Einzeltäter oder rassistische Polizeiwache?
Die Urteilsverkündung im NSU-2.0-Prozess steht kurz bevor – dass die Frankfurter Polizei mit den Drohschreiben nichts zu tun hat, glaubt nur die Staatsanwaltschaft
Von Cihan Balıkçı
Der hessische Polizeiskandal begann mit einem Fax. Dieses enthielt massive Drohungen und wurde im August 2018 an die Frankfurter Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız verschickt. Absender: »NSU 2.0«. Wie sich herausstellte, waren die Daten kurz zuvor auf dem 1. Revier der Polizei Frankfurt in drei verschiedenen Polizeidatenbanken abgerufen worden. Insgesamt 17 einzelne Abfragen zu Başay-Yıldız und ihrer Familie wurden über mehrere Minuten bei der Polizei Frankfurt getätigt.
Wenige Monate nach dem ersten Fax setzte sich die Drohserie fort: Knapp zweieinhalb Jahre lang wurden 82 weitere Drohschreiben per Fax, E-Mail und SMS verschickt, die rassistische und neonazistische Beleidigungen und Morddrohungen enthielten. Neben Başay-Yıldız, deren neue, gesperrte Adresse erneut in den Drohschreiben genannt und später auf einer Doxxing-Seite veröffentlicht wurde, gingen die Drohungen an linke Politiker*innen, Journalist*innen, eine Kabarettistin und viele weitere.
Dabei erhielten auch einige dieser Drohschreiben persönliche Daten der Betroffenen oder ihrer Kinder, die auf Polizeirevieren abgerufen wurden. Insbesondere Frauen und Migrant*innen waren von der Drohserie betroffen. Die sogenannte »NSU 2.0«-Drohserie und die Verwicklung hessischer Polizist*innen hierin löste einen Skandal aus und deckte diverse Gruppen von extrem Rechten in der hessischen Polizei auf. Mehr als 65 rechte Chatgruppen in der hessischen Polizei wurden bekannt, Vorgesetzte sollen Beamt*innen über die Ermittlungen informiert haben. Der hessische Innenminister Peter Beuth und seine Koalition aus CDU und Grünen standen unter enormem Druck, da Hessen parallel zur Drohserie mit dem Mord an Walter Lübcke und dem Anschlag von Hanau zu einem Hotspot des Rechtsterrorismus geworden war.
Mehr als 65 rechte Chatgruppen in der hessischen Polizei wurden bekannt, Vorgesetzte sollen Beamt*innen über die Ermittlungen informiert haben.
Der vermeintliche Einzeltäter
Umso erleichterter war die Politik, als Anfang Mai 2021 der Berliner Alexander Horst M. als Urheber der Drohschreiben festgenommen wurde. M. wies keine Bezüge zur hessischen Polizei auf und ist mehrfach vorbestraft. M. sei an die persönlichen Daten gelangt, indem er bei Revieren angerufen und sich als Polizist ausgegeben habe, so die Version von Staatsanwaltschaft und Innenminister Beuth, kurz nach der Festnahme von M.
Die Ermittlungen gegen den Frankfurter Polizisten Johannes S. wurden damit de facto eingestellt. S. hatte bis dahin als Hauptverdächtiger für die Drohschreiben gegolten: Zum einen hatte er die Gelegenheit, im entsprechenden Zeitraum über den Account seiner Kollegin Miriam D. die Daten von Başay-Yıldız abzurufen; zum anderen war er mit anderen Kolleg*innen vom 1. Revier Teil der Chatgruppe »Itiotentreff«, in der neonazistische Sprüche, Bilder und Gewaltfantasien gegen jüdische sowie geflüchtete Kinder geteilt wurden.
Seit Februar 2022 läuft der Gerichtsprozess gegen Alexander M. Neben der Urheberschaft für die 83 Drohschreiben werden ihm Widerstandshandlungen bei seiner Festnahme und der Besitz von kinderpornografischem Material vorgeworfen. Vor Gericht tritt M. aufbrausend und vulgär auf. So beleidigte er im Gerichtssaal eine Anwältin der Nebenklage und drohte Deniz Yücel bei dessen Zeugenaussage.
