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Wird China die neue Weltmacht?

Stefan Schmalz über den Aufstieg Chinas und seine Folgen für den globalen Kapitalismus

Interview: Jan Ole Arps

US-Präsident Donald Trump und Chinas Staatspräsident Xi Jinping geben sich die Hand, hinter ihnen stehen Kinder mit USA- und China-Fahnen.
Plausch unter Feinden, November 2017. Chinas Staatspräsident Xi Jinping empfängt US-Präsident Donald Trump in Peking (hier: nach einer Aufführung in der Großen Halle des Volkes). Foto: The White House

Zwischen den USA und China tobt der Handelsstreit. Ein erstes Anzeichen für den Niedergang der USA und den Aufstieg Chinas zur neuen Weltmacht im globalen Kapitalismus? Diese Frage untersucht der Wirtschaftssoziologe Stefan Schmalz in seinem Buch »Machtverschiebungen im Weltsystem«. Wir haben mit ihm darüber gesprochen, wie in chinesisch dominierter Kapitalismus aussehen würde, über Arbeitskämpfe in der Volksrepublik und die Frage, wie sich die Konkurrenz der Weltmächte auf die heraufziehende ökologische Krise auswirkt.

Der Handelsstreit zwischen China und den USA, die Initiative für eine neue Seidenstraße oder das berüchtigte Sozialpunktesystem – das erscheint alles recht weit weg. Warum sind diese Dinge interessant für uns?

Stefan Schmalz: Der Aufstieg Chinas ist so weit vorangeschritten, dass man seine Auswirkungen überall beobachten kann, auch in Deutschland. Chinesische Konzerne übernehmen zum Beispiel Unternehmen in Deutschland. Ein wichtiger Fall ist die Firma Kuka, ein Augsburger Roboterhersteller, der 2016 vom chinesischen Unternehmen Midea gekauft wurde. Kuka baut jetzt eine riesige Roboterfabrik in Südchina auf. Auf diese Investitionen und Technologietransfers reagiert die Bundesregierung inzwischen mit der Nationalen Industriestrategie 2030, mit der sie sich für die globale Konkurrenz gegen China und die USA rüstet. Da sind Vorhaben enthalten wie der Aufbau eines Fonds, um Übernahmen zu verhindern, wenn es von strategischem Interesse ist. Das heißt, eine CDU-geführte Regierung würde wichtige Unternehmen notfalls teilverstaatlichen, um Übernahmeversuche zu kontern.

Du analysierst die Machtverschiebungen im Weltsystem, insbesondere den Aufstieg Chinas. Was bedeutet das: »Weltsystem«?

Der Begriff Weltsystem versucht, Tendenzen im globalen Kapitalismus zu beschreiben. Eingeführt wurde er von Immanuel Wallerstein und anderen Wissenschaftlern, die sich darüber Gedanken gemacht haben, wie der globale Kapitalismus entstanden ist und nach welchen Regeln er funktioniert. Ab dem 16. Jahrhundert sind mit der Eroberung Lateinamerikas globale Handelsströme und Ausbeutungsformen entstanden, die den Kapitalismus noch heute strukturieren. Die Weltsystemtheorie spricht von Zentrum, Semiperipherie und Peripherie, wobei der Reichtum der Zentren auf der Ausbeutung der Peripherien aufbaut.

Was hat das mit China zu tun?

Historisch sind immer wieder neue Staaten in den Mittelpunkt dieses Systems gerückt. Zu Beginn stand Spanien zusammen mit einigen italienischen Stadtstaaten im Zentrum, später Holland, bis dann Großbritannien als Macht des Industriekapitalismus in den Vordergrund drängte – später dann die USA. Die große Frage ist, ob es wieder zu einer Verschiebung kommt, in der China zur hegemonialen Macht wird.

