Warten auf den nächsten Aufstand
Sami Adnan von den irakischen Workers Against Sectarianism über Platzbesetzungen, die Krise und den Kampf um Frauenrechte
Interview: Lilli Helmbold und Hans Stephan
Am 25. Oktober 2020 wurde der erste Jahrestag des Oktoberaufstandes im Irak begangen, an dem landesweit Protestierende für bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen auf die Straße gingen. Zu diesem Anlass sprach Sami Adnan von den Workers Against Sectarianism (WAS), die schon seit Oktober 2019 an den Platzbesetzungen in Bagdad teilnehmen, über den Stand der Proteste, Repression sowie die ökonomische Entwicklung und die Versuche des neuen Premierministers al-Kadhimi, die Proteste einzuhegen.
Ende Juli 2020 wurde die Platzbesetzung auf dem al-Tahrir-Platz in Bagdad brutal attackiert. Soweit wir wissen, sind drei Menschen dabei umgekommen, über 70 wurden verletzt. Was waren die Hintergründe dieses Angriffs?
Sami Adnan: An diesem 26. Juli wurde von den Protestierenden verlangt, dass die Mörder derjenigen, die seit Beginn des Oktoberaufstandes 2019 umgekommen sind, vor Gericht gestellt werden. Schiitische Milizen attackierten den al-Tahrir-Platz an diesem Tag aus verschiedenen Gründen.
Seit Mai 2020 ist Mustafa al-Kadhimi Premierminister. Er steht unter doppeltem Druck. Einmal durch die Bevölkerung, die grundlegende Versorgung und Arbeit einfordert, aber auch politische Forderungen stellt: das Ende der Milizen-Herrschaft und der iranischen und US-amerikanischen Einflussnahme auf den Irak. Von der anderen Seite steht al-Kadhimi unter Beschuss durch die Milizen bzw. jene Leute, die sich für den Iran im Irak stark machen. Die wollen nicht, dass al-Kadhimi in dieser Machtposition verbleibt. Sie dominieren nach wie vor die Straßen, aber auch die politische Öffentlichkeit. Die Angriffe auf den al-Tahrir-Platz und auf andere besetzte Plätze dienen von dieser Seite dazu, al-Kadhimis Image in der breiten Öffentlichkeit zu unterlaufen. Der Angriff auf die Protestierenden war eine Botschaft an sie, aber auch an al-Kadhimi, dass die Milizen nach wie vor schlagkräftig sind und die Aktivisten Forderungen nach Gerichtsprozessen gegen die Mörder nicht stellen sollten. Und letztlich war es auch eine Botschaft an die USA, dass die Milizen immer noch sehr mächtig im Irak sind.
Seit Mitte August 2020 kam es dann zu systematischen Erschießungen von Aktivisten des Oktoberaufstandes durch pro-iranische Milizen. Erzähl uns bitte von den ermordeten Aktivisten: Wer waren sie?
Die Hinrichtungen zeigt die Macht, die die Milizen immer noch in ökonomisch bedeutenden Orten des Landes haben. Al-Basra ist eine Stadt im Süden des Irak und für die Ökonomie deshalb so wichtig, weil sie über große Hafenanlagen verfügt und dort riesige Erdöl- und Erdgasfelder liegen. Deshalb wurden Aktivisten vor allem in al-Basra gezielt hingerichtet. Tahseen Oussama etwa war ein Aktivist in al-Basra, der auch beim Oktoberaufstand mit dabei war, wir kannten uns schon sehr lange und standen uns nahe. Er und die anderen waren großartige Menschen, die schlicht ein besseres Leben forderten, ein säkulares System, soziale Rechte. Sie arbeiteten mit anderen Aktivisten zusammen, um Leute zu organisieren, um zersprengte Gruppen auf den besetzten Plätzen zusammenzubringen, um gemeinsam Klassenforderungen durchzusetzen.
Sami Adnan
gehört zur Gruppe Workers Against Sectarianism (Arbeiter gegen den Konfessionalismus, was-iraq.org), die Teil des Oktoberaufstandes 2019 war. Er ist seit Jahren in linken Initiativen in Bagdad aktiv und schreibt als Journalist über prekäre Arbeit und die Situation von Erwerbslosen im Irak.
Unter den Opfern sind viele Frauen. Wie versteht ihr diese Gewalt gegen explizit weibliche Aktivistinnen?
Die Bedrohung, die von dem Oktoberaufstand ausgeht, liegt nicht einfach in den Forderungen nach Elektrizität, Wasser oder Arbeit. Das allein ist es nicht: Wir wollen das Ende des politischen Systems des Islam und der reaktionären Ideologien. Das zielt auf das Herz der islamistischen Parteien. Wenn du einmal darüber nachdenkst, was für diese Parteien und ihre reaktionären Ideologien die größte Bedrohung darstellt, dann sind es die Frauen, die nach Gleichberechtigung verlangen, die sich selbst entfalten wollen, die gegen das Patriarchat und die Reaktion kämpfen. Wenn ich mir global die großen feministischen Bewegungen anschaue, dann symbolisieren sie für mich progressive Gesellschaften. Als sie, die irakischen Herren, diese Frauen auf dem al-Tahrir-Platz sahen, wie sie sich frei bewegten und forderten, was immer ihre Bedürfnisse sind, wie sie von Gleichberechtigung und Freiheit sprechen, von LGBT-Rechten – da mussten sie sich bedroht fühlen. Dieses Bild einer freien Frau stellt den Gegensatz zu ihrer politischen Ideologie dar. Es war wohl das erste Mal, dass Frauen im Irak einen Protest in dieser Art anführten. Die Regierenden versetzt das in Angst und Schrecken.
