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Welche Kriege führen?

Spätestens seit dem Ukrainekrieg streiten drei Lager in der Nato um die strategische Ausrichtung

Von Robert Stark

Drei Panzer überqueren ein Feld, im Vordergrund einie Menschen in ziviler Kleidung, die dabei zu schauen. Im Hintergrund eine Wohnsiedlung mit rot geklinkerten Häusern.
Alle Panzerkanonen zeigen nach Osten, Nato-Manöver in der Bundesrepublik 1982. Foto: gemeinfrei

Am 4. April dieses Jahres wurde Finnlands Flagge erstmals vor dem Nato-Hauptquartier in Brüssel gehisst. Der nordische Staat ist damit das 31. Mitglied des Nordatlantikpakts, dem mächtigsten Militärbündnis der Welt, der am gleichen Tag sein 74-jähriges Bestehen feierte. Über eine Milliarde Menschen leben in den Staaten der Nato-Mitglieder und obwohl dies nur ein Achtel der Weltbevölkerung ausmacht, hat das Bündnis mit über 55 Prozent der globalen Militärausgaben einen Löwenanteil an der weltweiten Aufrüstung.

Die Nato, welcher Finnland in diesem Jahr beitrat, ist so groß und mächtig wie nie zuvor in ihrer Geschichte. Gleichzeitig hat sich die strategische Ausrichtung der Allianz über die Jahrzehnte stark verändert und dabei den historischen Entwicklungen global Rechnung getragen sowie durch ihre eigenen Strategieverschiebungen maßgeblich globale Entwicklungen mitgeformt.

Noch 2019 hatte der französische Präsident Emmanuel Macron der Nato einen »Hirntod« attestiert. Donald Trump musste auf den Gipfeltreffen der vermeintlichen Zombie-Allianz mühevoll einige lapidare Bekenntnisse zur transatlantischen Partnerschaft abgerungen werden. Nach dem Angriffskrieg gegen die Ukraine ist die Nato in Europa aber wieder in aller Munde. Rüstungsausgaben werden erhöht, Manöver vergrößert und mit dem Beitritt Finnlands hat das Bündnis 1.340 Kilometer mehr Außengrenze zu Russland bekommen. Einigkeit und Geschlossenheit versucht die Nato, seit dem Februar 2022 immer deutlicher zu demonstrieren, ihre innere Zerrissenheit aufgrund unterschiedlicher strategischer Ausrichtungskonzepte können aber nur oberflächlich kaschiert werden.

Antikommunistisches Bündnis

Bei der Gründung des Nordatlantikpakts im Jahr 1949 war die »sicherheitspolitische Lage« in Europa eine völlig andere. Die Sowjetunion hatte Hunderttausende Soldaten in Mittelosteuropa stationiert, und nach dem Auseinanderbrechen der Anti-Hitler-Koalition formierte sich in den USA ein politisches Denken, das den Kommunismus und die Sowjetunion global zurückdrängen wollte. Das US-amerikanische Vorhaben war auch Teil des ersten Strategiepapiers der Nato von 1950 und wurde damit auch Vorlage für die Sicherheitspolitik der anderen elf Gründungsnationen. Der eigentliche Nato-Vertrag vom August 1949 ist mit seinen 14 Artikeln und 23 Sätzen bemerkenswert kurz und in der Präambel ist auch von den Prinzipien von individuellen Freiheiten, Demokratie und Rechtssicherheit die Rede.

Dass der Gründungsvertrag vor allem den Antikommunismus der Nachkriegszeit in sich trug, zeigte auch das Gründungsmitglied Portugal, das noch bis 1974 von einer Militärdiktatur regiert wurde. Mit dem Beitritt der BRD, genau zehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, wurde die Blockkonfrontation weiter verschärft.

