Wir sind Impfstoff
Beim Corona-Vakzin dominieren Ökonomie und Nationalismus
Von Carina Book und Bilke Schnibbe
Hatten Angela Merkel und Emmanuel Macron Anfang des Jahres noch verkündet, dass ein Impfstoff ein »globales öffentliches Gut« sein müsse, scheint das nun, da ein wirksamer Impfstoff möglicherweise kurz vor seiner Zulassung steht, nicht mehr zu gelten. Wer hätte es gedacht? Anfang November hieß es aus dem deutschen Gesundheitsministerium, dass Deutschland 100 Millionen Impfdosen von BioNTech und dem US-amerikanischen Unternehmen Pfizer erhalten würde. Das wären ein Drittel der 300 Millionen Dosen, die sich die EU-Kommission Anfang November vertraglich gesichert hatte. Gemessen an der Bevölkerungszahl Deutschlands im Verhältnis zu anderen EU-Staaten stünden Deutschland nur 56 Millionen Dosen zu. Würde man gar für eine faire Verteilung der Impfdosen die Weltbevölkerung als Maßstab oder die Frage, welche Staaten oder Personengruppen die Impfungen grade am dringendsten bräuchten, zugrunde legen, dann würden sicherlich noch weniger Impfdosen dabei herausspringen. Aber so rechnen die deutsche Regierung und die EU nicht. Wir waren Papst, und wir sind Impfstoff oder – wie Jens Spahn es Anfang November formulierte: »Ich könnte es als deutscher Gesundheitsminister jedenfalls schwer erklären, wenn in anderen Regionen der Welt ein in Deutschland produzierter Impfstoff schneller verimpft würde als in Deutschland selbst.«
Auf kritische Nachfragen gibt man sich in Europa gönnerhaft. Die EU-Kommission betont, dass einzelne Mitgliedsstaaten ihren Anteil der 300 Millionen Dosen auch an andere EU- oder Nicht-EU-Staaten abtreten könnten. Der deutsche Entwicklungsminister Gerd Müller versprach eifrig, ein Auge darauf zu haben, dass auch die Länder des globalen Südens zu ihrem Recht kommen würden. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat mithilfe der Bill & Melinda Gates-Stiftung einen Fond aufgesetzt, aus dem Impfdosen für ärmere Länder finanziert werden sollen. Aus ihm wird aber nur ein Bruchteil der benötigten Präparate bezahlt werden. Es mehren sich außerdem Stimmen, die betonen, dass es vermeintlich schwierig sein wird, den Impfstoff, der bei -70 Grad Celsius gelagert werden muss, in Ländern des globalen Südens zu verteilen. Als wäre all das nicht vor allem eine Frage des Geldes und des Willens.
Dafür zu sorgen, dass alle Menschen auf der Welt vor dem Virus geschützt werden, erscheint als wohltätiger Akt: Als wäre das Patentrecht eine Art Naturgesetz und der Impfstoff eben kein »globales öffentliches Gut«, sondern der rechtmäßige Besitz von Pfizer und BioNTech. Und das, obwohl BioNTech 375 Millionen Euro zur Entwicklung des Impfstoffs aus öffentlicher Hand erhalten hat. Statt Wissen und Technologien zu teilen und die Pandemie schnell zu beenden, bleiben Patentrecht und Profitinteressen der Pharmakonzerne unangetastet. Spätestens seit Beginn der HIV/AIDS-Krise ist bekannt, dass dieses Vorgehen Millionen Menschenleben kosten wird.