Kursk und der Westen
Die Rezeption des ukrainischen Vorstoßes verrät viel darüber, wie Bevölkerungen im Krieg zu Staatsmaterial degradiert werden
Von Ewgeniy Kasakow
Seit dem 6. August findet die »Spezialoperation« auch in Russland statt. Die ukrainischen Einheiten überschritten an diesem Tag die Grenze und halten seitdem einen Brückenkopf von über 1.000 Quadratkilometern besetzt. Um die 130.000 russische Zivilist*innen sind evakuiert und damit Binnenflüchtlinge geworden, etliche gelten als verschollen, die Anzahl der Toten und Verletzten bleibt unklar.
Der militärische Nutzen der Operation wird als übersichtlich bewertet. Russland musste zwar reguläre Armeeeinheiten in das Gebiet Kursk verlegen, aber die russische Offensive im Donbass wurde dadurch weder gestoppt noch die Versorgung unterbrochen, und eine Erweiterung des Erfolges bei Kursk gilt nicht als realistische Option.
Doch das ist eigentlich nebensächlich. Wichtig für die öffentliche Debatte im Westen ist nicht so sehr das Leiden der Zivilbevölkerung oder der unmittelbare Nutzen davon, dass die ukrainische Armee 70 bewohnte Orte in einer russischen Provinz kontrolliert. Ganz andere Fragen scheinen oben auf der Tagesordnung der interessierten westlichen Öffentlichkeit zu stehen, allen voran: Inwiefern nutzt oder schadet die Aktion Putin und welche Konsequenzen kann sie für die Waffenlieferanten der Ukraine haben?
Putins Kriegsantagonist äußert sich zu seinen Zielen ganz offen: »Selenskyj will den Russen echtes Bild vom Krieg verschaffen«, war so oder ähnlich in deutschen Medien zu lesen. Im Klartext: Russische Zivilist*innen sollen das zu spüren bekommen, was die Ukrainer*innen schon lange erleiden – Verlust von Wohnraum, Freund*innen, Verwandten, Gesundheit und einige auch vom Leben.
Eine moralische Empörung darüber, dass, was in Bezug auf die ukrainische Bevölkerung als justitiables Verbrechen gilt, nun andersherum eine Art »Bildungsmaßnahme« sein soll, ist da fehl am Platze – schließlich haben die russischen Zivilist*innen sich nicht gegen Putins Krieg gewehrt und es damit quasi verdient, als Kollateralopfer der ukrainischen Verteidigung draufzugehen. Dabei soll aber auch nicht der Bogen überspannt werden, denn Russland erinnert an seine Atomwaffen. Deren Einsatz sollte zwar vermieden werden, aber für den Fall der Fälle wird auch klar gemacht – er wäre die reine Schandtat eines irrational machtbesessenen Potentaten im Kreml. Dass es das Ziel der westlichen Kriegsführung ist, Russlands militärisches Drohpotenzial zu neutralisieren und damit Russlands Anspruch auf den Weltmachtstatus vom Tisch zu fegen ist, darf in diesem Zusammenhang keine Rolle spielen. »Unser« Streben nach der Kontrolle über den Gewalteinsatz auf der Welt ist schließlich eine bloße Schutzmaßnahme.
Dass linke Kräfte in den kriegsbeteiligten Staaten aktuell machtlos dastehen, ist tragisch. Wo sie diese Logik übernehmen, ist es eine Schande.
Wichtig sei, dass das von Putins Propaganda gezeichnete Weltbild Risse bekommt. Nach fast drei Jahren Krieg sind Grenzen nicht sicher, die Gegnerin ist in der Lage zur Offensive, das Leben unsicherer denn je. Dies sollte Menschen, die bisher Putin als den »starken Mann« an der Spitze ihres Staates sahen, zum Umdenken bewegen und sie zu dem Schluss kommen lassen, dass er, der sie als Staatsmaterial in den Kampf führt, eine untaugliche Führungsfigur sei. Diese Hoffnung hat nur einen Haken, weil die Menschen in Kursk angesichts von mit Nato-Gerät bewaffneten Soldaten des Nachbarlandes genau das sehen, wovor die Propaganda sie beständig gewarnt hat. Zudem eröffnet ihr Leiden neue Topoi für ebenjene Propaganda, nämlich die, dass es gelte, »unsere« Zivilist*innen (wie schon jene in den »Volksrepubliken«) vor dem Feind zu schützen, ihr Leiden zu rächen usw. Damit gehen russische Medien bislang freilich eher sparsam um, denn die Leitlinie bleibt, den Durchbruch bei Kursk als lokales Problem darzustellen.
In der medialen Besprechung der Kursk-Offensive zeigt sich deutlich: Die Staaten betrachten nicht nur ihre Bevölkerung als Material, sondern auch der Blick auf die Zivilist*innen der Gegenseite ist geprägt von diesem Gedanken: Da ist Material des Feindes, deren Leben zählt weniger als das der eigenen Militärangehörigen; deren Loyalität ihrem Staat gegenüber macht einen harten Umgang mit ihnen unumgänglich, deren missliche Lage blamiert die feindliche Staatsführung.
Zwar fragt keine Staatsmacht der Welt die Bevölkerung vor einem Krieg nach ihrer Zustimmung. Aber wenn er losgeht, wird dem »Kollateralschaden« der Gegenseite die Schuld für das eigene Leiden in die Schuhe geschoben. Diejenigen, die meinen, die Bevölkerung Gazas soll an Hunger und Bomben als Strafe für ihren ungenügenden Abstand zur Hamas zugrunde gehen, und diejenigen, die Vergewaltigungen, Entführungen und wahlloses Morden der Menschen in Israel als Bestrafung einer mangelnden Überprüfung von kolonialen Privilegien darstellen; diejenigen, die die Verwüstung der Ukraine als »Befreiung« vom »Kiewer Regime« verzerren, und diejenigen, die darauf hoffen, dass die Zerstörung von Dörfern bei Kursk als Denkzettel für protestfaule Putinwählende tauge – sie alle besingen letztlich nationalistische Staatslogik. Dass linke Kräfte in den kriegsbeteiligten Staaten aktuell machtlos dastehen, ist tragisch. Wo sie diese Logik übernehmen, ist es eine Schande.