Diese gezielten Hinrichtungen werden auch immer wieder von Drohgebärden durch Politiker wie Muqtada al-Sadr flankiert.
Ja, Muqtada al-Sadr, ein islamistischer Politiker und schiitischer Milizenführer, bedrohte die Protestierenden, damit sie keinen zweiten Oktoberaufstand machen, weil das politische System des Islam im Irak gerade dabei ist, zusammenzubrechen. Also versuchen Politiker wie al-Sadr, die Leute und eben auch Protestierende mit Gewalt zu bezwingen. Sie versuchen sich an dem bisschen Macht, was ihnen geblieben ist, festzuhalten.
Der al-Tahrir-Platz war zeitweilig auch unter der Kontrolle der politischen Parteien, allen voran der Sadristischen Bewegung. Al-Sadr scheiterte, weil die Forderungen der Protestierenden sich ja nicht erledigt haben. Auf dem al-Tahrir-Platz ist nach wie vor viel los, weil auch die Regierung keine Lösung für die Probleme hat.
Der Irak ist ein Rentierstaat. Es gibt nichts in meiner Wohnung, das hier produziert wurde.
Sami Adnan
Kannst du eine Einschätzung der derzeitigen ökonomischen Krise geben?
Der Irak ist ein Rentierstaat. Es gibt nichts in meiner Wohnung, wirklich gar nichts, das im Irak produziert wurde: weder die Gemälde an der Wand, noch die Stühle in der Küche, noch der Teppich.
Die ökonomische Krise hat im Moment (Stand Oktober 2020, Anmerkung der Red.) einen Höhepunkt erreicht: Die Regierung ist bis heute, also seit fast zwei Monaten, nicht in der Lage, die Löhne an die Angestellten und Arbeiter zu zahlen. Weder die Polizei oder die Armee erhalten gerade ihren Lohn, noch die Ärzte, die gegen Covid-19 kämpfen. Premierminister al-Kadhimi versucht, Wege zu finden, diese Probleme in den Griff zu bekommen, indem zum Beispiel eigene Fabriken aufgebaut oder die Häfen unter staatliche Kontrolle gebracht werden sollen. Die Häfen sind aber in Hand der Milizen, die in die eigene Tasche wirtschaften. Der Premierminister möchte neue Schulden aufnehmen, wobei der Irak bereits hochverschuldet ist.
Wenn das Öl sehr billig wird, ist die Regierung eben nicht mehr in der Lage, Löhne zu bezahlen – daraus entwickelt sich eine Spirale, so funktioniert unsere Ökonomie. Vor allem aber sind die Arbeiter und ihre Familien von der Pandemie betroffen.
Was meinst du damit?
Die Ausgangssperre verursachte viele soziale Probleme. Häusliche Gewalt war stark verbreitet, vor allem gegen Frauen. Ich weiß, dass das überall auf der Welt so passiert ist, aber im Irak ist es extrem.
Darüber hinaus ist es zu verschiedenen Streiks, vor allem in der Elektro- und Erdölindustrie, gekommen. Die Beschäftigten forderten rechtmäßige Arbeitsverträge mit der Regierung. Die Arbeiter dort sind weder versichert, noch erhalten sie Renten. In der Erdölindustrie ist es so, dass du zu 100 Prozent früher oder später an Krebs erkranken wirst, weil selbst ein grundlegender Arbeitsschutz nicht umgesetzt wird. In der Elektroindustrie ist es ähnlich.
Wie wird der neue Premierminister al-Kadhimi unter den Protestierenden wahrgenommen?
Al-Kadhimi tüftelt daran, die Proteste unter seine Kontrolle zu bringen. Er versucht, mit den Milizen wie auch den Protestierenden zu verhandeln, um die derzeitige Lage zu besänftigen. Al-Kadhimi versprach bei seinem Amtsantritt Neuwahlen für 2021. Er hat einige bekannte Aktivisten dazu verleitet, sich als seine Berater herzugeben, und hatte bei zwei Leuten, die den Protest maßgeblich angeführt haben, damit auch Erfolg. Er will sie dazu bringen, kleine Parteien oder NGOs zu gründen. Das wiederum führt zu einer Spaltung unter den Protestierenden, weil einige Leute sich sehr radikal und entschieden gegen das System als Ganzes stellen und andere die Idee begrüßen, mit al-Kadhimi zusammenzuarbeiten. Dabei argumentiert al-Kadhimi, er wäre auch gegen die Milizen und den iranischen Einfluss im Irak. Die Leute hier sind sehr in Aufruhr wegen der Milizen, und sie wollen sich sicher fühlen. Das nutzt er aus.
Vor einer Weile ging es hier auf dem al-Tahrir-Platz um Klassenforderungen: Du hast Menschen und Aktivist*innen gesehen, die über Arbeitsmöglichkeiten, Elektrizitätsversorgung, die Landwirtschaft und das Gesundheitssystem diskutiert haben. Wenn du heute zum Protest kommst, geht es um die Verfassung, faire Wahlen, solchen Bullshit. Bullshit, weil wir längst wissen, dass man an diesem System nicht partizipieren kann: Das ganze System ist korrupt.
Was heißt das für den Protest: Wie geht es weiter?
Wir warten auf einen anderen Aufstand: einen Aufstand der Hungernden. Einen tatsächlichen Aufstand, der nicht von Aktivisten gemacht wird, sondern von den Menschen. Ich weiß nicht, wann und wo er ausbrechen wird, aber ich bin mir sehr sicher, dass er sehr bald kommt. Weil es eben keine Lösungen gibt für unsere Probleme. Al-Kadhimi hat keine und seine Regierung auch nicht.
Dieses Interview erschien in einer Langfassung zuerst online beim Express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit.