Der Schaden kommt schleichend
Prophezeiungen vom Kollaps der russischen Wirtschaft infolge westlicher Sanktionen haben sich als falsch erwiesen – zumindest vorerst
Von Guido Speckmann
Von Wagenknecht-links bis Elsässer-rechts wird behauptet, dass die westlichen Sanktionen gegen Russland nicht nur nichts bringen, sondern den westlichen Ökonomien, insbesondere der deutschen, sogar schaden. Wird unterstellt, dass die infolge des russischen Überfalls auf die Ukraine in nunmehr neun EU-Paketen verhängten Sanktionen die Beendigung des russischen Krieges zum Ziel hatten, so stimmt zumindest die erste Behauptung des links- und rechtsnationalen Lagers: Der Krieg wurde nicht beendet, und es sind noch nicht einmal Anzeichen dafür zu finden.
Doch das Ende des Krieges ist nur implizit Ziel der Sanktionen. Offiziell ist davon die Rede, der russischen Wirtschaft zu schaden, sie zu isolieren und somit die wirtschaftlichen Kosten des Krieges zu erhöhen.
Auch dieses Ziel scheint auf den ersten Blick nicht erreicht zu sein. Die russische Ökonomie erweist sich als robuster als gedacht. Nach dem anfänglichen Absturz des Rubels hat sich der Wert der russischen Währung durch eine vorübergehende starke Leitzinserhöhung der Zentralbank stabilisiert; der Wechselkurs hatte schon einen Monat nach Kriegsbeginn wieder das Vorkriegsniveau erreicht und ist seitdem sogar weiter gestiegen.
Konjunkturprognosen nach oben korrigiert
Konjunkturprognosen kurz nach dem 24. Februar gingen von einem Wirtschaftseinbruch der russischen Wirtschaft in Höhe von über acht Prozent aus, im Oktober korrigierte etwa der Internationale Währungsfonds (IWF) seine Prognose auf minus 3,4 Prozent. Das ist eine Rezession, aber kein dramatischer Einbruch der Wirtschaft. Zum Vergleich: 2009, im Jahr der globalen Finanzkrise, brach die russische Wirtschaft um über sieben Prozent ein.
Zwar wird die russische Ökonomie auch im neuen Jahr schrumpfen, aber mit etwas über zwei Prozent, so eine Schätzung des IWF, geringer als im abgelaufenen Jahr.
Als treffendstes Beispiel dafür, warum die Sanktionen des Westens sogar das Gegenteil ihres Ziels erreicht haben, gilt der Überschuss in der russischen Handelsbilanz. Betrug dieser 2021 etwas über 190 Milliarden US-Dollar, so wird der Überschuss für 2022 auf 250 Milliarden Dollar geschätzt. Maßgeblicher Grund für den deutlichen Anstieg: Trotz weniger Gas- und Ölexporte konnte Moskau mit der Ausfuhr fossiler Energien aufgrund der zeitweise drastisch gestiegenen Weltmarktpreise mehr Erlöse erzielen. Diese Preissteigerungen wurden durch die schon verhängten (USA) oder erst kürzlich teilweise in Kraft getretenen (EU) Boykotte von Öl getrieben. Und natürlich durch die Drosselung der Gasausfuhren seitens Russlands in die EU, die wiederum eine Reaktion auf die EU-Strafmaßnahmen war. So gesehen spülten die Sanktionen durchaus Geld in die russische Staatskasse.