Stefan Schmalz

ist Akademischer Rat am Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller Universität Jena. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen politische Ökonomie, Global Labor Studies und Entwicklungsforschung. Ende des letzten Jahres erschien sein Buch »Machtverschiebungen im Weltsystem. Der Aufstieg Chinas und die große Krise« im Campus-Verlag.

Was macht eine Hegemonialmacht aus, was ist ihre Rolle?

Die Hegemonialmacht ist Ordnungsmacht für das Weltsystem. Sie legt fest, wie das globale Finanzsystem funktioniert, die größten Unternehmen sind dort angesiedelt, Regeln zu intellektuellem Eigentum werden von ihr durchgesetzt. Meist ist das auch mit Normen und Werten abgestützt. Wenn man an die USA denkt: »Free Markets and Democracy«. Wie Produktion und Konsum in der Hegemonialmacht organisiert sind, hat weltweit Ausstrahlungskraft: Wir nutzen Facebook, sehen Hollywoodfilme, auch auf diese Weise wird Zustimmung zu den Regeln organisiert, die diese Macht vorgibt.

Wie misst man Macht im Weltsystem?

Die wirtschaftlichen Ressourcen sind sehr bedeutend: Ist ein Land wirtschaftlich weit entwickelt, hat es ein großes Bruttoinlandsprodukt, innovative, profitable Konzerne? Das ist auch eine Frage der Größe. Luxemburg oder die Schweiz werden, auch wenn sie noch so produktiv sind, nicht das Weltsystem strukturieren. Das allein reicht aber nicht aus, vier weitere Indikatoren sind bedeutsam. Neben der Produktionsstruktur ist das der Bereich Finanzen, also wer verleiht Geld, wo sind die größten Finanzplätze der Welt, die wichtigsten Finanzakteure, die großen Investmentbanken. Wichtig ist auch, wie weit ein Land technisch entwickelt ist. Deshalb ist es bedeutsam, dass die »Tech Five« in den USA beheimatet sind: Microsoft, Apple, Facebook, Amazon, Alphabet – Unternehmen, die sehr hohe Profitraten erwirtschaften und sehr innovativ sind. Der wirtschaftliche Komplex ist auch wichtig, um andere Bereiche zu finanzieren. Sicherheits- und Militärpolitik etwa, ein weiterer Indikator, braucht Geld und technologisches Wissen. Der letzte Faktor wäre die Frage nach Rohstoffen: Wer verfügt über wichtige Ressourcen.

Seit dem Zweiten Weltkrieg sind die USA die führende Hegemonialmacht. Was spricht dafür, dass China sie ablösen wird?

China ist mittlerweile einer der Treiber der Weltwirtschaft – und auf dem Weg, die USA als größter Markt der Welt zu überflügeln. Hinzu kommt, dass es China gelungen ist, einen Hochtechnologiesektor zu fördern, der mit den USA konkurriert. Für fast jeden der Tech Five gibt es ein chinesisches Pendant: Tencent als Konkurrent von Facebook mit der App Weixin, Alibaba als Konkurrent für Amazon, Baidu für Google. Es gibt Konzerne, die erfolgreich Smartphones und andere Endgeräte vermarkten, Huawei etwa, den man als Konkurrenten für Apple bezeichnen könnte. Zudem hat sich China zu einer eigenständigen Militärmacht entwickelt. Mit sehr viel niedrigeren Rüstungsausgaben noch als die USA, aber inzwischen hat auch China Flugzeugträger – und eine klaren Haltung, das Südchinesische Meer zu dominieren.

Wer lacht am Ende? Donald und Melania Trump mit Xi Jinping und seiner Ehefrau Peng Liyuan bei Besuch der Verbotenen Stadt in Peking, November 2017. Foto: The White House

In deinem Buch schreibst du, noch Ende der 1990er waren die USA unangefochtene Weltmacht in allen Bereichen. Was ist dann passiert?

