Wie wirkt sich die Corona-Krise im ärmsten Stadtteil Hamburgs aus?
Verschimmelte Wohnungen und Existenzängste: Zwei Aktive der Poliklinik Veddel berichten, was die Krise für den Stadtteil bedeutet und wie sie im Gesundheitszentrum reagieren
Interview: Carina Book
Die Corona-Isolation in Hamburg-Eppendorf zu überstehen, ist nicht schwer: In den lichtdurchfluteten Altbauwohnungen beginnt der Tag mit Yogaübungen, mittags bringen Lieferdienste Essen aus Spitzenrestaurants, und am Abend trinkt man ein gutes Glas Wein, während man über dies und das philosophiert. Zehn Kilometer weiter, im Stadtteil Veddel, sieht nicht nur der Corona-Alltag anders aus. Die Veddel ist der ärmste Stadtteil Hamburg. Studien zeigen, dass die Bewohner*innen hier durchschnittlich zehn Jahre weniger Lebenszeit haben als in Eppendorf. Seit 2016 arbeitet die Poliklinik daran, dass sich das ändert. Das Stadtteilgesundheitszentrum bietet neben medizinischer Versorgung auch kostenlose Sozial- und Gesundheitsberatung an.
Die Poliklinik ist derzeit die einzige allgemeinärztliche Praxis auf der Veddel – und damit für mehr als 6.000 Leute zuständig. Das klingt ehrlich gesagt nach Krisenmodus…
Svenja Fürst: Verrückterweise ist die Praxis im Moment ziemlich leer. Das liegt aber nicht an zu wenig Patientinnen, sondern daran, dass wir derzeit nicht mehr als drei Leute ins Wartezimmer lassen können. Wir versuchen, die Leute erstmal am Fenster zu bedienen. Dort bekommen sie Rezepte oder Krankschreibungen. Wenn sie Erkältungssymptome haben, bestellen wir sie in die Akutsprechstunde ein, die jeden Tag stattfindet. Wir telefonieren auch viel mehr als vorher. Viele Leute, die anrufen, sind verunsichert und wollen wissen, ob sie ein Corona-Verdachtsfall sind oder nicht. Damit unsere älteren Patientinnen und Patienten aus den Risikogruppen jetzt nicht unter die Räder kommen, haben wir eine Liste erstellt, die systematisch abtelefoniert wird. Wir erkundigen uns bei den Patientinnen, ob sie gut versorgt sind und was sie gerade brauchen. Mit Hausbesuchen stellen wir sicher, dass alle die medizinische Behandlung erhalten, die sie benötigen. Die Kollektivstruktur der Poliklinik ist gerade jetzt ein großer Vorteil, denn Leute aus dem Kollektiv, die eigentlich nicht im medizinischen Bereich arbeiten, können Telefondienste übernehmen.
Poliklinik Veddel
Das Gesundheitskollektiv der Poliklinik besteht aus einem 25-köpfigen, multiprofessionellen Team. Darunter sind Sozialarbeiter*innen, Pfleger*innen, Ärzt*innen, Jurist*innen, Hebammen, Sozialpädagog*innen, Sozial- und Gesundheitswissenschaftler*innen und Psycholog*innen. Ihre Arbeit besteht aus medizinischer Versorgung, sozialer und psychologischer Beratung und Gemeinwesenarbeit. Gesundheitsprävention im Sinne der Poliklinik berücksichtigt nicht nur das individuelle Verhalten der Menschen, sondern auch die Umstände, in denen sie leben. Die Situation am Arbeitsplatz, Diskriminierung oder fehlende Mobilität werden als wichtige Gesundheitsaspekte anerkannt und mitbearbeitet. Die Poliklinik Veddel und Gesundheitskollektive in Dresden, Leipzig und Berlin haben sich zu einem Poliklinik-Syndikat zusammengeschlossen. Gemeinsam erarbeiten sie konkrete Alternativen zum bestehenden Gesundheitssystem.
Wie schützt ihr euch und eure Patientinnen vor Infektionen?