Energiesanktionen greifen erst jetzt
Die Frage ist aber, ob das auch im laufenden Jahr so bleibt. Vieles hängt von der Entwicklung der Weltmarktpreise für Öl und Gas ab, die indes schwer zu prognostizieren ist. So könnte der vollständige EU-Ölboykott ab Februar die Preise nach oben treiben – zumal Russland angekündigt hat, Länder, die sich an den von den G7-Staaten beschlossenen Preisdeckel von 60 US-Dollar pro Barrel Öl halten, nicht mehr zu beliefern. Der mit dem Boykott auf Betreiben der USA beschlossene Preisdeckel zielt vor allem auf Indien und China, die schon jetzt mehr Öl aus Russland importiert haben.(1) Druckmittel der G7-Staaten ist, dass die Öltanker-Infrastruktur (Reedereien, Versicherungen etc.) zu über 90 Prozent in westlicher Hand sind. Ohne diese werde es für Russland sehr schwer bis unmöglich, Öl zu exportieren, so die Einschätzung von Janis Kluge, einem Osteuropaexperten der Stiftung Wissenschaft und Politik.
Abzuwarten bleibt, ob an Medienberichten etwas dran ist, wonach Russland eine eigene sogenannte Schattenflotte aus mindestens 100 gebrauchten Tankern zusammengekauft hat. Generell ist die entscheidende Frage, wie schnell und in welchem Umfang Russland in der Lage ist, die dieses Jahr zu 90 Prozent wegfallenden Ausfuhren von Öl in die EU (Bulgarien und Kroatien importieren vorerst weiter) in andere Länder umzuleiten. Und zu welchen Preisen?
Es ist erstaunlich, was in Russland alles von westlichen Komponenten abhängig ist.
Klar ist, dass dies beim Öl leichter ist als beim Gas, wo es an ausreichenden Pipelines nach Asien mangelt. Die geplante Power of Siberia 2 nach China soll frühestens 2030 fertig sein. Moskauer Angaben zufolge hat sie eine Kapazität vergleichbar mit der von Nord Stream 2. Aber China wird sicher die Not der russischen Führung, andere Abnehmer für ihr Gas zu finden, auszunutzen wissen, sprich den Preis drücken.
Die meisten Expert*innen gehen davon aus, dass Russland es nicht schaffen wird, die Abnehmer-Ausfälle im Westen zu kompensieren – vor allem nicht kurzfristig. Auch russische Beamte sind zu dieser Einschätzung gelangt. In einem vertraulichen Dokument für die russische Regierung, über das die Nachrichtenseite Bloomberg Anfang September berichtete, heißt es: Eine vollständige Unterbrechung der Gaslieferungen nach Europa, Russlands wichtigstem Exportmarkt, könne Ausfälle von bis zu 6,6 Milliarden Dollar Steuereinnahmen pro Jahr bedeuten. Selbst mittelfristig werde es nicht möglich sein, die Umsatzeinbußen durch neue Exportmärkte vollständig auszugleichen.
Technologiebann
Was die russische Wirtschaft in vielen Bereichen schon jetzt massivere Probleme bereitet als die westlichen Finanz- und Energiesanktionen ist das westliche Ausfuhrverbot vor allem von höherwertigen Technologiekomponenten nach Russland. Das britische Wirtschaftsblatt The Economist schrieb: »Die wirksamsten Sanktionen sind in Wirklichkeit die am wenigsten diskutierten: Ausfuhrkontrollen.«
Es ist erstaunlich, was in Russland alles von westlichen Komponenten abhängig ist: die Auto-, Kühlschrank-, Waschmaschinen-, Zug- und Buchproduktion (weil bestimmte Farben fehlen), die Landwirtschaft, natürlich die Tech- und Softwareindustrie und selbst die Förderung von Öl und Gas. So warnt das erwähnte vertrauliche Dokument für die russische Regierung davor, dass infolge der Sanktionen gar die inländische Gasversorgung gefährdet sei, weil der Mangel an Technologie für Flüssiggasanlagen kritisch sei.
