»Diese Wahlen sind keine Frage der Hoffnung, sondern der Mathematik«
In Kurdistan hoffen die Menschen auf einen Wandel, doch auch dem Oppositionskandidaten der CHP vertrauen sie kaum
Von Amina Aziz
Auf dem İstasyon Platz in Amed (Diyarbakır) wird am Samstag noch fröhlich getanzt. Es ist die letzte Kundgebung der Oppositionspartei Yeşil Sol Parti (Grüne Linkspartei), auf deren Listen die Kandidat*innen u.a. der Linkspartei HDP antreten, vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am darauffolgenden Tag. Bei kurdischen Veranstaltungen sind tanzende Menschen zwar keine Seltenheit, doch dass hier getanzt wird, kann dennoch als Zeichen verstanden werden: dafür, dass man sich nicht unterkriegen lässt; dafür, dass es Hoffnung auf Veränderung gibt. Im Jahr 2015 sind hier zwei Tage vor den Parlamentswahlen bei einer Kundgebung fünf Menschen durch Bombenexplosionen getötet und mehr als hundert verletzt worden, teilweise schwer. Mitglieder der islamistischen Terrororganisation IS sind für die Anschläge verurteilt worden.
In Amed kommen an diesem Samstag Vertreter*innen der Opposition auf die Bühne. Teils ungleiche Ideologien treffen hier aufeinander, wenn zum Beispiel der Ayatollah Aşiti, Vorsitzender der Freiheitspartei (Azadi Parti), den Koran als Werk beschwört, das zur Einigung der Menschheit beitrage, und kurze Zeit später der Kommunist Nusreddin Maçin von der Kommunistischen Partei Kurdistans von Korruption des Regimes auf Kosten der Bevölkerung spricht. Einzelnen Akteur*innen auf dieser Kundgebung sollte nicht zu viel Bedeutung beigemessen werden, aber dass hier so unterschiedliche Ideologien zusammengebracht werden, zeigt, dass man sich auch als linke Kraft durch den gemeinsamen Kampf mehr Chancen auf eine Abwahl Erdoğans erhofft.
Der Sängerin Şehrîbana Kurdî fällt es leicht, die Menge zum Mitsingen zu bewegen und spätestens jetzt ist es ganz egal, wer mit wem zur Kundgebung gekommen ist. Der kleine Finger wird bei jemand anderem zum sogenannten Govend (türkisch: Halay) eingehakt, die Kundgebungsteilnehmer*innen bewegen sich in einer bestimmten Schrittabfolge rhythmisch zur Musik. Wer von den blutigen Geschehnissen der vergangenen Jahre nichts weiß, könnte annehmen, so etwas sei nie passiert, so ausgelassen wird hier gefeiert.
In den kurdischen Gebieten wurden in den letzten Jahren demokratisch gewählte Bürgermeister*innen, wie Leyla Îmret in Cizre, vom Innenministerium durch regimenahe Verwalter ersetzt.
Dabei findet die Repression durch das Regime nicht nur mit Hilfe von Gewalt statt. Auf politischer Ebene wurden gewählte Bürgermeister*innen, die demokratischen Parteien angehörten, durch das Innenministerium ab- und regimenahe Verwalter ersetzt. Leyla Îmret ist eine der abgesetzten Bürgermeister*innen – sie war 2014 zur Bürgermeisterin von Cizre gewählt worden, das dann im September 2015 tagelang von der türkischen Armee besetzt und abgeriegelt worden war. Îmret hat politisches Asyl in Deutschland erhalten, wo sie vorher bereits für einige Jahre gelebt hatte.
Der oppositionelle Aktivist Hakki, 29 Jahre alt, ist nur kurz bei der Kundgebung, um die Atmosphäre mitzubekommen. Er bereitet sich mit Freund*innen auf den Wahltag vor. »Diese Wahlen sind keine Frage der Hoffnung, sondern der Mathematik«, findet er. Hakki arbeitet als Lehrer in Amed. Als Aktivist unterstützt er zum Beispiel Journalist*innen bei Übersetzungen vom Türkischen oder Kurdischen ins Englische. Er ist sich sicher, dass die Opposition mehr Stimmen erhalte als die AKP und mögliche Koalitionspartner. Das macht er vor allem an der Resonanz der Menschen bei der Wahlkampagne fest sowie dem Wunsch vieler Kurd*innen nach einer Ablösung Erdoğans. Es seien mehr Menschen für einen Regierungswechsel als dagegen.
Unregelmäßigkeiten bei der Stimmabgabe
Seine Stimme gibt Hakki am Wahltag frühmorgens in Cizre ab, wo er gemeldet ist und wir uns gemeinsam auf den Weg zu einem HDP-Büro machen.
In Cizre läuft der Wahltag laut der Opposition, die sich unter anderem auf die Berichte von Wahlbeobachter*innen unterschiedlicher Delegationen aus dem Ausland beruft, bis auf einige Ungereimtheiten eher unkompliziert ab. In den Schulen, die für diesen Tag zu Wahllokalen umgewandelt worden sind, ist die Situation weitgehend entspannt. Vereinzelt hindern Polizist*innen Wahlbeobachter*innen an ihrer Arbeit, wenn sie ihnen den Zutritt zu den Wahllokalen verwehren, ihnen die Ausweise kurzfristig abnehmen, sie auf dem Schulhof festhalten oder vereinzelt durchsuchen, wie einige deutsche Parlamentarier*innen der Linkspartei auf Social Media berichten.