Svenja Fürst: Wir haben nur sehr wenig Schutzkleidung, und die Frage ist, wie lange der Bestand noch hält. Durch unser Netzwerk erhalten wir zwar gute Unterstützung; von einer befreundeten Tischlerei haben wir zum Beispiel Masken und Desinfektionsmittel bekommen. Trotzdem hangeln wir uns von Lieferung zu Lieferung. Es gibt eine große Unsicherheit in den Krankenhäusern und ambulanten Praxen, weil es einfach nicht genügend Schutzkleidung gibt.
Ihr beratet auch in sozialen Fragen und Fragen der psychischen Gesundheit. Hat sich bei euch seit dem Ausbruch von Corona etwas verändert?
Madeleine Does: Die aktuelle Situation ist eine enorme psychische Belastung für viele Menschen. Wir haben in der Praxis vermehrt Anrufe von Leuten, denen es sehr schlecht geht, weil sie zum Beispiel eine Kündigung erhalten haben. Viele kommen mit den Auswirkungen der Pandemie überhaupt nicht zurecht und haben große Angst davor, dass sie alles verlieren könnten. Wir beraten derzeit nur telefonisch. Es ist schwieriger, mit Klientinnen eine Beziehung und ein Vertrauensverhältnis aufzubauen, wenn man sich nur virtuell treffen kann.
Svenja Fürst: Trotzdem zeigt sich gerade jetzt noch deutlicher, wie wertvoll es ist, dass wir auch psychologische und soziale Beratung anbieten können. Die kurzen Dienstwege in der Poliklinik helfen dabei, schnell die richtigen Ansprechpartnerinnen für die Leute zu finden und sie nicht mit ihren Problemen allein lassen. Ich glaube, dass man aktuell gut beobachten kann, was für Vorteile ein kommunal organisiertes ambulantes Versorgungssystem hat, das seinen Bedarf aus dem Stadtteil ableitet.
Die Veddel ist der ärmste Stadtteil Hamburgs. Inwiefern sind die Auswirkungen von Corona hier anders spürbar als beispielsweise im wohlhabenderen Eppendorf?
Madeleine Does: Vor allem Existenzängste spielen hier eine riesige Rolle. Die Leute wissen nicht, ob sie weiter Geld bekommen. Vielen droht jetzt die Arbeitslosigkeit.
Svenja Fürst: Die meisten haben keinen Job, den sie einfach im Homeoffice erledigen könnten. Das heißt, dass die Leute auch weiter auf der Straße und im öffentlichen Nahverkehr unterwegs sind. Sie gehen ihrer Lohnarbeit nach, das macht natürlich das Abstandhalten und das Eindämmen der Infektionsketten schwieriger als in Eppendorf.
Madeleine Does: Ein weiterer gesundheitsgefährdender Aspekt ist, dass die meisten Veddeler mit vielen Menschen in sehr kleinen, oft verschimmelten Wohnungen leben. Da gibt es wenig Raum für Privatsphäre, man kann sich schlecht aus dem Weg gehen.
Svenja Fürst: Auf der Veddel leben auch sehr viele Kinder, die jetzt zu Hause betreut werden müssen. Die engen Wohnverhältnisse erschweren das. Wenn viele Menschen auf wenig Raum sind, nimmt die häusliche Gewalt häufig zu. Und die Lage entspannt sich nicht gerade durch unausgelastete Kinder, die nicht nach draußen auf den Spielplatz dürfen.
Madeleine Does: Die Corona-Krise führt uns krass vor Augen, dass diejenigen, die sowieso schon am Existenzminimum kratzen, jetzt noch stärker bedroht sind. Ich mache mir auch Sorgen, wie es sich mit den Polizeikontrollen entwickeln wird, die jetzt wegen der Kontaktsperre durchgeführt werden sollen. Ich befürchte, dass die Leute, denen in ihren beengten Wohnverhältnissen die Decke auf den Kopf fällt und die einfach nach draußen müssen, von der Polizei schikaniert werden.
Ist das schon wahrnehmbar?
Madeleine Does: Die Polizeipräsenz ist stark gewachsen in den letzten zwei Wochen. Ständig kommt eine Streife und verscheucht die Kids vom Fußballplatz.
Ihr schreibt, ihr wollt »Veddel Solidarisch jetzt praktisch werden lassen« und ruft zur radikalen Nachbarschaft auf. Was heißt radikale Nachbarschaft für euch?
