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»Wir warten auf eure Unterstützung!«

Schlaglichter auf das vierte Tribunal »NSU-Komplex auflösen« in Nürnberg

Von Jonas Walter

Das NSU-Tribunal in Nürnberg war ein Ort des gemeinsamen Klagens, Anklagens und Einklagens und zugleich ein Ort der gegenseitigen Anerkennung und Solidarität. Foto: privat

Eigentlich wollte ich heute nicht reden, aber jetzt wo ich die anderen Betroffenen sehe, da möchte ich mit ihnen stehen. Was wir uns wünschen? Natürlich Aufklärung und Gerechtigkeit. Und dass unsere Stimmen gehört werden« – mit diesen Sätzen kam Esperanca Bunga, die als Kind den rassistischen Brandanschlag auf die Lübecker Hafenstraße 1996 überlebte, am Samstagnachmittag des 4. Juni 2022 auf die Bühne des Nürnberger Schauspielhauses. Nach Köln 2017, Mannheim 2018 und Chemnitz/Zwickau 2019 fand dort am Pfingstwochenende 2022 das vierte Tribunal NSU-Komplex auflösen statt.

Bevor Esperanca Bunga spontan das Wort ergriff, hatten über zwei Stunden andere Überlebende und Betroffene rassistischer, rechter und antisemitischer Morde und Anschläge und Angehörige von Ermordeten unter dem Titel »Aufklären. Aydınlatmak. Elucidation.« ihre Erfahrungen geteilt. Sie schufen damit einen eindrucksvollen und emotional bewegenden Raum der Trauer, des gemeinsamen Schmerzes, der solidarischen Verbundenheit und des vehementen Einforderns von Aufklärung und Gerechtigkeit. In der Stadt, in der der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) am 23. Juni 1999 Mehmet O. schwer verletzte, am 9. September 2000 Enver Şimşek, am 13. Juni 2001 Abdurrahim Özüdoğru und am 9. Juni 2001 İsmail Yaşar ermordete.

Eröffnet wurde die Veranstaltung von Okan Taşköprü, dem Neffen des am 27. Juni 2001 in Hamburg Altona ermordeten Süleyman Taşköprü, der zum ersten Mal über den Verlust seines Onkels und die Folgen sprach: »Mein Onkel hielt mich nach meiner Geburt im Arm und dann nie wieder. Ein Heilungsprozess war nicht möglich aufgrund der laufenden Ermittlungen gegen unsere Familie.« Er wiederholte die Forderung der Familie Taşköprü nach einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss in Hamburg. Obwohl der Landesparteitag der in Hamburg mitregierenden Grünen vor über einem Jahr beschlossen hat, einen solchen einsetzen zu wollen, bleibt dies bis heute ein leeres Versprechen und Hamburg somit das einzige Tatort-Bundesland ohne parlamentarische Untersuchung eines NSU-Mordes und den rassistischen Ermittlungen durch die Polizei.

Mein Onkel hielt mich nach meiner Geburt im Arm und dann nie wieder.

Okan Taşköprü

Nur wenige Gehminuten vom Veranstaltungsort des Tribunals entfernt, überlebte Mehmet O. im Juni 1999 den ersten bekannten rassistischen Anschlag des NSU durch eine als Taschenlampe getarnte Bombe. (1) Auch er war den rassistischen Ermittlungen der Polizei ausgesetzt. »Das Schlimmste ist, dass ich jahrelang beschuldigt wurde«, sagte er. Dass es ein rechtsterroristischer Anschlag war, den Mehmet O. überlebt hatte, erfuhr er nicht von der Polizei, sondern 2018 von Journalist*innen und das, obwohl er bereits 2013 eine NSU-Unterstützerin auf Polizeibildern identifiziert hatte. Sein Vertrauen in den Staat sei verloren, erklärte Mehmet O. auf der Bühne. Wäre der Anschlag auf ihn aufgeklärt worden, würden die Väter von Semiya Şimşek und Gamze Kubaşık, womöglich noch leben, sagte O. und richtete sich so an die beiden Töchter und Nebenklägerinnen im NSU-Prozess, die im Publikum des mit 500 Menschen gefüllten Theatersaals saßen. Semiya Şimşek und Gamze Kubaşık haben sich 2006 auf den von Angehörigen und Freund*innen der Ermordeten organisierten »Kein 10.Opfer«-Demonstrationen kennen gelernt. Seitdem verbindet sie nicht nur der Verlust ihrer Väter, sondern auch eine gemeinsame Freundschaft, über die sie in Nürnberg sprachen, wie auch über die notwendige gesellschaftliche Solidarität: »Wir brauchen die Gesellschaft, wir brauchen Solidarität, wir müssen gemeinsam aufklären. Wir müssen jetzt ›Stopp‹ sagen, sonst werden weitere Familien erleben, was wir erlebt haben.«, so Semiya Şimşek.