Das grundlegende Problem ist laut Opposition die Möglichkeit der Wahlfälschung. Im Büro der HDP in Basê (Güçlükonak) erzählt man mir von Wahlbetrug durch Soldaten. Sie würden jenes Dokument, das belege, dass sie bereits gewählt hätten, nicht unterzeichnen, um so an unterschiedlichen Orten mehrfach wählen zu können. Beschwerde bei unterschiedlichen offiziellen Behörden sei eingereicht, doch wirklich verhindern lasse sich dieses Vorgehen der Soldaten nicht. Es ist nur eine der vielen Möglichkeiten, Wahlen zu manipulieren. Aus anderen Städten gibt es ebenfalls Bericht über Unregelmäßigkeiten. Und das ist auch, was sich Opposition und Regierung in der Wahlnacht gegenseitig vorwerfen: Wahlmanipulation.
Auch die CHP von Kılıçdaroğlu steht in der Tradition von Staatsgründer Kemal Atatürk, also für Rassismus und Nationalismus.
Die Wahlbeteiligung liegt unterschiedlichen Quellen zufolge bei fast 90 Prozent, wobei sie in der Türkei bzw. in Kurdistan traditionell hoch ist. Nicht nur viele Kurd*innen hoffen, dass Erdoğan endlich abdanken muss. Auch queere Menschen, Frauen und viele, die mit der wirtschaftlichen Situation unzufrieden sind, wollen, dass die Zeit der AKP-Herrschaft endet. Mit einer Verbesserung der Situation der Kurd*innen wäre dann aber nicht unbedingt zu rechnen. Erdoğans Gegenspieler, der Kemalist Kemal Kılıçdaroğlu, äußert sich auf die Frage nach dem Umgang mit Kurd*innen verhalten. Seine Partei, die CHP, steht in der Tradition von Staatsgründer Kemal Atatürk, also für Rassismus und Nationalismus. Andererseits weiß auch Kılıçdaroğlu, dass die Stimmen der Kurd*innen ausschlaggebend sein könnten bei dieser Wahl, vor allem bei einer Stichwahl, zu der es nun allem Anschein nach kommen wird.
»Es kann überall ziemlich chaotisch werden nach den Wahlen« fürchtet Hakki, sowohl in den kommenden Tagen auf den Straßen als auch zwischen den unterschiedlichen politischen Kräften.
»Erdoğan hat weder gewonnen noch verloren«
Cizre liegt an der Grenze zu Syrien. Die hunderte Kilometer lange Grenzmauer, mit der Geflüchtete abgehalten werden sollen, ist aus einigen Kilometern Entfernung gut zu erkennen. Finanziert wurde sie auch mithilfe von Finanzmitteln der EU. Die Grenze kann derzeit nur in Ausnahmefällen überquert werden. Hunderte sind beim Versuch des Grenzübertritts durch türkische Paramilitärs erschossen worden. Auch Kılıçdaroğlu hat sich gegen Geflüchtete ausgesprochen, die er am liebsten nach Syrien »umsiedeln« möchte. Sollte es von der EU keine Unterstützung dafür geben, droht Kılıçdaroğlu, wie schon Erdoğan, sie weiter nach Europa ziehen zu lassen.
In Cizre leben mehrheitlich Kurd*innen, und als die Wahllokale so langsam schließen, feiern Anhänger*innen der Yeşil Sol Parti mit Autokorsos und auf den Straßen. Die Polizei gibt von ihren Fahrzeugen aus Warnschüsse in die Luft ab und sprüht laut Berichten auf Social Media Tränengas in einige Straßen. Hakki und ich fahren zurück nach Amed.
In der langen Wahlnacht treffe ich in einer verrauchten Hotellobby den in der Türkei prominenten Journalisten Cengiz Çandar, Jahrgang 1948. Ob es nach den Wahlen chaotisch werde, wie Hakki fürchtet, könne er nicht sagen. Dazu sei die Ausgangslage noch zu unklar. Çandar selbst kandidiert für die Yeşil Sol Parti in Amed auf Listenplatz 3. Wie Hakki unterstützt er Anliegen der Kurd*innen, doch Hakkis optimistische Einschätzungen teilt er nicht. Während wir uns unterhalten, läuft der Privatsender FOX Türkiye, der von den Wahlen berichtet. »Es ist nicht so gut gelaufen, wie wir es erwartet haben« sagt Çandar. Es sei überhaupt nicht mit Sicherheit zu sagen, dass Erdoğan gehen müsse. Die Zusammensetzung des Parlaments habe sich nicht zugunsten demokratischer Kräfte oder anderer oppositioneller Parteien geändert. »Erdoğan hat nicht gewonnen, aber er hat auch nicht verloren«, fährt er fort. Nach wie vor bestünde die Wahrscheinlichkeit seiner Wiederwahl im zweiten Wahlgang.
Sehr ernüchternd sei das, so Çandar. Noch am Sonntagabend hat er sich mit mehreren anderen Oppositionellen hinter verschlossenen Türen zum Krisenstab getroffen. In den nächsten Tagen wird eine Strategie ausgehandelt.