Madeleine Does: Social distancing und Isolation bereiten den Menschen riesige Probleme. Wir wollen Möglichkeiten für gegenseitige Unterstützung und Orte der Begegnung schaffen. Klönschnack, der sonst immer in der Kneipe stattgefunden hat, soll jetzt zum Beispiel am Telefon stattfinden. Wir hoffen, dass das Viertel in dieser Krise zusammenwächst und Solidarität entsteht. Unterm Strich soll mehr übrigbleiben als einige solidarische Einkaufsgänge. Wir wünschen uns, dass die Leute sich nach Corona nicht mehr gegenseitig beim Vermieter anschwärzen, sondern beginnen, sich gemeinsam gegen den Vermieter zu wehren.
Was ist nötig, um die aktuelle Situation zu verbessern?
Madeleine Does: Wir haben uns mit anderen Polikliniken in Deutschland zusammengeschlossen und gemeinsame Forderungen aufgestellt. Die Hürden für die Grundsicherungen müssen zum Beispiel sofort abgebaut werden. Ich als Sozialarbeiterin bin derzeit hauptsächlich damit beschäftigt, in Warteschleifen von Behörden zu hängen. Die Behörden sind auch völlig überfordert. Wenn ich endlich jemanden am Telefon habe, wird mir gesagt, der zuständige Sachbearbeiter sei im Homeoffice, und seine Emailadresse dürfte aus Datenschutzgründen nicht herausgegeben werden. Das geht so nicht! Da geht es um die Existenz von Menschen!
Svenja Fürst: Was wir auch brauchen, sind mehrsprachige Informationen über das Virus. Wir haben auf unserer Homepage bereits Informationen in vielen Sprachen verlinkt. Leerstehende Hotels müssen jetzt genutzt werden, um den dringend benötigten zusätzlichen Wohnraum zu schaffen. Die Gesundheitsversorgung muss für alle bereitstehen − auch für Leute ohne Krankenversicherung. Wir unterstützen das Medibüro in seiner Forderung, dass ein anonymer Krankenschein eingeführt wird, der hoffentlich dann auch darüber hinaus bestehen bleibt.
Madeleine Does: Der Horizont muss aber auch über die deutschen Grenzen hinaus erweitert werden. Die gesundheitliche und humanitäre Situation an den EU-Außengrenzen ist katastrophal. Das beschäftigt uns auf der Veddel auch stark. Die Transparente an Balkonen, auf denen Grenzöffnungen gefordert werden, werden immer mehr. Entscheidend für die Eindämmung von Corona ist auch, ob es eine Zusicherung gibt, dass eine Erkrankung keine Auswirkungen auf den Aufenthaltsstatus hat. Wenn ein Mensch ohne Papiere Angst haben muss, sich bei einer Infektion im Gesundheitssystem zu melden, haben wir keine Chance, dieses Virus zu bekämpfen.
Svenja Fürst: Ich hoffe, dass die gesellschaftliche Aufmerksamkeit dazu führt, dass jetzt die Verbesserungen erreicht werden können, die es schon so lange dringend braucht. Es werden höhere Gehälter und mehr Personal gebraucht – und das nicht erst seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie. In Spanien zum Beispiel wurden Krankenhäuser rekommunalisiert. In Frankreich wurden Hotels in Krankenhäuser umgewandelt, und in Portugal sollen alle Menschen, die dort leben, als »Ansässige« gelten, egal, ob sie Papiere haben oder nicht. Das alles muss auch in Deutschland passieren und die akute Krise überdauern.
Svenja Fürst
ist seit drei Jahren Teil des Poliklinik-Kollektivs. Sie ist Ärztin, arbeitet aber sowohl im medizinischen als auch im nicht-medizinischen Bereich der Poliklinik. Svenja Fürst ist in Mieter*inneninitiativen und im Beratungscafé involviert.
Madeleine Does
ist seit Februar 2019 als Sozialarbeiterin in der Poliklinik tätig. Sie macht Einzelfallberatungen zu Sozial- und Gesundheitsfragen im Stadtteil. Madeleine Does führte für ak 658 ein Interview mit Maya Adzovic und Njake Sejdovic über ihre Gedanken nach Hanau. Gemeinsam sind sie im Romani Kafava in Hamburg-Wilhelmsburg aktiv.