Fallende Dominosteine
Neue Studien zeigen, dass die Klimakrise schneller voranschreitet als bisher prognostiziert
Von Wolfgang Pomrehn
Das spanische Teneriffa hat Anfang März den Wassernotstand ausgerufen. Der Gebrauch von Trinkwasser wurde eingeschränkt, das Befüllen von Swimmingpools, die Bewässerung, das Autowaschen verboten. Die Insel durchlebt gemeinsam mit ihren Nachbarinseln und Teilen des spanischen Festlandes eine schwere Dürre, »eine der schlimmsten der jüngeren Geschichte«, wie Rosa Dávila, die Regierungschefin Teneriffas, meint. In Katalonien sprach man zur gleichen Zeit von der schlimmsten Dürre seit Menschengedenken.
Schlaglichter einer sich entfaltenden Klimakrise. Andere wären die schweren Waldbrände in Chile mit über 100 Toten im Februar, die zweitgrößten Buschbrände in der Geschichte der USA im Norden von Texas, die stärksten von Waldbränden verursachten Emissionen über dem Amazonasbecken seit mindestens 2003, nachdem dieses in den letzten Monaten die ebenfalls schlimmste Dürre seit Beginn der Aufzeichnungen durchlebt hat, großflächiges Ausbleichen von Korallenriffen in fast allen tropischen Meeren seit Anfang März und nicht zuletzt rekordverdächtige Winterniederschläge über Nordwesteuropa, die in Großbritannien schwere Schäden in der Landwirtschaft angerichtet haben und auch in Frankreich und Deutschland wochenlang die Flüsse über die Ufer treten ließen.
Klimakrise an allen Ecken und Enden. Die globale Erwärmung ist inzwischen so weit vorangeschritten, dass die über den ganzen Planeten gemittelte Temperatur im vergangenen November erstmals um mehr als zwei Grad Celsius höher als zu Beginn der Industrialisierung war – wenn auch nur an einem einzigen Tag. Mit dem zurückliegenden Januar und Februar waren dann zum ersten Mal ganze Monate um mehr als 1,5 Grad Celsius wärmer als der jeweilige Monatsdurchschnitt der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Letzteres wird gewöhnlich als Referenz genommen, weil zu jener Zeit die durch menschliche Aktivitäten verursachten Treibhausgas-Emissionen noch minimal waren und zugleich hinreichend viele Daten vorliegen, um die globale Durchschnittstemperatur ausreichend genau bestimmen zu können.
Das Überschreiten der 1,5-Grad-Celsius-Schwelle ist zunächst vor allem ein hochgradig symbolischer Vorgang. 2015 hatten sich die Staaten der Welt in der – ziemlich unverbindlichen – Pariser Klimaübereinkunft darauf verständigt, die globale Erwärmung »möglichst« auf 1,5 Grad Celsius über dem vorindustriellen Niveau zu beschränken und sie »deutlich« unter zwei Grad Celsius zu halten. Gemeint ist hiermit allerdings immer ein langjähriger Durchschnitt, doch der Hintergrund dieser Festlegung ist dramatisch genug. In den Klimawissenschaften ist man sich nämlich weitgehend darüber einig, dass jenseits einer längerfristigen Erwärmung von 1,5 Grad Celsius eine zunehmende Zahl von Dominosteinen des Klimasystems umkippen werden. Das heißt, die Veränderungen verlaufen nicht einfach graduell, sondern die Subsysteme drohen plötzlich umzuschlagen, wie es ein Merkmal nichtlinearer Prozesse ist.
Sibirische Verhältnisse in Deutschland, in denen keine Landwirtschaft mehr möglich ist? Längst nicht mehr unrealistisch.
