Von Umverteilung ist kaum etwas zu hören
Isoliert und vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen sein – das kennen einkommensarme Menschen auch ohne Corona-Ausnahmezustand
Von Anne Seeck
Es herrscht der Ausnahmezustand. Aber in dieser Situation befinden sich einkommensarme Menschen permanent – wenn sie nicht gerade in einer Großstadt wie Berlin leben, wo es eine umfangreiche soziale Infrastruktur und viele kostenlose Angebote gibt. Sie sind es gewohnt, isoliert in ihren Wohnungen zu sitzen und vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen zu sein. Nach draußen zu gehen, bedeutete für sie schon immer, Geld ausgeben zu müssen, über das sie nicht verfügen.
Normalerweise interessiert sich die Öffentlichkeit kaum für derlei Facetten aus dem Leben der Armutsbevölkerung. Jetzt, da alle ‒ wenn auch nicht in gleichem Maße ‒ von dieser Krisensituation betroffen sind, rückt auch die soziale Frage wieder in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Politiker*innen sehen sich plötzlich vor der Aufgabe, ihre Wähler*innen, den Mittelstand und vor allem die untere Mittelschicht, vor dem Absturz zu retten. Es ist absurd. Die Menschen sollen nun jenen Politiker*innen vertrauen, die diese bedrohliche Situation durch ihre neoliberale Politik herbeigeführt haben: die Doppelkrise eines kaputt gesparten Gesundheitssystems und systematisch ausgeweiteter prekärer Arbeits- und Lebensverhältnisse.
Viele Lücken beim Sozialschutzpaket
Die Bundesregierung beschloss zwar Ende März ein sogenanntes Sozialschutzpaket. Vergessen wurden dabei aber absichtsvoll jene, die bereits in Einkommensarmut leben und die für die sozial besser abgesicherten Bürger*innen als Drohkulisse fungieren. Diese haben kaum eine Lobby, und meistens wählen sie auch nicht. Konsumieren können sie ebenfalls nur sehr sehr wenig. Der Regelsatz beträgt 432 Euro für einen Alleinstehenden oder Haushaltsvorstand. Sechs Millionen Menschen leben von Hartz-IV-Leistungen, rund eine Million Menschen müssen mit der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung auskommen. Dazu kommen Asylbewerber*innen, obdachlose EU-Bürger*innen, Niedriglöhner*innen, Studierende, die erwerbsarbeiten müssen, arme Künstler*innen und so weiter.
Vergessen wurden beim Sozialschutzpaket jene, die bereits in Einkommensarmut leben und für die besser abgesicherten Bürger*innen als Drohkulisse fungieren. Diese haben kaum eine Lobby, meistens wählen sie auch nicht.
Da die Versorgung mit kostenlosen Lebensmitteln immer schwieriger wird, weil beispielsweise die Tafeln geschlossen werden, und die Kosten für einkommensschwache Menschen entsprechend steigen, fordert der Verein Tacheles eine Einmalzahlung von 500 Euro für jeden einkommensarmen Single-Haushalt, 250 Euro für jede weitere Person sowie einen Corona-Zuschlag zum Regelsatz in Höhe von 100 Euro. Auch der Paritätische Wohlfahrtsverband setzt sich für die Regelsatzerhöhung ein. Darüber hinaus sei laut Verband eine sofortige Einmalzahlung für Grundsicherungsbeziehende in Höhe von 200 Euro für krisenbedingte Mehraufwendungen (etwa für Medikamente) zu gewähren.
Es sind die kleinen Details, die Vielzahl einzelner, nicht immer gravierend erscheinender Maßnahmen, die für die Armutsbetroffenen schmerzlich sind. So sollen die Schulen jetzt digital unterrichten. Wie sollen sich aber Hartz-IV-beziehende Familien für ihre Kinder Computer leisten? Beim Jobcenter sollen ab sofort alle Vorgänge schriftlich geregelt werden. Wie sollen sie die Formulare für die Hartz-IV-Anträge ausdrucken, wenn ihnen die Drucker fehlen? Und wie steht es mit der Rechtsgültigkeit dieser Anträge? Wie viele Anträge gehen in den Jobcentern verloren? Sanktionen wegen Meldeversäumnissen wurden ausgesetzt. Was aber geschieht mit jenen, die bereits sanktioniert werden? Und jenen, die schon lange einen Teil ihrer Miete aus dem Regelsatz zahlen?
»Heute kam zum Beispiel die Meldung, dass die Jobcenter in Berlin in diesem Monat mit 100.000 Neuanträgen rechnen. (…) Der Laden wird komplett untergehen«, so Harald Thomé von Tacheles e.V. gegenüber Radio Dreyeckland am 27. März. Am 31. März meldete die Bundesagentur für Arbeit, dass seit etwas mehr als zwei Wochen 470.000 Betriebe Kurzarbeit angemeldet hätten. Die BA ging von einem Zuwachs von »nur« bis zu 200.000 Arbeitslosen im April in Deutschland aus. Das BMAS (Bundesministerium für Arbeit und Soziales) schätzt allein für den Bereich der Grundsicherung für Arbeitsuchende, dass etwa 1,2 Millionen Bedarfsgemeinschaften und damit etwa doppelt so viele Menschen zusätzlich grundsicherungsbedürftig werden können.
Der Regelsatz ist so knapp gerechnet, dass es für die Familien sehr schwierig ist, über die Runden zu kommen. Sie leben zumeist in beengten Wohnverhältnissen. Und das in Zeiten, da die schulischen und außerschulischen Angebote wegbrechen. Wie sollen die kostenlosen Mittagessen für arme Kinder, die diese bislang in den Schulen erhielten, ersetzt werden? Wir sollen soziale Kontakte meiden und in unseren Wohnungen bleiben. Was aber sind die Schutzmaßnahmen für die Obdachlosen, ob EU-Bürger*innen oder nicht? Wer denkt an die Sammelunterkünfte, sei es für Asylbewerber*innen oder Wohnungslose? Welche Pläne gibt es zum gesundheitlichen Schutz der Strafgefangenen? Viele Fragen, die im Sozialschutzpaket nicht beantwortet wurden.
Lohnarbeit bleibt Priorität im Corona-Kapitalismus
Eines aber ist klar: Der Arbeitszwang wird im Corona-Kapitalismus aufrechterhalten, daher ist die Ansteckungsgefahr für viele Lohnabhängige groß. Die Frage der sozialen Ungleichheit durchzieht diese gesellschaftliche Sphäre. Wem ist es möglich, im Home Office zu arbeiten, und wem nicht? Wen treffen keine Gehaltseinbußen, und wer muss um seine Existenz bangen? Weitgehend ausgeblendet in der öffentlichen Debatte wurde bislang die Rolle des privaten Vermögens und Reichtums. Wer kann aufgrund von Erbschaften und anderem Vermögen lange durchhalten, und wer ist genötigt, sich an das Jobcenter zu wenden?
In einer allgemeinen Krisensituation offenbart sich ganz konkret die soziale Spaltung in der Gesellschaft. Von Umverteilung ist in diesen Zeiten kaum etwas zu hören, auch nicht von etablierten Linken. Es gibt zwar kleine Ansätze zur Bildung von Solidaritätsfonds, große und wirksame Entwürfe fehlen bis dato. Besonders ärgerlich: Gerade jetzt sind von der Linkspartei kaum Kritik und Alternativen zu vernehmen. Im Gegenteil, Funktionäre wie Dietmar Bartsch sprechen der Regierung Lob für ihre bisherige Politik aus oder fordern nur eine einmalige Vermögensabgabe auf große private Vermögen. Grundsätzliche Fragen seien erst nach der Krise zu stellen. Alex Demirovic von der Rosa-Luxemburg-Stiftung dagegen sieht auch Chancen in der Krise. Er schreibt in der Zeitschrift Luxemburg im März 2020, dass »die gegenwärtige Entwicklung auch unerwartete Perspektiven für die Forderung nach Transformation«schafft.
Es bleibt zu hoffen, dass parlamentarische und außerparlamentarische Linke nach dem ersten Schock offensiver werden, soweit es in Corona-Zeiten möglich ist.
In der Corona-Krise sind bereits etliche Forderungen aufgestellt worden. Es sei nur auf die umfassenden Vorschläge und Forderungen von Tacheles e.V. verwiesen, neben Corona-Einmalzahlungen und -Zuschlägen auch »die Übernahme von Kosten für einen Computer zum Zwecke des E-Learning«, Anspruch auf eine Unterbringung in Pension oder Hotel für Wohnungslose und vieles mehr.
Aber Linke können auch im Alltag solidarisch sein. So in der Nachbarschaftshilfe, zum Beispiel Einkaufen gehen für »Risikogruppen«, aber auch für Menschen mit psychischen Problemen oder für Einkommensarme; manchmal helfen auch Lebensmittelspenden. Desweiteren könnte Umverteilung von Linken in der Krise ganz praktisch umgesetzt werden. Damit ist nicht Crowdfunding für bekannte linke Akademiker*innen gemeint, nein, es geht um Solidaritätsfonds, die nicht nur Krisengeschädigte, sondern auch schon lange Einkommensarme einbeziehen. Das wären kollektive Strategien, die vielen zu gute kämen ‒ gerade auch jenen, die keine Lobby, keinen Bekanntheitsgrad und keine Stimme haben, und sich auch »nicht zu fein fürs Jobcenter sind«.
Für den Erhalt einiger Dinge, die jetzt beschlossen wurden, werden wir nach der Krisekämpfen müssen: für die Aussetzung von Zwangsräumungen und Stromsperren; für mehr Mieterschutz, den Verzicht auf Kündigungen bei Mietschulden und auf Sanktionen wegen Meldeversäumnissen im Jobcenter; für einen erleichterten Zugang zu Sozialleistungen; für die Zahlung der vollen Unterkunftskosten und den Verzicht auf Vermögensanrechnung für die Neuzugänge bei den Jobcentern und Arbeitsagenturen. Es gilt also, nicht abzuwarten, sondern unseren Kampf in den Medien, im Internet, in der Politik und auch in der Öffentlichkeit fortzuführen.