Die Gründung des Warschauer Pakts, der als Antwort auf die Nato konzipiert war, erfolgte nur wenige Tage danach. Während des Kalten Kriegs änderte sich die strategische Ausrichtung der Nato nur wenig. Die europäischen Staaten sollten gegen die Übermacht konventioneller sowjetischer Truppen zunächst einige Zeit aushalten, bis entweder Truppen aus den USA zur Verstärkung kommen würden oder alternativ Nuklearwaffen eingesetzt werden könnten. Zentral war die territoriale Verteidigung Westeuropas. Neben der Abwehr des Kommunismus sollte damit vor allem die ungestörte Integration Europas in den kapitalistischen Weltmarkt garantiert werden.

Die Militärpolitik des Bündnisses sollte also nicht nur auf das eigene Hoheitsgebiet beschränkt bleiben, sondern auch außerhalb durchgesetzt werden können.

Mit dem Ende der Sowjetunion und dem Warschauer Pakt sollte sich die strategische Ausrichtung der Nato grundsätzlich wandeln. Obgleich die ursprünglich wahrgenommene Bedrohungslage in Europa, die Expansion des sowjetischen Zugriffs in Europa keinerlei Bedeutung mehr hatte, entgrenzten sich die Sicherheitsvorstellungen der Nato-Strateg*innen zunehmend. Mit dem Gipfeltreffen in Rom im Jahr 1991 wurden auch erstmals »out-of-area«-Einsätze der Nato ermöglicht. Die Militärpolitik des Bündnisses sollte also nicht nur auf das eigene Hoheitsgebiet beschränkt bleiben, sondern auch außerhalb durchgesetzt werden können.

Mit den 1990er Jahren und dem vermeintlichen »Ende der Geschichte« entfernte sich die Nato in ihren strategischen Konzeptionen vom bipolaren Bedrohungsdenken. Die stehenden Heere wurden massiv verkleinert hin zu eher kleineren, hoch spezialisierten Eingreiftruppen, die global eingesetzt werden können.

Als ordnungspolitisches Instrument wurde die Nato das erste Mal im Kosovokrieg benutzt. Die Bombardierung von serbischen Militäreinrichtungen, Brücken und Bahnstrecken in der Operation Allied Force waren dabei weder vom Bündnisfall des Artikels 5 noch durch ein UN-Mandat geregelt. Bei den Bombardierungen wurden immer wieder zivile Einrichtungen getroffen oder ein albanischer Flüchtlingstreck bombardiert, was im Nato-Jargon als »Kollateralschaden« galt.

Neue Konflikte, neue Nato

Die Einsätze der Luftwaffen der USA, dem Vereinigten Königreich, Deutschland und anderen Nato-Mitgliedsstaaten gelten nicht nur als Zäsur in der deutschen, sondern auch in der transatlantischen Außen- und Sicherheitspolitik.

Mit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 wurde das erste und bisher einzige Mal der Bündnisfall nach dem berühmten Artikel 5 ausgerufen. Diesmal durch eine UN-Resolution gedeckt, wurde mit der Operation »Enduring Freedom« eine militärische Großoperation in Afghanistan, Somalia und anderen Ländern durchgeführt. Die Nato, durch den Bündnisfall mobilisiert, agierte dabei vor allem in Afghanistan, aber auch am Horn von Afrika um Al-Qaida und andere nicht-staatliche Terrororganisationen zu zerschlagen.

Mit der Osterweiterung 2004 wurden sieben Staaten Osteuropas Teil der Nato. Einerseits wurde dabei das Baltikum als ehemaliger Teil der Sowjetunion endgültig Teil der westeuropäischen Sicherheitsarchitektur, andererseits wurden mit dem gleichzeitigen Beitritt zur EU die Länder auch Teil des integrierten europäischen Wirtschaftsraums. Die Nato schloss damit eine von ihr wahrgenommene sicherheitspolitische Lücke im ehemaligen Einflussbereich der Sowjetunion. Die Bevölkerung des Baltikums nahm den Beitritt wohlwollend auf, denn der Antikommunismus ist dort stark verankert. Etwa zehn Prozent der männlichen baltischen Bevölkerung musste in den 1950er Jahren im Gulag und sowjetischer Verbannung leben, das hat Spuren bis in die Gegenwart hinterlassen.

