Wenn die Räder mahlen
Homayoun Sabetara wurde wegen Schleuserei angeklagt und kommt nun frei – er ist eine Ausnahme
Von Sanaz Azimipour
Ruth Wilson Gilmore und zahlreiche andere abolitionistische Denker*innen und Aktivist*innen weisen auf die zentrale Rolle der Strafsysteme hin, die als unverzichtbares Instrument zur Aufrechterhaltung der kapitalistischen Ordnung dienen. Ein integraler Bestandteil dieser Strafsysteme ist das sogenannte »organized abandonment« – das systematische Fallenlassen und Vernachlässigen von Menschen durch den Staat. Wenn Personen ihre Jobs verlieren, aus ihren Wohnungen vertrieben werden oder ohne Papiere an der Grenze festsitzen, sind ihre Schicksale nicht voneinander isoliert, sondern durch eben jene Straf– und Ordnungsysteme verknüpft, die gezielt Handlungsoptionen der Betroffenen einschränken. Durchgesetzt, reguliert und verwaltet wird die organisierte Vernachlässigung durch die Institutionen der Strafsysteme, unter anderem Polizei, Gerichte und Knäste.
Wie diese Institutionen ineinandergreifen und sich gegenseitig stützen, zeigt sich im Fall von Homayoun Sabetara: Am 25. August 2021 wurde der aus dem Iran geflohene Migrant von der griechischen Polizei festgenommen, nachdem er mit einem Auto die türkisch-griechische Grenze überquert hatte. In einem nur zweistündigen Prozess wurde er am 26. September 2022 wegen angeblichem Menschenschmuggel zu 18 Jahren Haft verurteilt. Seitdem ist der 63-jährige Sabetara im griechischen Gefängnis von Trikala inhaftiert. Für seine Freilassung gründeten Angehörige, darunter seine Tocher Mahtab Sabetara, die Kampagne »Free Homayoun«, die Homayoun Sabetara unter anderem in seinem Berufungsverfahren unterstützte. Dieses endete am 24. September mit einer Herabsetzung der Strafe auf sieben Jahre und vier Monate Haft. Das Gericht erkannte ausdrücklich an, dass Sabetara nicht aus Gewinnabsicht gehandelt hat.
Abschottung und Scheinsicherheit
Die Maßnahmen zur Bekämpfung sogenannten Menschenschmuggels, von denen Homayoun betroffen ist, sind Teil einer umfassenderen, europäischen Anti-Migrationspolitik. Eingebettet ist die zunehmende Abschottung Europas in eine Scheindebatte um Sicherheit: Die »Sicherheit der eigenen Bevölkerung« soll einerseits durch Abschiebungen, Duldungen und Kriminalisierung von Migrant*innen und andererseits durch massive Investitionen in Grenzschutzmaßnahmen wie Frontex hergestellt werden.
Ziel einer solchen Scheinsicherheitsdebatte ist es, systemisches Versagen auf die individuelle Ebene zu verlagern und damit die Aufrechterhaltung des bestehenden Systems durch eine neu definierte Bedeutung von Sicherheit zu rechtfertigen: eine Sicherheit, die nicht durch die Bereitstellung grundlegender Bedürfnisse wie Wohnraum, Zugang zu Nahrung und sauberem Wasser, Zugang zum öffentlichen Leben, Bildung und Gesundheitsversorgung geschaffen wird, sondern durch mehr Polizei und verstärkte Sicherheitskontrollen. Allein bis 2023 sollen 845 Millionen Euro in die Umsetzung dieser Maßnahmen durch die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex) investiert werden.
Das Recht, Rechte zu haben
Schmuggler*in ist, wer von der Polizei als Fahrer*in des Autos identifiziert wird, in dem die Illegalisierten angehalten werden. Zeug*innen werden die Menschen im Fahrzeug oder die am Einsatz beteiligten Polizist*innen. So war es auch im Fall von Homayoun Sabetara. Die Anklage gegen ihn basiert auf zwei Zeug*innenaussagen: die eines Polizisten und die einer Person aus Sabetaras Auto, die bei der Festnahme ohne Dolmetschung vernommen wurde. Dieses Vorgehen ist kein Einzelfall, so der Strafverteidiger von Homayoun Sabetara, Harris Ladis: »Die Polizist*innen versuchen nicht, die Zeug*innenaussagen ins Kreuzverhör zu nehmen oder zu überprüfen. Um zu viel Ärger zu vermeiden, nehmen sie in der Regel nur die Aussage einer*s Passagiers*in auf, der/ die sagt: »Er hat das Auto gefahren, als wir angekommen sind.« Das reicht aus, um jemanden zu verhaften und die Person dann dem Ermittlungsrichter zu überstellen.«
Wer arm ist, bleibt (länger) im Gefängnis.
