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Putins Rechnung geht auf

Mittelfristig wird die Ukraine den Krieg gegen Russland verlieren – die Frage ist nur, wie hoch der Preis ausfällt

Von Tomasz Konicz

Ein riesiges Loch in einem hohen Wohnhaus, das außerdem Brandspuren zeigt. Auf dem Boden liegen Trümmer
In der Ukraine wächst die Kriegsmüdigkeit, die Unterstützung des Westens beginnt zu wackeln. Geht der Krieg jetzt im Sinne Putins zuende? Foto: Алесь Усцінаў / Pexels

Wie schlecht steht es um die Ukraine? Nun, das Weiße Haus sah sich Ende November genötigt, Berichte zu dementieren, laut denen die Vereinigten Staaten und Deutschland Kiew zur Aufnahme von Friedensgesprächen mit Russland bewegen wollten. Verhandlungen würden einen »Kapitulationsmonolog« gleichkommen, es gebe keine Anzeichen für eine »substanzielle« Verhandlungsbereitschaft des Kremls, erklärte ein Sprecher des US-Außenministeriums. Zuvor berichteten westliche Medien, dass europäische und US-Diplomat*innen in Kiew vorstellig geworden seien, um Bedingungen für Friedensverhandlungen zu eruieren. Hierbei seien auch »grobe Skizzen« all dessen entworfen worden, »was die Ukraine aufgeben müsste, um einen solchen Deal zu erreichen«, berichtete etwa NBC Anfang November.

Tatsächlich ist der optimale Zeitpunkt, um mit dem Putin-Regime in Verhandlungen zu treten, längst verpasst worden. Im November 2022, nach der Rückeroberung der südukrainischen Stadt Cherson und dem demütigenden Rückzug der russischen Truppen aus der Region westlich des Dnjepr, bestanden zumindest potenziell optimale Bedingungen für einen »Deal« mit den demoralisierten Invasoren. Inzwischen, nach diesem letzten großen Sieg der Ukraine, hat sich die Kriegslage fundamental zugunsten Russlands verändert. Seit Ende 2022 hat die Ukraine keine nennenswerten Erfolge auf dem Schlachtfeld vorzuweisen, während Russland mit dem Fall der ostukrainischen Stadt Bachmut im März 2023 einen ersten symbolträchtigen Sieg erringen konnte. Die diesjährige ukrainische Sommeroffensive kommt einem Desaster gleich, bei dem ein großer Teil der knappen militärischen Ressourcen der Ukraine aufgezehrt wurde, während Russland seine materielle Überlegenheit ausbauen konnte.

Schützengräben, Bunker, Drohnen

Das auf Verschleiß von Mensch und Material abzielende Vorgehen Russlands, das bei der Einnahme Bachmuts erfolgreich etabliert wurde, spielt sich nun im Zeitraffer in der Kleinstadt Awdijiwka ab, einem Vorort der prorussischen Metropole Donezk, der von ukrainischen Truppen seit 2014 zu einer regelrechten Festung ausgebaut wurde – die bald fallen wird. Die Stadt Kupjansk im nordöstlichen Oblast Charkow ist ebenfalls bedroht. Es ist ein stumpfsinniger Abnutzungskrieg, bei dem der Kreml seine größeren Ressourcen ausspielt und die Ukraine ausbluten lässt. Jedes Mal, wenn entweder russische oder ukrainische Truppen versuchen, mittels Truppen- und Panzerkonzentration vorzustoßen, werden sie durch präzise, drohnengesteuerte Artillerieangriffe zusammengeschossen. Die westlichen Jubelberichte über hohe russische Verluste bei Offensivbemühungen blenden zumeist aus, dass die Ukraine ähnlich hohe Verluste hat – und dass Kiew sich dies weit weniger leisten kann als der Kreml.

In diesem größten europäischen Gemetzel seit dem Zweiten Weltkrieg ist Quantität entscheidend, nicht Qualität. Und Russland verfügt über mehr Artillerie, mehr Drohnen, mehr Flugzeuge, mehr Menschenmaterial.

Die strategische Lage erinnert an den Ersten Weltkrieg, als die Unfähigkeit aller Konfliktparteien zum Frontdurchbruch in monatelangen »Materialschlachten« mündete. In den Kämpfen in der Ukraine mag es – trotz der monströsen sechsstelligen Opferzahl, die der russische Angriffskrieg bereits forderte – nicht so große Verluste wie bei Verdun und an der Somme geben, aber für die Betroffenen, die in den Bunkern und Schützengräben im Kriegsgebiet verheizt werden, ist es die reinste Hölle. Es gibt keinen Rückzugsort, da die allgegenwärtige Drohnenflotte sich darauf spezialisiert hat, die verschanzten Wehrpflichtigen in ihren Stellungen anzugreifen. »Hate drops«, also Hassabwürfe, lautet der Spitzname, den russische Militärblogger dieser Zermürbungstaktik verpasst haben.