Wir müssen jetzt ›Stopp‹ sagen, sonst werden weitere Familien erleben, was wir erlebt haben.

Semiya Şimşek.

Nicht mehr allein sein

Auch Mollie Sharfman, die den rassistischen und antisemitischen Anschlag in Halle überlebte, sendete eine Botschaft zum Tribunal. Weitere Betroffene wie İsmet Tekin ebenfalls Überlebender des Anschlags in Halle und Besitzer des Kiez-Döners, in dem Kevin S. erschossen wurde, sprachen und nahmen nach und nach auf den Sofas und Stühlen im Halbkreis auf der Theaterbühne Platz.

Auch Hasan und Sibel Leyla, die am 22. Juni 2016 ihren 14-jährigen Sohn Can durch den rassistischen Anschlag am Olympia-Einkaufszentrum (OEZ) in München verloren, waren nach Nürnberg gekommen. »In München herrscht eine große Schweigsamkeit«, sagte Sibel Leyla. »Deswegen habe ich mich mit meinem Mann zusammengeschlossen und bin hierhergefahren: Wir warten auf Eure Unterstützung!«

Trotz des Wissens aus dem NSU-Komplex folgten auch viele Linke der polizeilichen und medialen Erzählung einer »Amoktat«, obwohl die rassistische Motivation des Täters bereits in der Auswahl seiner Opfer, in einem »Manifest« sowie der Auswahl des Tattages, nämlich genau fünf Jahre nach dem rechten Terroranschlag in Oslo und Utøya eigentlich auf der Hand lag.

2021 jährte sich der Anschlag am Münchener OEZ zum fünften Mal – die Eltern befürchten, dass ihr Sohn Can vergessen wird. Daher plant die Familie eine Demonstration durch München –vor dem Gedenken, das auch in diesem Jahr zur Tatzeit 17:51 Uhr am 22. Juni 2022 stattfindet. Wer nicht nach München kommen könne, solle ein dezentrales Gedenken veranstalten, so Hasan Leyla. Die Forderung nach Unterstützung wurde am Sonntag des Tribunals in einem Workshop aufgegriffen. Über 60 Menschen – Einzelpersonen, Initiativen und Netzwerke – kamen zusammen und verteilten in Kleingruppen Aufgaben wie Flyer drucken oder Social-Media-Arbeit und organisierten so praktische Solidarität.

Dem Tribunal in Nürnberg gelang es, einen Ort des Kennenlernens, des Austausches und des Zusammenkommens für Betroffene rechter Gewalt und für ihre Forderungen zu schaffen. Ihre Erzählungen verdeutlichten die vielfältigen Wirkungsweisen von Antisemitismus, Rassismus und rechter Gewalt in Deutschland. Sie verdeutlichten, welche Traumata sich durch den Verlust geliebter Menschen, durch jahrelange rassistische Ermittlungen, durch die Nicht-Anerkennung als Betroffene rechter Gewalt in die Familien eingeschrieben haben. Das Tribunal, das an diesem Samstagnachmittag im Nürnberger Schauspielhaus stattfand, war mehr als nur ein Erfahrungsaustausch: Es ermöglichte ein gegenseitiges Anerkennen. Ein Anerkennen der Erfahrungen der Betroffenen untereinander, wie auch durch das Publikum. Im Kleinen wurde erfahrbar, wie Empathie zum Ausgangspunkt von Veränderung werden kann. Es war ein empathisches Anerkennen und sich Verbünden, das auch andere Überlebende wie Esperanca Bunga bewegte und auf die Bühne brachte.

