Den roten Teppich ausgerollt
Der UN-Ernährungsgipfel gewährte ausgerechnet jenen mehr Einfluss, die für Hunger- und Klimakrise mitverantwortlich sind
Von Astrud Beringer
Es sind Entwicklungen, die erschrecken: Seit dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie leiden verschiedenen Schätzungen zufolge weltweit zwischen 70 und 161 Millionen Menschen mehr an akutem Hunger. Insgesamt ist damit rund ein Zehntel der Weltbevölkerung von Hunger betroffen. Zusätzlich stieg die Anzahl an Menschen, die sich täglich um ausreichende Nahrung sorgen, von 320 Millionen auf dramatische 2,4 Milliarden an. Und auch noch das: Seit dem Sommer 2020 steigen die Preise für Agrarrohstoffen stark an. Der Preisindex der FAO, der Food and Agriculture Organization der UN, nähert sich dem Höhepunkt des letzten Peaks im Jahr 2011. Damals war das der Anlass für soziale Unruhen im Nahen Osten.
Ein Welternährungsgipfel kommt da zur rechten Zeit, könnte man meinen. Doch auf dem Food System Summit des UN-Generalsekretärs António Guterres, der am 23. September in New York stattfand, wurden Ideen präsentiert, die keine Linderung des Hungers in der Welt versprechen. Konzerne, Banken und philanthropische Organisationen, sie alle waren geladen, präsentierten Konzepte für eine angebliche globale Agrar- und Ernährungswende, die tatsächlich ein business as usual zur Folge hat: Produktivitätssteigerungen und Investitionsmöglichkeiten durch digitale Innovationen, Biotechnologien und marktbasierte Ansätze wie Carbon Farming sollen den Hunger und gleichzeitig den Klimawandel bekämpfen. Aber es ist mehr als zweifelhaft, dass dieselben zerstörerischen Praktiken, die die kaputten Ernährungs- und Ökosysteme von heute mitgeschaffen haben, jetzt der globalen Ernährungs- und Klimakrise entgegenwirken können.
Private über öffentliche Interessen gestellt
Immerhin kann der beträchtliche Beitrag der industriellen Intensivlandwirtschaft zum Klimawandel nicht mehr verleugnet werden. Seit der Grünen Revolution der 1960er Jahre hat der verstärkte Einsatz von fossilen Brennstoffen, chemischem Dünger, von Herbiziden und kommerziellem Saatgut in der Landwirtschaft die globale Umweltzerstörung und Ernährungsunsicherheit vorangetrieben.
Dabei produziert die globale Landwirtschaft bereits genügend Nahrung, um weitaus mehr als die derzeit rund 7,9 Milliarden Menschen auf der Welt zu ernähren. Es sind strukturelle Ursachen von Armut und Ungerechtigkeit, die die Menschen in der Hungerspirale gefangen halten. Dazu gehören der mangelnde Zugang zu Land, Menschenrechten und Wissen, prekäre Arbeitsbedingungen, Kriege und Konflikte, aber auch der Umgang mit der Covid-19-Pandemie und deren Folgen.
Doch weder die industrielle Intensivlandwirtschaft und die damit verbundene wachsende Konzernmacht noch das unfaire Handelssystem wurden auf dem Gipfel als Hauptursachen der globalen Ernährungsmisere thematisiert. Im Gegenteil, der Gipfel hat privatwirtschaftliche über öffentliche Interessen gestellt. Das starke Machtgefälle zwischen den unterschiedlichen Akteuren im industriellen Ernährungssystem wurde ignoriert.
Die Beteiligung von Konzernen und Investor*innen im Rahmen von Multi-Stakeholder-Strukturen birgt die Gefahr eines Demokratieabbaus in der UN.