Der westantarktische Eisschild könnte zum Beispiel bereits den Punkt erreicht haben, an dem sein langfristiger, vollständiger Verlust nicht mehr aufzuhalten sein wird, wie Eiswissenschaftler*innen am Potsdam Institut für Klimafolgenforschung meinen. Allein das würde uns in den nächsten Jahrhunderten etwas über fünf Meter Meeresspiegelanstieg bescheren. Auch das Meereis rund um die Antarktis hat einen solchen Kipppunkt, der ebenfalls eventuell schon überschritten ist, wie eine 2023 veröffentlichte Studie zweier australischer Wissenschaftler nahelegt. Ariaan Purich und Edward W. Doddridge kamen im Fachblatt Nature zu dem Schluss, dass der starke Rückgang des Eises ein Zeichen für deutlich erhöhte Wassertemperaturen rund um den Südkontinent ist. Letztere sind inzwischen gut belegt und bedeuten sehr schlechte Aussichten für die Gletscherzungen, die vom Land ins Meer gleiten und vor allem an ihrer Unterseite vom Meerwasser erwärmt und abgeschmolzen werden. Das schrumpfende Meereis hat zwar keinen direkten Einfluss auf den Meeresspiegel, aber je weniger Eis im Süd-Sommer auf dem Meer rund um die Antarktis schwimmt, desto mehr kann es durch die Sonne erwärmt werden und so die Eisschmelze verstärken.
Ausfall der westeuropäischen Fernheizung?
Ein anderes System, das nicht mehr allzu weit vom Umschlagen entfernt ist, stellt der Regenwald im Amazonasbecken dar. Wird zu viel abgeholzt, wird er sich in großen Teilen in eine Savanne verwandeln. Eine im Februar von einem internationalen Team von Wissenschaftler*innen ebenfalls in Nature veröffentlichte Untersuchung kommt zu dem Schluss, dass bis 2050 zehn bis 47 Prozent des Waldes davon betroffen sein könnten. Die Ursache ist eine Mischung aus steigenden Temperaturen, extremen Dürren wie im zurückliegenden Winter und Waldbränden. Die Auswirkungen wären in weiten Teilen des Kontinents dramatisch. Bisher wirkt der Wald nämlich als eine Art Förderband, das große Mengen an Feuchtigkeit aus der Karibik in Brasiliens Süden sowie nach Bolivien, Paraguay und Argentinien transportiert. Das über dem Karibischen Meer verdunstete Wasser strömt mit der Luft landeinwärts, regnet dort über den Wäldern ab, verdunstet erneut, wird weiter getragen, regnet mehrfach wieder ab, bis es in Paraguay oder im Norden Argentiniens landet, wenn es nicht schon zuvor das größte Feuchtgebiet der Erde, das Pantanal in Brasiliens Süden, gespeist hat. Mit dem Wald würde auch dieser »fliegende Fluss« verschwinden, wie ihn die Wissenschaftler*innen nennen.
Ein vierter Dominostein, der schon bald fallen könnte, ist die Nordatlantische Umwälzzirkulation, ein System von Meeresströmungen, zu dem auch der Golfstrom gehört und das für West-, Mittel- und Nordeuropa von herausragender Bedeutung ist, weil es sehr viel Wärme aus der Karibik in den Norden transportiert. Europa wird dadurch wesentlich wohnlicher als zum Beispiel Kamtschatka, Alaska oder auch Kanada, die auf vergleichbaren Längengraden liegen. Dies ist allerdings nur ein Teilaspekt dieses Systems, das sehr salziges und damit dichtes Wasser in den hohen Norden transportiert, das dort abkühlt, absinkt, weil es weiter an Dichte zunimmt, und in den Tiefen des Meeres wieder gen Süden, über den Äquator hinaus und zum Teil bis in den Indischen Ozean fließt. Zum Ausgleich strömt von dort Wasser an der Oberfläche in den Atlantik.