Ein wichtiger Einschnitt war die Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009. China hatte bis dahin ein ökonomisches Modell verfolgt, das manchmal als »Chimerica« bezeichnet wurde, in dem China vor allem Güter produziert hat, die in den USA konsumiert wurden. Die Überschüsse investierten chinesische Gläubiger in US-Staatsanleihen. Durch die Krise 2008/09 ist diese Struktur in Frage gestellt worden, unter anderem weil Chinas Parteieliten gesehen haben, dass der chinesische Staat viel Geld dabei verlieren kann. In der Krise wurde auch deutlich, dass China im Finanzbereich wenig Mitsprache hat, weil Institutionen wie IWF und Weltbank US-dominiert sind und der US-Dollar die Weltwährung ist. China hat sich seitdem viel aktiver engagiert. Im Finanzsektor hat China versucht, die eigene Währung aufzubauen. Das Land hat es geschafft, den Renminbi in den Währungskorb des IWF aufzunehmen. Es sind Institutionen wie die BRICS-Gruppe aufgebaut worden, wo Brasilien, Russland, Indien, China, später Südafrika sich zusammengetan haben, um über Themen wie eine alternative Finanzordnung zu beraten.

Warum hat China die Weltwirtschaftskrise so gut überstanden?

Auslöser war ja, dass große US-Investmentbanken, auch deutsche und europäische Banken, riesige Summen in hochspekulative Geschäfte investiert hatten. Da waren chinesische Unternehmen kaum beteiligt, weil der Finanzmarkt in China stark reguliert ist. Nach der Finanzkrise fehlte es dann aber an Aufträgen aus dem Westen, das hat zu einer massiven Krise auch in China geführt, vor allem bei den Exportunternehmen. China hat deshalb, ähnlich wie die USA, ein gewaltiges Rettungsprogramm aufgelegt.

China exportiert Güter im Wert von fast 660 Milliarden US-Dollar in die USA, importiert aber nur für 120 Milliarden. Die Zölle, mit denen die US-Regierung droht, sollen China zwingen, den Markt zu öffnen.

Wie verhalten sich die USA zum Aufstieg Chinas?

Die erste Phase, in der die USA diese Herausforderung systematisch angegangen sind, begann spätestens 2012 unter der Regierung Obama mit dem »Pivot to Asia«. Das ist eine militärische Strategie, bei der die US-Truppen stärker in den ostasiatischen Raum, weg vom Nahen Osten, verlagert werden und systematisch die Bündnissysteme, die es in der Region gibt, genutzt werden, um China einzukreisen und zu isolieren – ein bisschen wie im Kalten Krieg. Zudem haben die USA versucht, sich durch Fracking unabhängiger zu machen vom Erdölimport aus dem Nahen Osten, um mehr Handlungsspielraum in anderen Regionen zu gewinnen. Mit Handelsabkommen wie TTIP oder das Trans Pacific Partnership (TTP) haben sie außerdem ihre Handelspartner stärker an sich gebunden.

Und die zweite Phase?

Das ist die Strategie unter Trump, die stark auf wirtschaftlichen Druck setzt: das, was wir als Handelskrieg erleben. China exportiert Güter im Wert von fast 660 Milliarden US-Dollar in die USA, importiert aber nur für 120 Milliarden. Die Regierung Trump benutzt das als Hebel, indem sie mit Zöllen droht. Man denkt oft, das wäre eine rein protektionistische Haltung. Aber es sind vor allem Angriffszölle. Es geht darum, China unter Druck zu setzen, den Markt zu öffnen. Die zweite Komponente ist eine Art Hightechkrieg. Im Kern geht es um die Vorherrschaft in der Hochtechnologie. Die USA haben hier gezielt die Technologiekonzerne in China mit Sanktionsmaßnahmen unter Druck gesetzt.

Im Buch schreibst du, dass große Machtverschiebungen im Weltsystem stets von Krisen begleitet waren, meist auch in Kriege gemündet sind.