In diesem größten europäischen Gemetzel nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ist Quantität entscheidend, nicht Qualität. Die Idee, mit überlegener westlicher Waffentechnik die russische Armee aus der Ostukraine zu drängen, hat sich nach dem Fiasko der ukrainischen Sommeroffensive erledigt. Russland verfügt über mehr Artillerie, mehr Drohnen, mehr Panzer, mehr Flugzeuge, mehr Menschenmaterial. Anfang Dezember verkündete Putin eine weitere Aufstockung der russischen Streitkräfte um mehrere Hunderttausend Soldaten. Der Kreml konnte zudem mehrere Waffen-Deals mit Nordkorea und Iran abschließen, die die massenhafte Versorgung mit Drohnen und Artilleriegranaten sicherstellten. Nordkorea lieferte dem Kreml Geheimdienstangaben zufolge eine Million Artilleriegeschosse, während der Westen bislang nur ein Drittel der versprochenen Million liefern konnte. Russlands Waffenindustrie ist hochgefahren worden und produziert inzwischen auf Hochtouren, es herrscht Arbeitskräftemangel, wobei russische Energie- und Rohstoffexporte diese Kriegswirtschaft finanzieren.

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Russische Militärinnovationen zielen zudem darauf ab, den alten sowjetischen Waffenbestand möglichst effektiv einzusetzen. Massenhaft vorhandene sowjetische Fliegerbomben werden billig zu satellitengesteuerten Gleitbomben umgebaut, die von russischen Bombern außerhalb der Reichweite westlich-ukrainischer Luftabwehr, abgeworfen werden, mit Sprengladungen von 500 Kilo bis 1,5 Tonnen. Thermobarische Raketensysteme, der Einsatz von Streumunition auf beiden Seiten, Minenwerfersysteme, die zusammengeschossenen Einheiten den Rückzug abscheiden – der scheinbare Stillstand an der Front wird mit Menschenleben erkauft, die dieser auf Abnutzung geeichten Militärmaschine vorgeworfen werden. Bis irgendwann irgendein Frontabschnitt in Auflösung übergeht und ein Kipppunkt erreicht wird, nach dessen Überschreiten es sehr schnell gehen kann.

Bröckelnde Heimatfront?

An der Heimatfront beider Kriegsparteien nimmt der Unwille zu, in diesem immer effizienter geführten Abnutzungskrieg verheizt zu werden. Im Hinterland des Aggressors, in Russland, entstand, vom Kreml geduldet, eine Bewegung von Angehörigen, die für die Rückkehr ihrer im letzten Jahr mobilisierten Söhne und Männer demonstrieren. Die hohen Verluste und der weitgehend statische Frontverlauf lassen Umfragen zufolge in Russland Kriegsmüdigkeit aufkommen, doch sind zugleich die Befürworter eines Siegfriedens immer noch in einer deutlichen Mehrheit. Russlands Bevölkerung will also Frieden – aber nur zu russischen Bedingungen.

Trotz der Teilmobilisierung im Herbst 2022 ist es dem Kreml gelungen, den Großteil der Bevölkerung von den direkten Kriegsfolgen abzukapseln. Die ukrainischen Drohnenangriffe und Vorstöße auf russisches Territorium konnten daran nichts ändern. Zudem fehlt nach dem »Flugzeugunglück« von Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin ein organisatorischer Pol, an dem sich der Unmut über den Kriegsverlauf sammeln könnte. Ohnehin bestand die einzige realistische Chance für die Ukraine, diesen Krieg nicht zu verlieren, in kriegsbedingten innenpolitischen Zerwürfnissen und/oder einem Zerfall der Machtvertikale des Kremls. Beides ist nach dem Tod Prigoschins und dem sich wandelnden Kriegsglück unwahrscheinlich geworden.

In der angegriffenen Ukraine, wo die für das kommende Jahr fälligen Wahlen kriegsbedingt ausgesetzt wurden, kann die Kriegsmüdigkeit mitunter konkret beziffert werden. Laut dem Statistischen Amt der EU sind seit Kriegsausbruch rund 650.000 Männer im wehrfähigen Alter aus der Ukraine Richtung Europa geflohen. Ukrainische Friedhöfe müssen erweitert werden, um täglich Hunderte Opfer des russischen Angriffskrieges begraben zu können. In Kiew demonstrierten Anfang Dezember Angehörige von Soldaten, die seit Beginn des Krieges kämpfen, für deren Möglichkeit zur Demobilisierung. Nach mehr als anderthalb Jahren müssten nun endlich andere an die Front, forderten sie.

