Wider die Enttäuschung
Von Staaten waren nie Lösungen zu erwarten, auch nicht für Syrien
Von Hêlîn Dirik
Friedliche Machtübergabe, Dialog, Schutz für Minderheiten – glaubt man den Worten einiger Regierungspolitiker*innen, ist der Neuaufbau Syriens nach dem Sturz Assads am 8. Dezember für sie das Gebot der Stunde. Der türkische Außenminister Hakan Fidan erklärte, die Türkei wolle sich für ein friedliches Zusammenleben unter Einbeziehung aller Minderheiten einsetzen. Mit ähnlichen Worten äußerte sich die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock: Das Ziel müsse ein friedlicher Übergang sein, bei dem Minderheiten mitbestimmen. Bundeskanzler Olaf Scholz warnte angesichts der unwägbaren Lage im Land davor, verfrüht nach Syrien abzuschieben. Man müsse erst dafür sorgen, dass dort eine Demokratie entstehe, in der Menschen unterschiedlicher Religionen koexistieren könnten. Und der österreichische Kanzler Karl Nehammer versicherte, man wolle Syrer*innen beim Wiederaufbau Syriens unterstützen.
A lot to unpack, aber fangen wir damit an, wie entlarvend und gleichzeitig vorhersehbar die ersten Reaktionen nach dem Fall des Assad-Regimes waren. Denn es war kaum ein Tag vergangen, da kündigte schon ein Land nach dem anderen an, Entscheidungen über Asylanträge von Menschen aus Syrien auf Eis zu legen, darunter Deutschland, Österreich, Großbritannien und Italien. Die Türkei, wo mehr als drei Millionen syrische Geflüchtete leben, begann sofort mit Rückführungen – das kommt der Regierung auch innenpolitisch gelegen, denn in der Türkei herrscht seit Jahren eine gewaltvolle rassistische Stimmung gegen Syrer*innen. In staatsnahen türkischen Sendern werden seit Tagen ununterbrochen und demonstrativ Aufnahmen von Syrer*innen gezeigt, die nun die Grenze überqueren. In Österreich kündigte Nehammer ganze zwei Tage nach Assads Sturz die Vorbereitung eines umfassenden Abschiebeprogramms an, das auch die Überprüfung bereits gewährter Aufenthaltstitel beinhaltet. Der Fluchtgrund sei nicht mehr gegeben, es gebe viele gute Gründe für Syrer*innen, zurückzukehren.
Der Bürgerkrieg ist nicht vorbei, und vor allem Frauen, ethnische Minderheiten und durch Islamismus bedrohte Glaubensgemeinschaften sind gefährdet.
Dabei ist noch lange kein Frieden eingekehrt: Mit der Machtübernahme der Hayat Tahrir al-Sham (HTS), eines islamistischen Bündnisses mit Wurzeln in der Nusra-Front und dem Islamischen Staat (IS), auf der einen Seite, und Angriffen der Türkei und der von ihr kontrollierten Syrischen Nationalarmee (SNA) im Norden, auf Rojava, auf der anderen, bleibt ungewiss, wie es weitergeht. Fest steht: Der Bürgerkrieg ist nicht vorbei, und vor allem Frauen, ethnische Minderheiten und durch Islamismus bedrohte Glaubensgemeinschaften sind gefährdet.
Darauf, dass Deutschland zu den zahlreichen militärischen Angriffen des Nato-Partners Türkei in den letzten Jahren größtenteils geschwiegen hat, wurde in dieser Zeitung immer wieder hingewiesen. Und wie perfide es ist, dass nach einem historischen Moment, der der Sturz des Baath-Regimes zweifellos ist, in Ländern, die Bürgerkriegsflüchtlinge aufgenommen haben, als Erstes über Aufnahmestopps und Abschiebungen geredet wird, muss sicherlich nicht weiter erklärt werden. Für Linke gibt es in Momenten wie diesen Wichtigeres zu tun, als von Regierungen enttäuscht zu sein, wie etwa von der deutschen Regierung, die mit der Türkei all die Jahre Waffendeals gemacht oder erst kürzlich »mit Bauchweh« nach Afghanistan abgeschoben hat, wo die Taliban an der Macht sind.
Staatliche Machtinteressen sind mit ein Grund dafür, dass Kriege beginnen und sich schier endlos hinziehen. Die politische und humanitäre Lage in Syrien ist fatal. In Damaskus halten vorerst Islamisten die Fäden in der Hand. Außerhalb Syriens sind Millionen Menschen in Sorge um die Zukunft und ihr Bleiberecht. Und Rojava, einer der wenigen emanzipatorischen Hoffnungsschimmer in der Region, kämpft ums Überleben. Uns kommt in dieser Situation nicht nur die Aufgabe zu, all die Heuchelei und Verlogenheit in der Syrienpolitik zu entlarven. Wir müssen daran arbeiten, Hand in Hand mit progressiven Kräften in und aus der Region, allen voran den Frauenbewegungen, das zu verteidigen, was bleibt: die Hoffnung auf einen wirklichen Frieden, bei dem sich regionale und internationale Mächte endgültig raushalten und Bestrebungen für demokratische Selbstverwaltung nicht kriminalisiert und angegriffen werden.