahr mitgerissen wurde«, sagte er. Tula war im September 2021 mit Schmutzwasser des nahe gelegenen Abwassertunnels Túnel Emisor Oriente (TEO) überschwemmt worden. Sechzehn Personen starben, das Zentrum der Stadt wurde völlig verwüstet. Während des Rundgangs wies mich Pérez Romero auf die immer noch sichtbaren Spuren der Verwüstung hin. Die Katastrophe wäre ihm zufolge zu verhindern gewesen. Mit Radiosendungen und einem Youtube-Kanal hatte er versucht, die Menschen vor Ort zu informieren und zu zeigen, wie die verfehlte Abwasserpolitik von Mexiko-Stadt mit den Umweltproblemen in der Region zusammenhängt.

Der 29-jährige Pérez Romero studierte an der Autonomen Universität von Mexiko-Stadt (UACM). Mit Filmen und auf der online-Plattform »Environmental Justice Atlas« dokumentierte er die Umweltverschmutzung und den Widerstand dagegen im Mezquitaltal nahe der Hauptstadt. Unermüdlich wies er auf den gesundheitlichen und ökologischen Notstand hin. Ob sein Tod damit zusammenhängt, ist auch nach mehr als einem halben Jahr unklar. Die zuständigen Behörden versuchten, den Fall rasch zu den Akten zu legen. Auf Druck der Familie, der UACM und internationaler Organisationen müssen sie nun den Fall weiter aufarbeiten. Aktuell gehen sie von einem Überfall aus. 

In die Peripherie ausgelagert

Tula liegt im Mezquitaltal, rund 70 Kilometer nördlich von Mexiko-Stadt. Die beiden Regionen sind durch Megaprojekte miteinander verbunden – zum Beispiel mit dem Abwassertunnel TEO. Dieser ist mit 62 Kilometern länger als der Gotthard-Basistunnel quer durch die Alpen und befördert über 150 Kubikmeter Wasser in der Sekunde. Die neue Kanalisation soll Überschwemmungen in der Hauptstadt verhindern. Am Bau maßgeblich beteiligt war die Grupo Carso des mexikanischen Multimilliardärs Carlos Slim, wie auch das deutsche Unternehmen Herrenknecht aus Baden-Württemberg. Die Kosten verdreifachten sich während der elfjährigen Bauzeit auf 33,8 Milliarden mexikanische Pesos (rund 1,8 Mrd. Euro). 2019 vom Präsidenten Andrés Manuel López Obrador eingeweiht, führt TEO heute das Abwasser der über 20 Millionen Einwohner*innen zählenden Metropole über eine Megakläranlage in der Gemeinde Atotonilco – die größte Anlage ganz Lateinamerikas – in den Fluss Tula, der mitten durch die Kleinstadt gleichen Namens fließt. 

Tula wurde nicht überschwemmt, es ist überschwemmt worden.

Abisai Pérez Romero 

Dort kämpfen Umweltaktivist*innen seit 2017 gegen die Zerstörung des Flusses. Laut einem Bericht der Nationalen Wasserkommission Conagua zur Überschwemmung 2021 »war es nicht der örtliche Regen, sondern der Überlauf der Flüsse, Stauseen und Abwasseranlagen von Mexiko-Stadt und des Bundesstaates Hidalgo, der die Flut verursacht hat«. Und für Pérez Romero war klar, dass die Bewirtschaftung des Wassers von Mexiko-Stadt die unteren sozialen Klassen und bestimmte Stadtteile diskriminiert. Die »Lösung«, den Fluss Tula zu erweitern und zu begradigen, würde die Wasserkrise weiter verschärfen, mit der sowohl die Hauptstadt als auch das Mezquitaltal konfrontiert würden. Eine Krise, die nicht nur aus akutem Wassermangel, unzureichender Wasserversorgung und übernutzter Grundwasservorkommen besteht, sondern gleichzeitig schwere Überschwemmungen mit sich bringt.

