Wie kommt es zu negativen Ölpreisen?
Von Guido Speckmann
In der Nacht vom 20. auf den 21. April passierte Ungewöhnliches: Erstmals in der Geschichte des Kapitalismus wurde eine der wichtigen Rohölsorten, das US-Öl WTI (West Texas Intermediate), zu Minuspreisen gehandelt. Das heißt, Käufer wurden für den Erwerb mit phasenweise bis zu 40 US-Dollar pro Fass belohnt! Nach negativen Zinsen, Anleihen und Strompreisen an der Börse gibt es nun auch noch das: negative Ölpreise.
Wie konnte es dazu kommen? Fest steht, ohne den Shutdown infolge der Corona-Krise wären negative Preise undenkbar gewesen. Dieser sorgt laut Internationaler Energieagentur für einen historischen Einbruch bei der Nachfrage nach Erdöl – er ist noch rasanter und tiefer als beim Finanzcrash von 2008 oder der Großen Depression von 1929. Denn wenn die Fabriken still stehen und weniger Waren verschifft werden, wird weniger vom Schmierstoff des fossilen Kapitalismus gebraucht. Folge: Die Preise stürzen ab. Doch der Sinkflug begann schon vor der Corona-Krise, als sich ein deutlich langsameres Wirtschaftswachstum abzuzeichnen begann.
Bemühungen der OPEC, der Organisation erdölexportierender Länder, die Ölförderung zu drosseln, um so die Preise zu stabilisieren, erwiesen sich als unzureichend. Hier spielen auch geopolitische Kalküle eine Rolle. Russland und Saudi-Arabien wollen ihre Produktion nicht drosseln, weil sie mit niedrigen Preisen die mächtig gewordenen US-Fracker und kanadischen Teersand-Förderer aus den Markt drängen können.
Das erklärt aber nur die niedrigen Preise, nicht die negativen. Um diese nachvollziehen zu können, muss man sich vergegenwärtigen, wie Öl gehandelt wird. Überwiegend wird dieses an Rohstoffbörsen mit sogenannten Terminkontrakten oder Futures gehandelt. Das heißt: Niemand kauft Öl sofort, sondern erwirbt ein Wertpapier, das ihm die Lieferung von Öl zu einem bestimmten Termin zusichert.
Futures für das US-Öl laufen für einen Monat, werden an der New Yorker Rohstoffbörse gehandelt und umfassen 1.000 Fass Rohöl, das in Cushing (Oklahoma) umgeschlagen wird. Der aktuelle Ölpreis bezieht sich immer auf den jeweils nächsten auslaufenden Terminkontrakt. Im April wurde somit das US-Öl für Mai gehandelt. Vor dem Stichtag der auslaufenden Mai-Futures versuchten deren Besitzer, diese Papiere loszuschlagen. Sie hätten das Öl andernfalls in Empfang nehmen und lagern müssen. Doch die Lager in Cushing sind angesichts des Überangebots kurz davor überzulaufen. Im Gegensatz zur Rohölsorte Brent lässt sich WTI schlecht transportieren und andernorts einlagern. So erschien es den Anbietern von Terminkontrakten günstiger, den Käufern Geld hinterherzuwerfen als teure Lagerkapazitäten zu mieten.
Da auch professionelle Finanzanleger auf dem Ölmarkt mitmischen, ist der Minuspreis auch ein Resultat von Spekulation.
Da auch professionelle Finanzanleger auf dem Ölmarkt mitmischen, ist der Minuspreis auch ein Resultat von Spekulation. Denn die Finanzanleger sind nicht an dem physischen Erwerb des Öls interessiert, sondern daran, die jeweiligen Kontrakte teurer zu verkaufen. Im Raum steht zudem die Vermutung, dass der Preis manipuliert wurde oder der algorithmengesteuerte Kurzfristhandel aus dem Ruder gelaufen ist. Denn parallel zu den negativen Mai-Kontrakten wurden die Juni-Kontrakte weiter deutlich im Plus gehandelt. Dabei ist kaum anzunehmen, dass sich das Lagerproblem bis dahin gelöst oder die Wirtschaft das Rezessionstal verlassen hat. Es ist gut möglich, dass sich das Schauspiel der negativen Preise am 19. Mai wiederholen wird, wenn die Juni-Kontrakte verfallen und Händler und Anleger verzweifelt versuchen, diese loszuschlagen.
Welche Folgen haben die geringen und negativen Ölpreise? Sie könnten zu einer Pleitewelle von kleineren Ölförderern, darunter zahlreiche Fracking-Unternehmen, in den USA führen. Diese sind meist hoch verschuldet und auf einen gewissen Ölpreis angewiesen, um profitabel zu sein. Eine Pleitewelle könnte auch das Bankensystem in Bedrängnis bringen, weil Kredite nicht mehr bedient werden.
Global gesehen sorgen niedrige Ölpreise für die Gefahr einer Deflation, für sinkende Preise auf breiter Front. Für Konsument*innen mag das verlockend sein, aus Perspektive der Wirtschaft ist es aber viel schlimmer als eine Inflation. Denn Konsument*innen schieben ihre Kaufentscheidungen auf. Ein riesiger Nachfragerückgang bei gleichzeitigem Überangebot ist die Folge.
Unmittelbar betroffen vom negativen WTI-Preis waren offenbar chinesische Kleinanleger. (FAZ, 24.4.20) Die Bank of China hatte ihre Terminkontrakte für das US-Öl nämlich zerstückelt und sie rund 300 Millionen Kleinanlegern angeboten. Diese erhielten nach dem 21. April von der Bank die Aufforderung, ihr den entstandenen Milliardenverlust zu ersetzen. Offenbar gab es schon Proteste vor einer Bankfiliale in Shanghai, zudem kursieren Berichte über Leute, die ihr Haus verkaufen mussten, gar von einem Suizid wird berichtet.