In den nächsten Jahren und auch auf dem kommenden Gipfeltreffen im litauischen Vilnius Anfang Juli werden die unterschiedlichen strategischen Konzeptionsvorstellungen innerhalb der Nato stärker hervortreten. Der Politikwissenschaftler und Präsident der regierungs- und rüstungsnahen Gesellschaft für Sicherheitspolitik Johannes Varwick formulierte schon in einer Analyse aus dem Jahr 2010: »Das Bündnis zerfaserte zusehends in Fraktionen mit teils sehr unterschiedlichen Vorstellungen über die Rolle und Aufgaben der Organisation.«

Europäische Ambitionen

Auf der einen Seite ist die mächtigste Bündnisnation USA mit dem engen Partner Großbritannien an einer weiteren Entgrenzung und Globalisierung der Nato interessiert, um die europäischen Partner im strategischen Wettstreit mit China einspannen zu können. Die Nato würde sich also in diesem Fall immer mehr von einem der Territorialverteidigung verpflichteten Verteidigungsbündnis hin zu einem globalen sicherheitspolitischen Akteur wandeln. Auf die Bremse treten besonders Deutschland und Frankreich bei dieser Entwicklung, einerseits weil sie den Status quo der Nato beibehalten wollen, andererseits weil besonders Frankreich an einer innereuropäischen, eigenständigeren militärpolitischen Entwicklung interessiert ist.

Die neuerlich vorgetragenen Vorbehalte von Präsident Macron gegen die Eröffnung eines Verbindungsbüros in Tokio zeigen die gewünschte Eigenständigkeit. Frankreich ist als einzige nuklear bewaffnete Militärmacht in der Europäischen Union stärker an Integrationsmechanismen innerhalb der EU interessiert und weniger an einer Nato als Instrument der Interessendurchsetzung außerhalb seines eigentlichen Einflussbereiches.

Neben diesen beiden größeren Machtblöcken ist seit dem Beginn des Ukrainekriegs auch ein dritter, kleinerer Block identifizierbar, der eigene strategische Vorstellungen entwickelt hat. Polen und die baltischen Staaten haben sich, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, überproportional für Militärhilfen an die Ukraine engagiert. Insbesondere Polen agiert dabei als eine auch militärisch immer breiter aufgestellte neue europäische Mittelmacht.

Egal ob bei den ersten Sanktionen, den immer weiter reichenden Militärhilfen – die baltischen Staaten und Polen agieren immer als Vorreiter. Neuerlich erörterten einige osteuropäische Staaten die Möglichkeit, Soldat*innen in die Ukraine zu schicken. Der ehemalige Nato-Generalsekretär Anders Rasmussen unterstrich Anfang Juni, dass es weitreichende Sicherheitsgarantien auf dem Gipfeltreffen in Vilnius geben müsse, wenn man verhindern wolle, dass Polen die Möglichkeit in Betracht ziehe, mit eigenen Truppen in den Krieg einzugreifen. 

Die Nato ist mit 31 Mitgliedern heute so groß wie nie zuvor, und die unterschiedlichen strategischen Vorstellungen auszuhandeln wird zunehmend komplexer. Einerseits gibt es unterschiedliche strategische Überlegungen, wie die Nato zu nutzen ist, andererseits hat die Nato in ihrer jüngeren Geschichte immer wieder Wandlungsfähigkeit in ihren Strategien bewiesen. Obgleich der Text der Washingtoner Verträge nie geändert wurde, ist die Nato heute eine völlig andere Organisation als während des Kalten Kriegs. Aber ihre aktive Rolle in der militärischen Weltpolitik hat sie behalten.

Robert Stark

lebt in Helsinki, arbeitet im finnischen Bildungssektor und schreibt für deutschsprachige Medien.

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