In einem seiner Dokumentarfilme zeigt Pérez Romero, dass Mexiko-Stadt zunehmend auf das beschriebene Abwassersystem angewiesen ist, um die Kloake so weit weg wie möglich bis nach Hidalgo zu leiten. In der Nacht auf den 7. September 2021 beschlossen die Behörden, überschüssiges Wasser in die Peripherie von Mexiko-Stadt zu leiten – und sie entschieden, Hidalgo zu fluten, um die kommerziell wichtigeren Quartiere von Mexiko-Stadt zu retten. »Tula wurde nicht überschwemmt, es ist überschwemmt worden«, erklärt Pérez Romero im Film.

Das Mezquitaltal als Umwelthölle

Die Megaprojekte von Mexiko-Stadt betreffen über Tula hinaus das gesamte südliche Mezquitaltal, das wegen seiner Abwasser- und Abfallproblematik als eine der »Umwelthöllen« Mexikos gilt. Die Region ist geprägt durch bewässerungsintensive Landwirtschaft auf einer Fläche so groß wie Hamburg, direkt neben Agrochemieanlagen, Mülldeponien, Kalksteinbrüchen, einem riesigen Schwerölkraftwerk, einer Raffinerie sowie der Megakläranlage und dem TEO. Außerdem gibt es in der Region nicht weniger als acht Zementfabriken. Zusammen erzeugen sie 40 Prozent des in Mexiko produzierten Zements, der auch für den Bau von Megaprojekten eingesetzt wird. »Es ist ein stark verschmutztes Gebiet mit einer verwobenen und komplexen Realität, die mit der organisierten Kriminalität und anderen gewalttätigen Strukturen zu tun hat«, erläuterte Hernán Correa, Dozent an der UACM, kürzlich gegenüber der spanischen Zeitung El País. 

Auch das Zementwerk des Schweizer Konzerns Holcim befindet sich im Mezquitaltal, konkret in der Gemeinde Apaxco. Die Anwohner*innen des Viertels El Mirador, gleich neben dem Werk, beklagen sich über den Staub, dem sie täglich ausgesetzt sind, und den Lärm der voll beladenen Lastwagen, die durch die engen Straßen fahren. Neben diesen offensichtlichen Belastungen leiden die Bewohner*innen vermehrt an Atemwegserkrankungen, chronischem Nierenversagen und Krebs, wie Leticia Ariza (1) vom Kollektiv Región Tolteca im Interview mit ak erzählt. »Die Zementfabriken betreiben verstärkt eigene Verbrennungsanlagen von Industrieabfällen, um Energie für die Zementherstellung zu gewinnen«, berichtet die seit vielen Jahren engagierte Aktivistin aus Apaxco. 

Gewalt gegen Umweltaktivist*innen

Mexiko ist eines der gefährlichsten Länder für Umweltaktivist*innen. Das Centro Mexicano de Derecho Ambiental (CEMDA) hat seit 2014 708 Fälle dokumentiert. Umweltaktivist*innen, insbesondere Indigene, werden systematisch bedroht, verschleppt oder ermordet. Allein 2021 wurden 25 Aktivist*innen ermordet. Ebenso bedroht sind Journalist*innen. Reporter ohne Grenzen hat seit Amtsantritt von López Obrador im Dezember 2018 37 Morde dokumentiert. Kaum je ein Fall ist aufgeklärt worden. Dabei gäbe es eine Chance zur Verbesserung. Am 22. April 2021 trat das Escazú-Abkommen in Kraft. Es ist das erste regionale Umwelt- und Menschenrechtsabkommen in Lateinamerika und der Karibik und das erste rechtsverbindliche Instrument der Welt zum Schutz von Umweltaktivist*innen. Das Abkommen garantiert das Recht auf Zugang zu Informationen, die Beteiligung an Entscheidungsprozessen und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten. Staaten sind verpflichtet, Angriffe auf Umweltschützer*innen zu verhindern und zu untersuchen. Schlüsselländer wie Brasilien und Kolumbien haben das Abkommen noch nicht unterzeichnet, während andere wie Mexiko es noch effektiv umsetzen müssen.