Eine neue an der Universität Utrecht erstellte Studie bestätigt nun mit einer sehr umfangreichen und alle wichtigen Faktoren einbeziehenden Simulation, was in der wissenschaftlichen Gemeinde schon seit den 1980er Jahren diskutiert wird: Es gibt einen Punkt, an dem das immer schnellere Abschmelzen der Gletscher auf Grönland diesen Mechanismus abwürgen kann. Das Schmelzwasser verdünnt nämlich das Salzwasser vor den Küsten Islands und Grönlands, wo das Absinken stattfindet. Ab einem gewissen Punkt nimmt der Salzgehalt und damit die Dichte so weit ab, dass kein Wasser mehr in die Tiefe absinkt und die Strömung damit abreißt. Die Arbeit der Niederländer*innen zeigt jetzt, dass sich das Strömungssystem auf diesen Kipppunkt zubewegt. Ein Umschlagen des Systems, und damit das Versagen der westeuropäischen Fernheizung, ist nicht mehr ausgeschlossen und wird mit jedem Zehntel Grad Erwärmung wahrscheinlicher. Die Autor*innen legen sich nicht fest, wann dies der Fall sein könnte, zitieren allerdings zustimmend eine Studie aus dem letzten Jahr, die den Zeitpunkt irgendwann zwischen 2025 und 2095 verortet.
Inflation und Verdrängung
Was heißt das alles für die Zukunft der Menschheit, das Leben in Deutschland und den Kampf um Klimagerechtigkeit? Es ist inzwischen wahrscheinlicher als nicht, dass wir schon im nächsten Jahrzehnt dramatische Veränderungen erleben können, Veränderungen allerdings, die nach menschlichem Ermessen immer noch eher schleichend ablaufen werden und nur im Falle großer Unwetter jene dramatischen Bilder erzeugen, die wachrütteln. Die Auswirkungen werden die meisten Menschen voraussichtlich als (weitere) Verteuerung der Lebensmittel erleben, weil die Klimaveränderungen Landwirtschaft und Fischerei unsicherer macht und mancherorts gar verunmöglicht. Eine zahlenmäßig große und durchaus relevante Minderheit wird die Veränderungen als Verdrängung erleben: weil die Felder verwüstet werden, weil steigende Meere und Sturmfluten die Bäuer*innen aus ihren Dörfern vertreiben, weil das Grundwasser versalzt oder auch weil auf einmal sibirische Verhältnisse in Nordeuropa und Teilen Deutschlands herrschen, in denen keine Landwirtschaft mehr möglich ist und auf die auch sonst die Infrastruktur in keiner Weise vorbereitet ist.
Der Umgang mit den Geflüchteten aus Afrika und Asien und mit der permanenten Welthungerkrise zeigt, dass wir von unseren Regierungen keinerlei Empathie und solidarisches Handeln mit dem Rest der Welt erwarten können. Die reichen Länder, obwohl Hauptverursacher des Problems, zeigen bisher keinerlei Bereitschaft, für die bereits von ihnen angerichteten Klimaschäden aufzukommen. Auch der Umgang mit großen Unwetterkatastrophen wie etwa dem Hurrikan Katrina 2005 in den USA, mit dem Fukushima-Erdbeben 2011 in Japan oder auch zuletzt mit der Corona-Pandemie zeigen, dass die Regierungen meist schnell mit autoritären, nicht selten inhumanen Lösungen zur Hand sind, die vor allem die Interessen des großen Kapitals schützen und den ärmeren Betroffenen oft noch zusätzlichen Schaden zufügen.
Kampf um Klimagerechtigkeit wird also auch um den Zugriff auf Ressourcen, um Anpassungsmaßnahmen im Interesse der Menschen und auch um Dinge wie Mindestrente und Hilfe für Einkommensschwache gehen, die unter weiter steigenden Lebensmittel- und vermutlich auch Energiepreisen leiden werden. Denn eins ist wichtig zu vermitteln: Der Klimawandel bedroht nicht nur Menschen in weit entfernten Ländern oder künftige Generationen. Er wird auch für jene, die heute auf eine Armutsrente zusteuern, bedeuten, dass ihnen mit Lebensmittelpreis-Inflation zusätzlich das Leben zur Hölle gemacht werden wird.