Die Urheberschaft der Drohschreiben bestreitet M. und erzählte stattdessen die Geschichte, dass er in einem Darknet-Forum Kontakt mit Polizist*innen hatte, für die er jetzt als Sündenbock herhalten müsse. Nähere Angaben hierzu wollte er aber ohne zugesicherten Zeugenschutz nicht machen. Für eine anteilige Täterschaft von M. spricht jedoch viel: Ein linguistisches Gutachten zeigte starke Übereinstimmungen zwischen markanten, von M. genutzten Formulierungen und denen in den Drohschreiben. Außerdem fanden sich laut Staatsanwaltschaft auf seinem Computer Fragmente der Drohschreiben und E-Mail-Zugänge.
Viele der Betroffenen, die als Zeug*innen aussagten, berichteten von ihrem Zwiespalt, Angst wegen der Drohungen zuzulassen und gleichzeitig nicht klein beizugeben, um den Täter*innen nicht das zu geben, was sie wollen. Neben den Betroffenen waren auch einige der Polizist*innen des 1. Reviers geladen. Diese gaben entweder an, von der Drohserie nichts gewusst zu haben, und bagatellisierten ihre rassistischen Chats als »schwarzen Humor«, oder sie machten von ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch. So auch der Hauptverdächtige Johannes S., der offenbar als einziges Mitglied der Chatgruppe vom 1. Revier weiterhin vom Polizeidienst suspendiert ist.
Erstes Drohschreiben vom Polizisten Johannes S.?
Staatsanwaltschaft und die Anwältinnen der beiden Nebenklägerinnen Seda Başay-Yıldız und Martina Renner sind sich einig darüber, dass 82 der 83 angeklagten Drohschreiben auf das Konto von Alexander M. gehen. Doch die Nebenklage sieht die Verantwortung für das erste Drohschreiben bei den Polizist*innen des Frankfurter 1. Reviers, höchstwahrscheinlich bei Johannes S. Schließlich sei die erste Abfrage der Daten von Başay-Yıldız und ihrer Familie so umfassend gewesen, dass diese laut Zeug*innen schon unter normalen Umständen nicht denkbar gewesen sei. Die Darstellung der Staatsanwaltschaft, jemand außerhalb der Polizei sei über eine Täuschung an die Daten gelangt, sei nicht plausibel. Auch der Sprachduktus des ersten Schreibens und der fehlende zeitliche Zusammenhang zu den weiteren Schreiben, für die M. verantwortlich sei, sprächen gegen M. als Urheber.
Nebenklageanwältin Antonia von der Behrens sieht dafür aber zahlreiche Belastungspunkte gegen Johannes S.: Dieser habe eine klare neonazistische Einstellung, kenne sich gut mit dem anonymisierenden Tor-Browser aus, über den die Faxe verschickt wurden, und habe ein iPad besessen, auf dem eine passende App des Tor-Browsers installiert war, das er just am Abend nach dem Drohschreiben beschloss zu verkaufen. Außerdem suchte S. im Internet nach dem Büro von Başay-Yıldız. Zudem wies das ansonsten penibel geführte Einsatzprotokoll des 1. Reviers für den Tatzeitpunkt einen Fehler auf, der S. ein Alibi verschafft hätte, wäre dies nicht bemerkt worden.
Trotz allem hält die Frankfurt Staatsanwaltschaft an der Täterschaft von Alexander M. auch für das erste Schreiben fest und fordert eine hohe Haftstrafe von siebeneinhalb Jahren. Wird M. für das erste Drohschreiben schuldig gesprochen, wird dies die juristische Aufarbeitung des NSU-2.0-Komplexes beenden und der Polizei sowie der hessischen Landesregierung die Möglichkeit geben, nicht weiter gegen Nazis in ihren Reihen vorgehen zu müssen. Ein Freispruch für M. für den Beginn der Drohserie würde zugleich den Skandal wieder neu beleben und den Polizisten Johannes S. wieder in den Fokus bringen. Voraussichtlich wird sich am 17. November zeigen, ob die Vorsitzende Richterin die starken Indizien berücksichtigt oder sich dem Druck aus Polizei und Justiz beugen wird.