Die Nähe dieser Anlagen zu städtischen Gebieten birgt erhebliche Risiken. 2009 trat Ethylacrylat in der Verbrennungsanlage von Ecoltec aus. Die Substanz verursacht Halsschmerzen und Verbrennungen auf der Haut, Bauchschmerzen und Erbrechen. Rund 30.000 Menschen in elf Gemeinden in einem Radius von 1,3 Kilometern waren betroffen. Das 1993 gegründete Tochterunternehmen von Holcim bestritt damals alle Vorwürfe und zeigte sich zum Dialog mit den Anwohner*innen bereit, die die Anlage blockierten. Sie konnten einen vorläufigen Stopp erzwingen. Doch seit 2013 ist die Verbrennungsanlage unter dem Namen Geocycle wieder in Betrieb. Auf jährlichen Gedenkveranstaltungen zum Unfall protestieren viele Anwohner*innen auch 14 Jahre nach dem Vorfall gegen den Betrieb in ihrer Nachbarschaft. Zusammen mit lokalen Umweltorganisationen wehren sie sich gegen die Pläne der Regierung, acht weitere Verbrennungsanlagen in Hidalgo zu genehmigen. Sie verlangen die Förderung nachhaltiger Projekte, wie das im Aufbau befindliche Programm »Basura Cero« zur Reduzierung, Wiederverwertung und Kompostierung von Müll.

Das Mezquitaltal wird darüber hinaus noch schwer belastet. Die Landwirt*innen düngen die Felder mit ungenügend aufbereitetem Klärschlamm, für die Bewässerung nutzen sie das Wasser aus den verschmutzten Flüssen. Das Grundwasser des Mezquitaltals wird vom neuen internationalen Flughafen Felipe Ángeles in Mexiko-Stadt angezapft – einem Vorzeigeprojekt der Regierung López Obrador. Leticia Ariza sagt dazu: »Auch die Konzerne verbrauchen Unmengen natürlicher Ressourcen. Der Abbau des Kalksteines macht aus den Hügeln Gruben. Das viele Wasser, das für die Zementproduktion benötigt wird, fehlt in der Landwirtschaft.« Holcim hat zwar eine Stiftung zur Wiederaufforstung gegründet. Aber laut Ariza versucht die Firma damit nur, ihr Image aufzupolieren. »Sie trägt die Verantwortung, und laut Gesetz sollte sie die Gebiete sanieren, die sie verwüstet. Das ist bis heute nicht geschehen.« Etwa 70 Prozent der stillgelegten Kalksteinbrüche in der Region seien ohne ökologisches Sanierungsprogramm.

Für ein Präsidialdekret

Derartige überregionale Umweltprobleme aufzuzeigen und Alternativen vorzuschlagen, war das Anliegen von Abisai Pérez Romero. Wer ihn kannte, schätzte seine ruhige, überlegte Art und die Hartnäckigkeit, auch an heiklen Themen dran zu bleiben. Und Verantwortliche beim Namen zu nennen. Er gehörte einer regionalen Vernetzung verschiedener Gemeinden des südlichen Mezquitaltals an. Als Aktivist*innen, Anwohner*innen und Betroffene kämpfen sie für ein Präsidialdekret, mit dem der Gesundheits- und Umweltnotstand ihrer Region anerkannt wird. Sie fordern von der mexikanischen Regierung einen Plan, gesunde Umwelt- und Lebensverhältnisse für alle zu schaffen. Ob dies während der bald ablaufenden Amtszeit der Regierung López Obrador noch passiert, ist ungewiss. Jedoch ist die Forderung auch für die*den darauffolgende*n Präsident*in relevant. Auch die Schweiz müsste Verantwortung für ihre internationalen Konzerne übernehmen.

Die Aufklärung darüber, was wirklich mit Abisai Pérez Romero passierte, steht immer noch aus. Seine Familie, Freund*innen und Mitkämpfende glauben der Version der lokalen Behörden eines Raubüberfalls nicht. Mit der Ausrufung des Umweltnotstands durch Präsident López Obrador würde zudem signalisiert, dass Aktivist*innen vor Ort von höchster Ebene geschützt werden. 

Monika Streule

Monika Streule ist Stadtforscherin, derzeit lebt sie in London und Mexiko-Stadt. Sie ist Teil des Kollektivs ¿Y tú qué?, das den Podcast alterritorios zu Extraktivismus und Megaprojekten in Mexiko herausgibt. Zu hören ab Oktober 2023 überall, wo es Podcasts gibt und auf: alterritorios.net

Anmerkung:

1) Name geändert.