Was ist mit der Aufarbeitung der Cum-Cum-Geschäfte?
Von Robin Waldenburg

Löcher im Haushalt, steigender Investitionsbedarf, Krieg in der Ukraine, Schuldenbremse – man sollte meinen, Deutschland könnte aktuell wirklich jede einzelne Milliarde gebrauchen. 28,5 Milliarden Euro sind aber offenbar nichts, worum sich die Regierung besonders zu kümmern scheint. Dieser Betrag ging dem Staat neuen Schätzungen zufolge zwischen 2000 und 2020 wohl mindestens durch sogenannte Cum-Cum-Geschäfte verloren: eine illegale Praxis, bei der Banken durch Täuschung und Betrug eine Steuerrückerstattung erschleichen, auf die kein Anrecht besteht. Nicht in Deutschland ansässige Fonds und andere Finanzinstitute übertrugen dabei ihre deutschen Aktien zum Zeitpunkt der Dividendenausschüttung an deutsche Banken und erhielten sie kurz danach wieder. Die Rückerstattung der Kapitalertragssteuer, auf die deutsche Banken ein Anrecht haben, wurde schließlich zwischen den beiden Akteuren aufgeteilt. Beteiligt an dieser Praxis waren sogar Landesbanken, Volksbanken und Sparkassen.
Von den 28,5 Milliarden Euro, die bis mindestens 2016 aus den Taschen von deutschen Steuerzahler*innen an Finanzinstitute umverteilt wurden, holte sich der Staat bis Ende 2022 gerade einmal 237 Millionen Euro zurück. Über 200 weitere Fälle mit einem Gesamtvolumen von etwa sechs Milliarden Euro werden derzeit gerichtlich bearbeitet. Doch selbst wenn diese sechs Milliarden Euro ebenfalls komplett zurückgezahlt werden sollten, wovon nach den zahlreichen Justizskandalen um Cum-Ex und Cum-Cum nicht unbedingt auszugehen ist, bleiben über 22 Milliarden Euro Restschaden, um den sich niemand zu kümmern scheint. Nur zum Vergleich: Von diesem Betrag könnte man die bereits mehrfach zurückgestellte Kindergrundsicherung in ihrer ursprünglich geplanten Form gleich doppelt und dreifach finanzieren, in ihrer eingestampften Version sogar neunmal.
Stattdessen erschweren SPD, Grüne, FDP und CDU/CSU aktiv die Aufarbeitung der illegalen Geschäfte und machen sich somit zum Handlanger der Banken. Nicht weniger als ein weiterer Skandal ist die Verabschiedung des »Vierten Bürokratieentlastungsgesetzes« Ende September im Bundestag. Neben vielen kleinteiligen Regelungen sieht dieses Gesetz vor, die steuerrechtlichen Aufbewahrungsfristen von zehn auf acht Jahre zu senken. Das bedeutet im Klartext: Nach acht Jahren dürfen Banken Dokumente vernichten, die ihre Beteiligung an Cum-Cum-Geschäften beweisen könnten. Nach Kritik an diesem Vorhaben änderte die Regierung den Entwurf dahingehend, dass die neue Frist für Unternehmen aus der Finanzwirtschaft erst mit einem Jahr Verspätung in Kraft tritt – ein »Entgegenkommen«, das an Lächerlichkeit kaum zu überbieten ist. Denn dass innerhalb nur eines Jahres noch alle unentdeckten Fälle ans Licht kommen, ist alles andere als realistisch.
Bald dürfen Banken schon nach acht Jahren Dokumente vernichten, die ihre Beteiligung an Cum-Cum-Geschäften beweisen könnten.
Fast 200.000 Menschen unterschrieben in den Tagen vor der Abstimmung im Bundestag eine Petition gegen die Verringerung der Aufbewahrungsfristen – was freilich weder die Regierungsparteien von ihrem Vorhaben der Steuerbetrugserleichterung abhalten konnte noch die CDU davon, den Antrag zu unterstützen. Gestartet hatte die Petition Anne Brorhilker, die Anfang 2024 als Oberstaatsanwältin hingeworfen hatte und zur Bürgerbewegung Finanzwende gewechselt war, nachdem sie jahrelang durchaus erfolgreich in Cum-Ex-Fällen ermittelt hatte. Ihre Kündigung erfolgte laut eigener Aussage aus Frustration mit der Politik in Deutschland: »Ich war immer mit Leib und Seele Staatsanwältin, gerade im Bereich von Wirtschaftskriminalität, aber ich bin überhaupt nicht zufrieden damit, wie in Deutschland Finanzkriminalität verfolgt wird. Da geht es oft um Täter mit viel Geld und guten Kontakten, und die treffen auf eine schwach aufgestellte Justiz.«
Brorhilkers Kündigung sorgte kurzzeitig für Aufmerksamkeit – doch Konsequenzen gab es keine. Was ist auch zu erwarten von einem Bundeskanzler, der allem Anschein nach selbst tief im Cum-Ex-Sumpf steckt, und einer Regierungskoalition, die einen Untersuchungsausschuss zu dieser Verstrickung standhaft verhindert? Lieber startet man eine sogenannte »Wachstumsinitiative«, die Empfänger*innen von Sozialleistungen das Leben schwer macht und sucht die fehlenden Milliarden bei denen, die ohnehin kaum etwas haben. Wenn hier Steuerbetrüger*innen Milliardensummen überlassen werden und dort der Sozialstaat abgebaut wird, ist das ein Offenbarungseid für die deutsche Demokratie.
Mitte Oktober musste das »Vierte Bürokratieentlastungsgesetz« mit der Anpassung der Aufbewahrungsfrist noch durch den Bundesrat. Es wurde ohne großes Aufsehen und ohne jeden gesellschaftlichen Aufschrei verabschiedet – und viele Cum-Cum-Milliarden sind wohl für immer verloren.