Ja, das ist oft so gewesen. Auch die zwei Weltkriege hatten diese Komponente, als Deutschland, später auch Japan das britische Empire als Weltmacht beerben wollten.

Wie wahrscheinlich ist es, dass sich der Konflikt zwischen den USA und China in ähnlicher Weise zuspitzt?

Ich würde sagen, dass es heute zwei fundamentale Unterschiede zu den historischen Machtverschiebungen gibt. Der erste ist relativ banal: Der mögliche Einsatz von Atomwaffen gibt solchen Konflikten eine ganz andere Dynamik, weil man nicht unbedingt einen heißen Krieg mit katastrophalsten Folgen riskieren will.

Bisher hat China eine Politik des friedlichen Aufstiegs verfolgt. Mit der Parteiführung um Xi Jinping ist ein nationalistischerer Kurs hoffähig geworden.

Und der zweite?

Die Weltwirtschaft ist heute stärker transnationalisiert als je zuvor. Unternehmen haben Standorte in allen möglichen Ländern, das wirkt bremsend für Großkonflikte. Bisher hat China eine Politik des friedlichen Aufstiegs verfolgt. Die Volksbefreiungsarmee sieht sich offiziell immer noch als Verteidigungsarmee. Lange war das chinesische Militär zu Auslandseinsätzen gar nicht fähig. Das ändert sich erst seit ein paar Jahren, dass China auch taktische Transportmittel anschafft, eine Hochseeflotte aufbaut, die ersten zwei Flugzeugträger sind angeschafft worden. Beim UN-Einsatz gegen somalische Piraten waren chinesische Kriegsschiffe erstmals seit rund 600 Jahren jenseits des Chinesischen Meers aktiv. Mit der Parteiführung um Xi Jinping ist ein nationalistischerer Kurs hoffähig geworden.

Wie würde sich ein chinesisch geprägter globaler Kapitalismus unterscheiden von dem, den wir heute kennen?

Zum einen glaube ich, dass der chinesische Kapitalismus, um mit Max Weber zu sprechen, ein »politisch orientierter« Kapitalismus ist, wo die Politik große Steuerungsbefugnisse besitzt. Zweitens ist die Form, wie die Außenbeziehungen organisiert werden, anders. Die chinesischen Außenbeziehungen funktionieren oft über langfristige Verträge, etwa Rohstofflieferverträge im Tausch gegen Investitionen in Infrastruktur. Es gibt mittlerweile ein ganzes Netz solcher Beziehungen mit afrikanischen, lateinamerikanischen und asiatischen Ländern. Das wird kein rein marktorientiertes Modell sein, sondern eines, das sich eher mit dem historischen Tributsystem vergleichen lässt, das es mal zwischen dem chinesischen Kaiserreich und seinen Nachbarländern gab.

Was ist der Unterschied zu marktförmigen Systemen?

Dass es keinen global deregulierten Markt gibt, wo Angebot und Nachfrage regieren, sondern Netzwerke, über die feste Lieferbeziehungen bestehen. Wenn 30 Länder solche Abkommen unterzeichnet haben, dann liefern sie Rohstoffe an China und können sie nicht gleichzeitig auf dem Markt verkaufen.

Also kein »Free Markets and Democrary«?

Das wäre der nächste Punkt. China ist kein demokratisches Land. Ich denke, dass die ideologische Komponente, die es unter US-Hegemonie gab, nämlich dass parlamentarische Demokratie wünschenswert ist, dass man Menschenrechte als Wert propagiert und sie auch zur Begründung für militärische Aktivitäten nimmt – so etwas würde es eher nicht geben. Ob China es schafft, die USA als Weltmacht abzulösen, steht auf einem anderen Blatt. Ich halte es aber für wahrscheinlich, dass die US-dominierte Ordnung zerfallen und China zumindest regional eine große Rolle spielen wird.