Trotz seiner augenscheinlichen Inklusivität – alle Interessierten konnten ihre Ideen online einreichen und den Livestream mitverfolgen – war der Welternährungsgipfel weder transparent noch partizipativ. Profitorientierte Interessen von Konzernen und Finanzwelt dominierten den Gipfel von Anfang an; ihre Vertreter*innen saßen dank eines umstrittenen Multi-Stakeholder-Modells mit am Diskussionstisch. Die Begründung lautete, es würden auch jene benötigt, die Teil des Problems sind und unsere »kostspielige« Agrar- und Ernährungswende finanzieren können!
Obwohl die internationale und nationale Zivilgesellschaft die Gipfelprozesse scharf kritisiert hatte, wurde das UN-Welternährungskomitee (CFS), ein partizipatives und gut funktionierendes UN-Gremium, erst in die Gipfelvorbereitungen miteinbezogen, als Struktur und Agenda bereits feststanden. Das für Ernährungsfragen in der UN zuständige CFS ermöglicht durch die darin selbstorganisierte Zivilgesellschaft, der CSM, Betroffenengruppen ein wichtiges Mitspracherecht über die Inhalte zu Ernährungsproblemen und zum Menschenrecht auf Nahrung. Daher hatten Ende Juli zahlreiche soziale Bewegungen und zivilgesellschaftliche Organisationen auf der ganzen Welt im Rahmen einer Gegenveranstaltung zum Boykott des UN-Food System Summits aufgerufen. Sie fordern eine grundlegende Transformation der bestehenden Ernährungssysteme nach agrarökologischen und menschenrechtsbasierten Prinzipien.
Der UN-Generalsekretär in Davos
Bezeichnend ist auch die Vorgeschichte des Gipfels; sie geht zurück auf eine Partnerschaft zwischen dem UN-Generalsekretär und dem Weltwirtschaftsforum in Davos vor zwei Jahren, wo sich die größten Konzerne der Welt tummeln. Aus diesem Grund ist der diesjährige UN-Ernährungsgipfel der erste, der ohne Mandat der UN-Vollversammlung stattfand und daher keine normative Verbindlichkeit besitzt. Seine Ergebnisse können somit lediglich als Empfehlungen des UN-Generalsekretärs bewertet werden.
Die Bemühungen der Gipfel-Organisator*innen scheinen derweil zu fruchten: In der Abschlusserklärung des UN-Generalsekretärs wurde die Erweiterung der problematischen Multi-Stakeholder-Struktur in einem Folgeprozess verkündet. Eine neue Koordinierungsstelle (Hub) soll für die Umsetzung der Gipfelergebnisse bei den in Rom ansässigen UN-Organisatione, z.B. der FAO, sorgen und die Multi-Stakeholder-Aktionsbündnisse weiterführen. Diese Bündnisse sollen Regierungen in der Umsetzung der Gipfelagenda zu unterschiedlichen, teils widersprüchlichen Themen beraten. Aber weder die Zusammensetzung noch die Wahl der Gipfelthemen entstammen einem transparenten und demokratischen Prozess.
Was bedeutet diese Entwicklung für die Ernährungspolitik? Der weitere Ausbau der Multi-Stakeholder-Struktur in der UN schwächt die Rolle der Staaten in ihrer Verantwortung als Pflichtenträger. Die Frage der Rechenschaft bleibt offen. Zudem birgt die Beteiligung von Konzernen und Investoren im Rahmen von Multi-Stakeholder-Strukturen die Gefahr eines weiteren Demokratieabbaus in der UN. Inklusive UN-Gremien wie der CFS werden hingegen geschwächt.
Regierungen müssen sich für den Erhalt und die Stärkung einer inklusiven Steuerung der UN-Ernährungs- und Nahrungsmittelpolitik aussprechen. Sie müssen sich endlich für radikale Ansätze einsetzen – wie das Verbot des Einsatzes von Herbiziden und ein Ende des Saatgutmonopols. Außerdem muss der wachsenden Konzernmacht durch verbindliche Regeln zum Schutz von Klima, Umwelt und Menschenrechten Einhalt geboten werden. Ansonsten steuern wir wohl mit voller Kraft in eine aussichtslose Zukunft.