In einem evidenten Narrativwechsel berichten nun auch westliche Leitmedien über die zunehmenden Zweifel an der Fortführung des Krieges in der ukrainischen Bevölkerung, die auch in diesem Winter massive russische Schläge gegen die Infrastruktur des ökonomisch weitgehend am Boden liegenden Landes erwarten muss. Während Russland sich auf einen langfristigen Krieg vorbereitet, rufen abermalige Mobilisierungswellen in der Ukraine immer größeren Widerstand hervor, da sich aufgrund der grassierenden Korruption vor allem arme Ukrainer, die über keine Beziehungen verfügen, an der Front wiederfinden. Zudem droht, gerade bei weiterer Verschlechterung der Kriegslage, womöglich irgendwann eine Machtergreifung der faschistischen ukrainischen Rechten, die im Zuge des Krieges an Einfluss im Militär- und Staatsapparat gewinnen konnte.

Wachsende Kriegsmüdigkeit im Westen

Dass die Funktionseliten des Westens inzwischen auch nicht mehr an einen Sieg der Ukraine glauben, wurde beim letzten Treffen der Nato-Außenminister*innen Ende November deutlich. Die Nato schraube ihre Ziele herunter, schon »das Halten der Front« werde als Erfolg gewertet, berichtete die FAZ. Doch solange die Ukraine nicht aufgebe, »sollte man ihr aber beistehen«, kommentierte die Zeitung. In welchem Umfang, steht allerdings in den Sternen. In den Vereinigten Staaten, dem wichtigsten Unterstützer Kiews, nimmt die rechte, republikanische Opposition im Kongress gegen weitere Militärhilfen rasch zu, so dass vor allem die langfristige Fortführung des Krieges – und der Kreml plant einen sehr langen Krieg – ungewiss ist. Europa könnte hingegen im Alleingang die Ukraine militärisch nicht über Wasser halten.

Konkret war es der Krieg in Israel und Gaza, der aufgrund der damit einhergehenden Materialknappheit die Debatte um die weitere Unterstützung der Ukraine anfachte, doch liegen dieser wachsenden Kriegsmüdigkeit auch strukturelle Faktoren zugrunde. Der Westen müsste faktisch zur Kriegswirtschaft übergehen, um genügend Material für die ukrainische Front zu liefern. Dies aber wäre ein folgenreicher Schritt, den der Westen nicht zu gehen bereit ist. Und selbst das wäre wohl nicht genug, da die Ukraine schlicht nicht genug Menschen hat, die sie in den Kampf schicken kann. Letztendlich könnte mittelfristig nur eine direkte militärische Intervention die Ukraine vor einer Niederlage bewahren, was angesichts der Gefahr eines atomaren Schlagabtauschs nicht geschehen wird.

Dabei ist es fraglich, ob Verhandlungen einen gangbaren Weg aus diesem Krieg bieten. Der imperialistische Appetit kommt bekanntlich beim Essen, die Kriegsziele Putins wandeln sich mit dem Kriegsverlauf. Russlands militärische Lage ist nun viel besser als vor einem Jahr. Folglich wird der Preis für den Frieden höher ausfallen, auch weil Russland hohe Verluste hinnehmen musste und Putin, aus innenpolitischen Gründen, unbedingt einen Sieg in der Ukraine erringen muss. Es geht dabei inzwischen nicht nur um das Territorium, das Russland annektiert hat (Die Oblaste Lugansk, Donezk, Cherson, Saporischschja), oder um etwaige weitere Gebietsansprüche (Odessa, Charkow), sondern um den Bestand und die Souveränität des ukrainischen Staates. Moskau wird keiner Westbindung der Ukraine zustimmen, bei weiteren militärischen Erfolgen gar auf einen »Regime Change« in Kiew hinarbeiten, um einen Satellitenstaat zu formen. Dass Putin den ukrainischen Staat für eine Fiktion hält, ist bekannt.

Die Ukraine findet sich somit eingekeilt zwischen einem Westen, der inzwischen vornehmlich um Schadensbegrenzung bemüht ist, und dem militärisch erstarkten russischen Imperialismus, der einen sehr hohen Preis für den Frieden fordern wird.

Tomasz Konicz

ist Autor und Journalist. Von ihm erschien zuletzt das Buch »Klimakiller Kapital. Wie ein Wirtschaftssystem unsere Lebensgrundlagen zerstört«. Mehr Texte und Spendenmöglichkeiten (Patreon) auf konicz.info.

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