Die Vorstellung, dass Chinas Wirtschaftssystem sich nach und nach in Richtung eines westlichen Kapitalismus verschieben wird, halte ich für falsch.

Du nennst China einen »staatsgeleiteten Kapitalismus«. Was ist damit gemeint?

Der chinesische Staat plant aktiv. Das sieht man im Bereich Innovation, da übernimmt der chinesische Staat industriepolitisch eine wichtige Rolle. Es gibt auch Bereiche, wo er den Kapitalismus stark reguliert, zum Beispiel in der Internetwirtschaft oder im Finanzsystem. Ich möchte damit nicht sagen, dass der Staat alles ist. Aber die Idee, die viele westlichen Beobachter hatten, dass das Wirtschaftssystem sich nach und nach in Richtung eines westlichen Kapitalismus verschieben wird, ist glaube ich falsch.

Im letzten Jahrzehnt hat es heftige Arbeitskämpfe in China gegeben, die enorme Lohnerhöhungen durchsetzen konnten.

Bei der Größe, die das chinesische Industrieproletariat hat, ist klar, dass es zu Auseinandersetzungen kommen muss. Die erste Welle war nach der Weltwirtschaftskrise, als eine junge Generation von Arbeitern bessere Bedingungen und höhere Löhne eingefordert hat, vor allem im Automobilsektor. Paradigmatisch ist der große Honda-Streik 2010. Seitdem sind die Löhne in der Branche deutlich gestiegen. 2014 gab es einen zweiten wichtigen Streik bei Yue Yuen, einem Schuhhersteller mit 40.000 Beschäftigten am Standort Dongguan, überwiegend ältere Frauen, die für Sozialversicherung gestreikt haben. Hier ging es auch um Standortverlagerung. Die Produktion für den Export wird teilweise verlagert nach Vietnam oder in andere Länder. Ein Teil geht auch ins Binnenland, nach Westchina, wo noch billiger produziert werden kann. Letztes Jahr gab es den dritten paradigmatischen Streik bei Jasic Technology in Shenzhen, auch in Südchina. Dieser Arbeitskampf wurde massiv unterstützt von Studierenden. Es gibt viele aktive Studierende, die sich selbst als Marxisten bezeichnen, aber sagen, wir setzen die neue Xi-Jinping-Lehre, die Marx wieder stärker ins Zentrum rückt, richtig um, wir helfen den Arbeitern. Hier gab es massive Repression, viele Leute sind im Gefängnis gelandet.

Das ist neu?

Ja. Eine Weile hat die Staatsführung steigende Löhne in manchen Bereichen gar nicht als so schlecht empfunden, weil das den Umbau der Wirtschaft hin zu einem Modell, das nicht mehr ganz so stark auf Niedriglohn und Export basiert, unterstützt hat. Inzwischen gelten Arbeitskämpfe als gefährlich, weil sie das Klassenthema auf die Tagesordnung setzen und damit auch an der Legitimation der Kommunistischen Partei kratzen. Dennoch ist nach wie vor nicht alles repressiv. Und es gibt auch soziale Bewegungen.

Streikende chinesische Arbeiterinnen vor einer Polizeikette
In China gab es in den letzten Jahren viele, oft sehr erfolgreiche Arbeitskämpfe und Sozialproteste. Foto: Filmstill aus »Arbeiter_innen Solidarität China Deutschland« / Labournet.tv

Zum Beispiel?

Zum Beispiel die chinesische #MeToo-Bewegung, in der Studierende sexuelle Übergriffe von Professoren aufgedeckt haben. Der Staat hat ein zwiespältiges Verhältnis hierzu eingenommen. Einerseits hat es zum Antikorruptionskampf gepasst. Wenn Funktionäre fürchten müssen, wegen sexueller Belästigung belangt zu werden, ist das für die Regierung nützlich. Gleichzeitig wurden viele Fälle auch wieder wegzensiert. Arbeitskonflikte sind dagegen gerade ein recht schwieriges Thema.