Wer sich keine Anwält*innen organisieren kann, hat im Gerichtssaal keine Chance. Vor allem, wenn es um hohe Strafen wie Menschenhandel geht, wie im Fall von Sabetara. Allein seine Anwaltskosten belaufen sich auf über 15.000 Euro. Wer arm ist, bleibt (länger) im Gefängnis.
Die häufigsten Fragen im Verfahren drehten sich um seine finanzielle Situation im Iran: Was hat er gearbeitet? Wie viel hat er verdient? Dieselben Fragen werden auch seiner Tochter Mahtab gestellt: Hat er Geld aus seinem Lohn nach Deutschland geschickt? Wie finanziert Mahtab ihr Leben in Deutschland? Wie hat ihr Vater die Überfahrt bezahlt? Wie viel Geld hat sie ihm geschickt? Hatte er finanzielle Probleme? Hatte er ein Auto? Eine Erbschaft? Ein Haus? Was ist mit dem Haus? Hat er seinen Besitz oder den Erlös aus dem Verkauf seines Geschäfts hinterlassen? Was hat Mahtab studiert? Was hat sie gearbeitet?
Angeklagte müssen in ihrer Verteidigung immer wieder betonen, dass sie nicht »arm« oder »ungebildet« sind. So war es auch bei Homayoun und Mahtab. Im Gerichtssaal mussten sie wiederholt über ihre Karriere und akademischen Erfolge sprechen, um den Richter davon zu überzeugen, dass Sabetaras Inhaftierung ungerechtfertigt ist.
Das kürzeste von Borderline Europe dokumentierte Verfahren dauerte lediglich sechs Minuten.
Eine Recherche von Borderline Europe zeigt, dass Gerichtsverfahren gegen sogenannte Schleuser*innen im Durchschnitt nur 37 Minuten dauern. In Fällen mit Pflichtverteidiger*innen sogar nur 17 Minuten. Das kürzeste von Borderline Europe dokumentierte Verfahren dauerte lediglich sechs Minuten. Diese kurzen Verfahren sind oft rechtswidrig und basieren meist auf unzureichenden und fragwürdigen Beweisen, wie etwa der Aussage einer einzigen Polizei- oder Küstenwachebeamt*in. In 68% der dokumentierten Fälle erschienen die Beamt*innen, deren Aussagen die Grundlage der Anklage bildeten, nicht einmal vor Gericht. Dabei wird in diesen minutenlangen Prozessen hart über menschliche Schicksale entschieden: Im Durchschnitt werden Menschenschmuggler*innen zu 46 Jahren Haft und einer Geldstrafe von 332.209 Euro verurteilt.
Der Fall von Homayoun Sabetara zeigt auch, dass Gefangene immer auf die Hilfe von außerhalb des Gefängnisses angewiesen sind. Sie brauchen jemanden, der sich um die Gesundheit und Versorgung kümmert, die benötigten Medikamente besorgt und sich beim Gefängnis meldet, wenn man krank ist. Oder jemanden, der den Gerichtsprozess vorantreibt, eine*n Anwalt*in organisiert, einen zu Gerichtsterminen begleitet, Geld schickt und sich dafür einsetzt, dass man freikommt. Für all jene, die niemanden bei der Besuchsstunde haben, wird das Gefängnis zu einer noch größeren Hölle: meist mit eine*r Pflichtverteidiger*in vor Gericht, ohne angemessene Dolmetschung und allein gegenüber einem System, das einen von Beginn an kriminalisiert.
Die harten Strafen, die besonders junge Gefangene ohne Angehörige treffen, sollen auch zur Abschreckung dienen. Diejenigen, die weder das soziale noch das ökonomische Kapital haben, um ihre Rechte zu verteidigen, sind die idealen Opfer, um den europäischen Sicherheitsdiskurs zu untermauern: Einsame, Verlassene. Kriminelle, die das wahre Gesicht eines sicheren Europas aufrechterhalten.