Mit Empathie und Solidarität

An diesem Wochenende wurde erneut deutlich, wie vielfältig die Forderungen und Kämpfe um Gerechtigkeit sind. Die gemeinsamen Forderungen nach staatlicher und gesellschaftlicher Anerkennung als Betroffene rechter Gewalt und als Betroffene jahrelanger rassistischer Stigmatisierungen durch polizeiliche Ermittlungen, Medienberichterstattung und Gesellschaft wurden im Einzelfall konkretisiert. Es ging um selbstbestimmte Gedenkveranstaltungen. Es ging um Sichtbarkeit der Ermordeten, darum zu zeigen, wer diese Menschen waren; um das Einfordern vorenthaltener therapeutischer Unterstützung und Opferentschädigung; um die Umbenennung von Straßen und Orten und um die Schaffung von Räumen, in denen Betroffene zusammenkommen können.

Das Tribunal in Nürnberg unter dem Titel »Anerkennen, Aufklären und Verändern« war ein solcher Ort des (erneuten) Zusammenkommens. Es schuf Sichtbarkeiten für verschiedene Kämpfe sowie Vernetzungen und gleichzeitig empathische Räume, die Ausgangspunkt für solidarische Praxen bilden können. Im offenen Forum vernetzten sich Betroffene, Initiativen und solidarische Menschen. Workshops wie beispielsweise zu solidarischer Prozessbegleitung oder politischer Bildungsarbeit nach Hanau boten Ausgangspunkte zur weiteren Vernetzung. Mit Critical Walks wurde auf Orte der kolonialen und nationalsozialistischen Vergangenheit sowie auf Kontinuitäten rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt hingewiesen. Orte wie der Sitz der Nürnberger Nachrichten, die den rassistischen Diskurs über die Ermordeten des NSU befeuerten, wurden als Mitverantwortliche markiert.

Die Vielheit der Kämpfe und die Potenziale von Empathie und Solidarität wurde an dem Wochenende für viele Anwesende spürbar. Das Versprechen, dass Betroffene nicht allein bleiben, ist wichtig. Doch es muss auch immer wieder eingelöst werden. Auf Gedenkveranstaltungen oder Tribunalen, aber vor allem im Alltag. In den Veranstaltungen und Berichten von Initiativen wurde erneut deutlich, nicht Plena, strategisches Agenda-Setting oder Hochglanzkampagnen, sondern die persönliche Verbundenheit, das gemeinsame Essen, das Zusammenkommen jenseits von Jahrestagen bilden wichtige Ausgangspunkte für gemeinsames Kämpfen.

Es bleibt zu hoffen, dass viele der Anwesenden die Impulse und vor allem Zuversicht und Kraft für ihre Kämpfe von dem Wochenende in Nürnberg mitnehmen. In ihren Beiträgen verdeutlichten Betroffene erneut, dass sie ihre Kämpfe um Aufklärung, Anerkennung und Gerechtigkeit auch als Kampf gegen rechten Terror verstehen, wie es Hayrettin Saraçoğlu, der seinen Bruder Fatih beim rassistischen Attentat in Hanau verlor, zusammenfasste: »Jeder hat eine Verantwortung. Du darfst nicht schweigen. Wir müssen weiter machen, damit nicht noch andere betroffen sind. Wir wollen Gerechtigkeit, nicht mehr, aber auch nicht weniger.«

Foto: NSU Watch

Tribunal NSU-Komplex auflösen

Das Tribunal ist hervorgegangen und wird getragen von dem bundesweiten Aktionsbündnis NSU-Komplex auflösen sowie von einer Vielzahl von Personen, die sich aus unterschiedlichen Motiven gegen Rassismus engagieren wollen. Eine hervorgehobene Stellung haben die Betroffenen des NSU-Terrors, deren Standpunkte ein besonderes Gewicht haben. Mehr Informationen findet man hier: www.nsu-tribunal.de

Jonas Walter

arbeitet sozialwissenschaftlich und in der politischen Bildungsarbeit zu aktuellen Erscheinungsformen von Rassismus, Antisemitismus & extremen Rechten. Er ist aktiv in solidarischen Netzwerken und antifaschistischen Bündnissen gegen rechten Terror in Hamburg.

Anmerkung:

1) Zum vergessenen Anschlag des NSU in Nürnberg 1999 und dem 2. NSU-Untersuchungsausschuss in Bayern gibt es eine Podcastfolge mit Mehmet O., Patrycja Kowalska und Robert Andreasch. Ihr findet die Folge in der Serie »Vor Ort – gegen Rassismus, Antisemitismus und rechte Gewalt« von NSU-Watch & VBRG e.V. unter nsu-watch.info