Schön gerechnet
Zu Netto-Null-Emissionen bekennen sich Autokonzerne, Staaten und Fridays for Future – mit Klimagerechtigkeit hat das wenig zu tun
Von Eva Rechsteiner
Nach Daimler jetzt auch Audi: Der Automobilhersteller möchte seine Autowerke bis 2025 klimaneutral machen. Ende November veröffentlichte der IT-Branchenverband Bitkom eine Umfrage, laut der fast jedes zweite Unternehmen in Deutschland klimaneutral werden möchte. Die Hälfte dieser Unternehmen strebt die Klimaneutralität in den nächsten zehn Jahren an.
Neben diversen Unternehmen setzen sich auch Staaten das Ziel, klimaneutral zu werden. Nach China, Japan und Südkorea beschloss nun auch Kanada ein entsprechendes Vorhaben. Die EU und Deutschland wollen bis 2050 klimaneutral werden, China bis 2060. Auf kommunaler Ebene bewirkte die politische »Klima-Druckwelle«, die sich mit Fridays for Future vor einem Jahr durch die Städte zog, eine Reihe von vorgezogenen Zielen. Derzeit wird in vielen Gemeinderäten die Klimaneutralität bis 2030 verhandelt; einige Städte wie Münster, Tübingen und Erlangen haben dieses ehrgeizige Ziel bereits verabschiedet.
Für die Klimaneutralität sind verschiedene Begriffe wie Treibhausgasneutralität oder Netto-Null-Emissionen im Umlauf. Gemein ist diesen, dass es keine offizielle Definition gibt. Im Grunde beinhaltet der Terminus, dass auf unser Ökosystem bezogen netto kein Kohlendioxid und keine anderen Treibhausgase wie Methan oder Lachgas freigesetzt werden. Netto bedeutet, dass CO2-Emissionen durch Reduktion an anderer Stelle eingespart werden.
Die »Einsparung an anderer Stelle« ebnet Ausgleichsverrechnungen den Weg. Das führt dazu, dass Unternehmen und staatliche Institutionen, die klimaneutral werden wollen, nicht selbst vor Ort Emissionen senken, sondern sich durch eine vermeintliche Reduktion in anderen Ländern – meist im Globalen Süden – »neutralisieren«. So setzen Unternehmen wie Daimler oder Audi zur Erreichung der Klimaneutralität größtenteils auf eine Verrechnung der Kohlendioxidemissionen mit Ausgleichszertifikaten oder Ökostrom. Bilanziell führt dies zu »Netto-Null«-Emissionen, während vor Ort immer noch genauso viel Kohlendioxid ausgestoßen wird. Die CO2-Einsparung durch sogenannte Kompensationsprojekte in anderen Ländern ist zudem deutlich geringer, als suggeriert oder berechnet wird.
Kritik an Kompensationsprojekten
Eine andere, vor allem von Staaten und der Zementindustrie propagierte Ausgleichsverrechnung ist die CO2-Abscheidung. Diese Technik, auch Carbon Capture and Storage (CCS) genannt, scheidet das Kohlendioxid aus Produktionsanlagen ab und speichert es im Boden. Neben dem erhöhten Energieaufwand für die Abscheidung, den Transport und die Speicherung, entstehen zudem Risiken für das Grundwasser und den Boden vor allem durch Leckagen von CO2.
Das Instrument der Kompensation basiert darauf, dass sich westliche Länder um den Ausgleich von Emissionen im Globalen Süden bemühen und nicht um eine Reduzierung im eigenen Land. Die Kritik an den Kompensationsmechanismen ist vielfältig: Aufforstungsprojekte können geopolitische Konflikte um Landnutzungsrechte verursachen und traditionelle Landrechte indigener Völker in Gefahr bringen. Eine Studie des Öko-Instituts zeigte, dass viele Projekte auch ohne Kompensationsinvestitionen umgesetzt worden wären. Die Kompensationsmaßnahmen erfüllen also selten das Kriterium der Zusätzlichkeit. Manche Projekte wurden bereits vor Jahren umgesetzt und im Nachhinein angerechnet, oder Emissionen wurden im Vorfeld künstlich nach oben getrieben. Kompensationsprojekte führen also selten dazu, dass Emissionen eingespart werden, aber häufig dazu, dass Menschen im Globalen Süden von Industrieländern weiter bevormundet werden. Kritisch ist zudem, dass durch die Bepreisung von CO2 die Umwelt zu einer Ware degradiert wird und dies den Trend der Finanzialisierung der Natur weiter ausbaut.
Maßnahmen, die durch CO2-Reduktion eine Klimaneutralität anstreben, haben oft negative (Umwelt-)Auswirkungen.