Bewegungen haben dann einen gewissen Spielraum, wenn es Überschneidungen mit den Zielen der Regierung gibt?

Schwer zu sagen. Es gibt verschiedene Ebenen im chinesischen Staat, die nicht alle die gleichen Ziele verfolgen. Es gibt den Zentralstaat, es gibt etwas liberalere Provinzen und weniger liberale. Ich würde auch sagen, dass beim Konfliktmanagement viel experimentiert wird. Man muss sich diesen Staatsapparat als sehr viel flexibler vorstellen, als das Bild, das hierzulande gezeichnet wird. Aber letztlich geht es doch immer darum, Konflikte kleinzuhalten. Und es gibt kaum eine Institution, die soziale Bewegungen weltweit so genau studiert wie die Kommunistische Partei Chinas.

Beim Konfliktmanagement experimentiert der chinesische Staat viel. Man muss sich diesen Staatsapparat als viel flexibler vorstellen, als man es hierzulande tut.

Ist das auch der Hintergrund des Sozialkreditsystems, von dem man in letzter Zeit immer öfter liest?

Einerseits schon. Es ist ein Kontrollinstrument, mit dem konformes Verhalten belohnt und nichtkonformes Verhalten sanktioniert werden kann. Etwa darüber, dass Leute keine Flugreisen mehr machen können, keine Fernreisen mit der Bahn. In China kann man viele Dinge ohne Zugang zu digitalem Zahlungsverkehr kaum mehr machen. Taxis und Zugtickets werden per App gebucht, in vielen Geschäften wird nur per App bezahlt. Wenn man so Big Data über die Staatsbürger aufbaut, hat man enorme Möglichkeiten, die Leute zu sanktionieren. Auch der Überwachungsstaat ist in China sehr stark ausgebaut, überall hängen Kameras. Es gibt aber noch einen zweiten wichtigen Punkt, der mit dem aufstrebenden Techsektor in China zu tun hat.

Und zwar?

Die riesigen Datenmengen, die angehäuft werden, sind nützlich für die KI-Forschung. Das ist im Kampf um den Vorsprung in der Hightechindustrie ein nicht zu unterschätzendes Ziel. Wenn man die gesamte Bevölkerung immer wieder abfilmt und Gesichtserkennungssoftware einsetzt, ist das auch Produktion der Datensätze, die man benötigt, um Künstliche Intelligenz zu entwickeln.

Wieviel Rückhalt hat der autoritäre Umbau des Landes unter Xi Jinping in der Bevölkerung?

Wer das heutige China mit dem vor 40 Jahren vergleicht, kann einen gewaltigen Fortschritt im Lebensstandard feststellen. Das hat der Kommunistischen Partei lang relativ hohe Zustimmung verschafft. An zwei Punkten bricht das momentan auf. Der Hauptpunkt ist, dass für den Normalbürger immer klarer wird, dass es Klassen gibt, dass manche Leute sehr reich sind, dass das oft Leute mit Parteibuch sind, und dass andere Leute unten sind in der Gesellschaft. Deshalb ist das Thema Arbeitskonflikte so wichtig, weil sich in ihnen auch die Erkenntnis vieler Menschen ausdrückt, dass sie in der unteren Hälfte der Gesellschaft bleiben. Dazu kommen die offensichtlichen Korruptionspraktiken. Die Antikorruptionskampagne der Parteiführung dient dazu, den Parteiapparat zu disziplinieren, Xi Jinping als Saubermann zu präsentieren und die Rückkehr zu sozialistischen Werten zu propagieren, auch wenn das nicht so recht klappt meines Erachtens. Allerdings würde ich sagen, dass es zum neuen außenpolitischen Kurs eine hohe Zustimmung gibt. Die nationalistischen Töne – »China gehört in die erste Reihe« – kommen gut an. Ob dieses Modell an internen Widersprüchen aufbricht, wird stark davon abhängen, ob das Wohlstandsversprechen eingelöst werden kann. Da gibt es einige Probleme: Mietenexplosion, Umweltprobleme, die Gefahr wachsender Arbeitslosigkeit. Durch solche Probleme gerät das System unter Druck.