Am eindrücklichsten und krassesten zeigt sich die Abhängigkeit der russischen Wirtschaft von westlichen Produkten in der Automobilindustrie. Sie ist massiv eingebrochen, inzwischen sind die Hersteller teils dazu übergegangen, Autos ohne ABS-Systeme und Airbag vom Band rollen zu lassen. Auch in der Luftfahrt gibt es große Probleme, weil es an Ersatzteilen mangelt. Flugzeuge werden ausgeschlachtet, um diesen Mangel zu beheben. Irgendwann jedoch ist dieses Potenzial erschöpft. Und es fehlt an Fachkräften und Know-how, die sanktionierten Teile selbst herzustellen. Der Halbleitermangel, der global seit der Corona-Pandemie für Schlagzeilen sorgt, trifft Russland nunmehr umso härter, weil selbstredend auch diese für die Ökonomie unverzichtbaren Teile sanktioniert werden. Und chinesische Unternehmen halten sich mit Lieferungen zurück, weil sie die westlichen Märkte nicht verlieren wollen.
Gravierende Folgen dürften die Ausfuhrkontrollen auch für die russische Rüstungsindustrie haben. Im August hatte das britische Royal United Service Institute das Ausmaß westlicher Technik in russischer Militärausrüstung detailliert aufgezeigt. Die Studie kam auf 450 Komponenten, die hauptsächlich von westlichen Herstellern bezogen wurden, alleine 317 aus US-Produktion. Schon gibt es Berichte, wonach sowohl die Rüstungsproduktion als auch die »normale« Produktion große Probleme hat und ganze Werke in Betriebsferien geschickt worden sind. (2)
Russland bemüht sich, Teile aus anderen Ländern über sogenannte Parallelimporte zu beziehen, das dauert aber und kostet mehr. Wenn der Verschleiß seinen Tribut zollt, dürfte es für die russische Ökonomie noch ärger kommen. Die volle Wucht der Sanktionen entfaltet sich auch hier erst noch in den nächsten Jahren. »Das Ergebnis wird ein langsamer, schleichender Verfall der russischen Wirtschaft sein«, heißt es in einer Analyse des Economist. Und der IWF prognostiziert, dass die Wachstumsrate des Landes in den Jahren 2025-26 im Vergleich zu den Schätzungen vor Ausbruch des Krieges um etwa die Hälfte geringer sein wird.
Hinzu kommt noch der massive Braindrain infolge der allgemeinen Mobilisierung, der zur Flucht von gerade gut qualifizierten Beschäftigten geführt hat. Schätzungen gehen davon aus, dass 2025 bis zu 200.000 IT-Spezialist*innen das Land verlassen könnten, aus Furcht in die Armee eingezogen zu werden.
Alles in allem: Die Sanktionen treffen Russland in der kurzen Frist nicht so stark wie zu Beginn angenommen. Doch in mittel- und längerfristig werden Energieboykott und Ausfuhrkontrollen eine erhebliche Schwächung der russischen Ökonomie zur Folge haben. Und das wird dann auch Auswirkungen auf den Staatshaushalt haben. Die Finanzierung des Militärs, die hohe Priorität genießt, wird mittelfristig mit der Finanzierung von Renten und sozialen Transfers in Konflikt geraten. Kürzungen im Sozialbereich könnte den Unmut mit Putin erhöhen – zumal, wenn immer mehr Gefallene zu beklagen sind. Ob das jedoch zur Beendigung des Krieges entscheidend beiträgt, ist fraglich. Die Sanktionsforschung hat nicht eben viele Beispiele ausgemacht, wo das der Fall war.
Anmerkungen:
1) Eine erste Untersuchung zu den Auswirkungen von Preisobergrenze und EU-Embargo beziffert den Einnahmenausfall für Russland auf 160 Millionen Euro täglich.
2) Den Beschäftigten wird ähnlich wie beim deutschen Kurzarbeitergeld zwei Drittel des Lohns ausgezahlt; die Arbeitslosenquote ist mit 3,9 Prozent in Russland daher noch nicht gestiegen. Die Inflationsrate sinkt nach dem Höhepunkt im April von knapp 18 Prozent wieder; aktuell liegt sie bei rund zwölf Prozent. Am härtesten treffen die Sanktionen übrigens kleinere Städte abseits der Metropolen, die abhängig sind von einem Unternehmen oder einem Industriesektor, so die Einschätzung des russischen Ökonomen Ilja Matwejew.