Was bewirkt die Kursk-Offensive der Ukraine?
Ein Ärgernis für den Kreml und viel Spekulation
Von Anna Jikhareva
Bei Wladimir Putin dürfte das Stichwort Kursk unangenehme Erinnerungen wecken. Im August 2000, da war der russische Präsident gerade frisch im Amt, sank das gleichnamige Atom-U-Boot bei einer Übung; 118 Matrosen kamen ums Leben. Für die Gesellschaft war der Untergang der Kursk ein Trauma, Putin aber hielt es tagelang nicht für nötig, seinen Urlaub für Gespräche mit den Angehörigen zu unterbrechen. Auf kritische Berichte in den damals noch relativ freien Medien reagierte er mit grobschlächtigen Drohungen.
24 Jahre später sorgt das Wort Kursk im Kreml erneut für Unruhe. Gemeint ist diesmal die Offensive in der gleichnamigen Grenzregion im Südwesten des Landes – der bisher grösste Gegenangriff der ukrainischen Streitkräfte seit Beginn der russischen Vollinvasion. Seit dem 6. August rücken sie auf russischem Gebiet vor, nach einer Woche hatten sie laut Oberbefehlshaber Oleksandr Syrskyj 1.000 Quadratkilometer und über 70 Ortschaften unter ihre Kontrolle gebracht. Der örtliche Gouverneur spricht immerhin von fast 30 verlorenen Orten. Der Rest verschwindet im Nebel der Kriegspropaganda.
Welche militärischen Ziele die Offiziellen in Kiew verfolgen, von welchen strategischen Überlegungen sie sich leiten lassen: Kaum jemand von den Involvierten spricht öffentlich darüber, vieles bleibt also Spekulation. In der Ukraine werten viele die Offensive aber schon deshalb als Erfolg, weil sie die Moral in Bevölkerung und Armee hebt. Die Auswirkungen des Vormarschs sind angesichts der dynamischen Lage schwer vorherzusehen. Eine Hoffnung der ukrainischen Seite hat sich bisher nicht bewahrheitet: dass die russische Armee zur Verteidigung von Kursk anderswo Einheiten abzieht. Sowohl in der Region Charkiw wie auch im Donbas konnte sie vielmehr weiter vorrücken.
Bis Putin Worte für die Ereignisse fand, hat es gedauert: Erst sprach er von einer »Situation«, dann von einer »Provokation«, schließlich von einer »Antiterroroperation« in Kursk.
Vielerorts ist nun vom Eskalationspotenzial der Offensive die Rede: »Deutsche Panzer auf russischem Boden« würden den Mann im Kreml bloß noch wütender – und damit unberechenbarer – machen. Doch wer das als Argument gegen den Vormarsch in Stellung bringt, verkennt, dass die Eskalation für die Ukrainer*innen längst Realität ist. Und dass Putin unabhängig von den Handlungen westlicher Staaten entscheidet.
Klar ist: Mit Kiews Offensive hat sich das Mantra, wonach die »militärische Spezialoperation« im Nachbarland stets nach Plan laufe, einmal mehr als Schimäre erwiesen. Die Reaktion aus Moskau schwankte dann auch irgendwo zwischen Panik und Ignoranz. Bis der Präsident überhaupt Worte für die Ereignisse fand, hat es lange gedauert: Erst sprach er von einer »Situation«, dann von einer »Provokation«. Nach Tagen rief er für Kursk schließlich eine »Antiterroroperation« aus.
Die Hektik, die den Kreml erfasst hat, spiegelt sich auch in der chaotischen Informationspolitik der lokalen Behörden: »Was passiert hier, wohin sollen wir fliehen, in welche Richtung gehen? Oder sollen wir besser im Bunker bleiben? Sie sagen uns überhaupt nichts«, beschwerte sich ein Einwohner der Kleinstadt Sudscha – nach ukrainischen Angaben inzwischen unter ihrer Kontrolle – gegenüber dem oppositionellen Medienprojekt Mediazona.
Über 120.000 Menschen sollen bereits evakuiert worden sein, untergebracht werden viele auf russisch besetztem ukrainischem Gebiet – auch, damit die Bevölkerung in Russland möglichst wenig von dem Ganzen mitbekommt. Statt die Wut gegen Putin zu richten, der den Krieg überhaupt erst begonnen hat, machen viele ohnehin nur die lokalen Vertreter*innen der Staatsmacht für ihre Misere verantwortlich. »Erlernte Gleichgültigkeit« hat ein russischer Politologe das kürzlich genannt: Wer glaube, sowieso nichts beeinflussen zu können, zucke bloß resigniert mit den Schultern und lasse das Unglück über sich ergehen.
Dass der Unmut der Menschen in Kursk das Regime hinwegfegt, ist also nicht zu erwarten. Heikel könnte für den Kreml höchstens sein Einsatz von Rekruten und Wehrpflichtigen werden – jungen Männern ohne militärische Erfahrung, die reihenweise verwundet und getötet werden oder in Kriegsgefangenschaft geraten. Schon während des Kriegs in Tschetschenien waren die Soldatenmütter eine wichtige gesellschaftliche Kraft – ihre Proteste gegen das Sterben der Söhne könnten auch diesmal für Unruhe sorgen. Wirklich gefährlich wird Wladimir Putin aber nur Kritik aus den eigenen Reihen. Und in der Moskauer Elite ist es bisher ziemlich still.