Natürlich gibt es auch einige Anbieter, die hohe Qualitätsanforderungen an Kompensationsprojekte stellen. So zum Beispiel der Gold Standard, der den Ausschluss von Großprojekten wie Staudämme, Aufforstungs- oder Industriegasprojekte und die Forderung nach Zusatznutzen wie Einkommenssteigerung oder Biodiversität beinhaltet. Dennoch werden auch diese Standards von Nichtregierungsorganisationen wie Friends of the Earth, Climate Justice Now oder World Rainforest Movement als »Feigenblatt im Kohlenstoffmarkt« kritisiert, die eingefahrene Muster des Kapitalismus, Kolonialismus und Patriarchats aufrechterhalten. Zudem liegt der CO2-Preis pro eingesparte Tonne laut Umweltbundesamt auch für Projekte mit hohem Standard nur bei 2 bis 23 Euro pro Tonne. Um die tatsächlichen Umweltfolgekosten zu internalisieren, ist dies viel zu niedrig, hier empfiehlt das Umweltbundesamt 180 Euro pro Tonne.
Die Bundesregierung unterstützt diese Verrechnung mit Ausgleichszertifikaten. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit initiierte vor zwei Jahren die »Allianz für Entwicklung und Klima« und wirbt aktiv bei Unternehmen und Kommunen mit günstigen Ausgleichszertifikaten. Aldi Süd, die Bundesliga und der Freistaat Bayern finanzieren mit wenig Geld und mit Hilfe der Allianz Aufforstungsprojekte in Kenia oder Mangrovenverpflanzungen im Senegal. Unterdessen wird bei uns der Dannenröder Wald für ein Infrastrukturprojekt aus dem letzten Jahrhundert gerodet.
Auch Klimagruppen sind für die Netto-Null
Es ist nicht neu, dass Unternehmen Greenwashing betreiben. Gefährlich wird es, wenn Gruppen aus der Klimagerechtigkeit sich positiv auf Klimaneutralität beziehen und ihn als Forderung an die Politik stellen. So fordern Gruppen wie Extinction Rebellion oder Fridays for Future die Netto-Null schon bis 2025 bzw. 2035. Das kann dazu führen, dass Unternehmen und staatliche Institutionen Ausgleichsverrechnungen wählen, um das Ziel schnell zu erreichen, statt den Schwerpunkt auf Maßnahmen zu legen, die langfristig zu einer großen Transformation führen.
Das Ziel der Klimaneutralität richtet den Fokus auf die Quantifizierung von Treibhausgasen. Alles wird gemessen und bewertet – und nur die Maßnahmen mit direkt messbaren CO2-Einsparungen werden umgesetzt. Die alleinige Konzentration auf den Gehalt des Kohlendioxidausstoßes in der Atmosphäre blendet andere Umweltauswirkungen aus wie den Verlust der biologischen Vielfalt, der Erosion und die Belastung fruchtbarer Böden. Maßnahmen, die durch CO2-Reduktion eine Klimaneutralität anstreben, haben oft sogar negative (Umwelt-)Auswirkungen. So kann der Bau von Staudämmen zur erneuerbaren Stromerzeugung zur Überflutung von unberührten Ökosystemen und zur Vertreibung der lokalen Bevölkerung führen. Der Anbau von Biokraftstoffen verursacht Monokulturen, die Rodung von Regenwäldern und die Erhöhung der Lebensmittelpreise im Globalen Süden.
Klimaneutrale Maßnahmen bauen darauf, dass Treibhausgase Priorität haben vor Biodiversität, sauberer Luft und Wasser, Lärmschutz und Gesundheit. Andere Indikatoren wie Geschlechtergerechtigkeit und Ressourcenschonung werden zu »co-benefits« heruntergestuft. Klimaneutralität setzt auf End-of-Pipe-Techniken, bekämpft nur die Symptome und ist damit ein begrenzter Ansatz, um ein viel größeres Problem zu erfassen. Die unter dem Zeichen der Klimaneutralität vollzogenen Tauschgeschäfte ebnen hinterrücks den Weg für neue Ressourcenplünderungen in Ländern des Globalen Südens.
Die Ziele der Klimaneutralität suggerieren, dass wir unsere imperiale Lebensweise und unser Konsumniveau aufrechterhalten können – sofern wir es klimaneutral hinbekämen. Die Klimagerechtigkeitsbewegung muss reflektieren, welche Ziele sie erreichen möchte. Wenn die Begriffe »klimaneutral« und »Netto-Null-Emissionen« so eingesetzt werden, dass die Ziele aufgeweicht werden und harte Reduktionsmaßnahmen umgangen werden können, müssen diese Begriffe explizit vermieden oder Kriterien aufgestellt werden, die einen Missbrauch verhindern. Ein gutes Beispiel dafür ist der Antrag der örtlichen Fridays-for-Future-Gruppe an den Konstanzer Gemeinderat, der den Ausschluss von Kompensationsprojekten im Globalen Süden und enge territoriale Systemgrenzen vorsieht.