Du schreibst, 2016 war China der größte Markt für PKW, Smartphones und Elektrogeräte, der zweitgrößte für Flugreisen und der fünftgrößte für Wein. Tendenz steigend. Wie bedrohlich ist diese Entwicklung angesichts der eskalierenden Klimakrise?

Es ist natürlich ein legitimes Interesse, dass auch die Menschen in China einen höheren Lebensstandard haben wollen. Aber wenn nur die Hälfte der chinesischen Bürger ein Konsummuster hätte wie die Bevölkerungen im Westen, wäre das ökologisch katastrophal – so wie es der Konsum in den kapitalistischen Zentren auch ist. Man muss dazu sagen, dass der chinesische Staat ökologisch durchaus stark interveniert, beim Umbau von Energiesystemen, alternativen Antriebssystemen, CO2-Ausstoß. Aber angesichts der Größenordnung gibt es riesige Probleme, und auch wenn das Land von der Kohle weg will, werden auf lokaler Ebene wieder neue Kraftwerke errichtet. Doch selbst wenn der Gesamtausstoß an CO2 inzwischen in China höher ist als in jedem anderen Land, liegt er pro Kopf noch weit hinter dem in Europa oder den USA. Und man darf nie vergessen, dass viele der ökologischen Probleme in China mit unserem Konsum zu tun haben. Ein großer Teil der Schadstoffe, die in China ausgestoßen werden, kommt aus Fabriken, die für den deutschen oder US-Markt produzieren.

Mit viel Glück könnte China zu einem Versuchslabor eines neuen grünen Kapitalismus werden, den Verkehr anderes organisieren, weniger imperiale Lebensweisen hervorbringen.

Chinas Aufstieg fällt in eine Epoche, die von dramatischen ökologischen Krisen geprägt sein wird. Ist unter den Bedingungen einer Konkurrenz um die Weltmacht überhaupt international koordiniertes Handeln in Bezug auf die Klimakrise möglich?

Schwierig, man sieht es ja bei den Klimaverhandlungen. Mit viel Glück könnte China zu einem Versuchslabor eines wie auch immer gearteten grünen Kapitalismus werden, den Verkehr anderes organisieren, weniger imperiale Lebensweisen hervorbringen. Aber ich bin skeptisch, denn steigender Konsum ist ein Legitimationsmuster der chinesischen Führung. Und wenn die Wirtschaft eines Landes um acht Prozent wächst, wie sie es in China lange tat, kann man noch so viel Umweltpolitik machen, es nützt nicht so viel. Persönlich denke ich nicht, dass diese Frage technokratisch gelöst werden kann.

Wie kann sie gelöst werden?

Nur durch Druck von unten. In China, vor allem in Südchina, gibt es große Bevölkerungsteile, die extrem betroffen sein werden vom Klimawandel, von den Überflutungen. In Südchina konzentriert sich auch das chinesische Industrieproletariat. Es mag sein, dass diese Menschen, die sowohl als Industriearbeiter ausgebeutet werden als auch die Umweltprobleme erleiden werden, einen progressiven Wandel vorantreiben. Es gibt ein wachsendes ökologisches Problembewusstsein, auch bei der herrschenden Klasse und den Parteieliten. Wenn mal ein Sandsturm durch Peking fegt und das öffentliche Leben lahmlegt, trifft das das Zentrum der Macht. Aber in jedem Fall braucht es für Veränderungen Druck von unten, überall auf der Welt, auch in China.

Jan Ole Arps

ist Redakteur bei ak.