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Trinken unter Polizeischutz

Dublin verdient gut am Tourismus, doch die Armut der Bevölkerung bleibt und das fördert Konflikte

Von Dieter Reinisch

Der Eingang einer Kneipe, im Eingang ein Mann mit Schürze, links und rechts von ihm Bündel mit Papiermüll.
Temple Bar: Ein Sehnsuchtsort für Biertourist*innen wird immer gefährlicher, Schuld ist die ungelöste soziale Krise. Foto: Heinz Bunse/Flickr,CC BY-SA 2.0 Deed

Die irische Insel ist für viele eine Lieblingsdestination. In den Pubs um das Ausgehviertel Temple Bar tummeln sich jede Nacht tausende Tourist*innen, darunter auch viele Deutsche. Doch über den Sommer wurden in den Nebenstraßen mehrere Tourist*innen brutal überfallen und verprügelt. Was steckt hinter den Angriffen?

Mit mehr sichtbaren Beamt*innen und erweiterter Polizeibefugnis will die Regierung ein Sicherheitsgefühl wieder herstellen und den Massentourismus am Leben erhalten. Doch die Probleme liegen woanders: Soziale Krise, Perspektivlosigkeit der Jugend und Drogenkriminalität prägen seit Jahren die irische Hauptstadt.

Am 16. August wurde abermals ein Tourist angegriffen: Das 30-jährige Opfer wurde in den Abendstunden in der Talbot Street überfallen. Er musste mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus gebracht werden, die aber »nicht lebensgefährlich und nicht lebensverändernd« waren, wie die irische Polizei Gardaí bekanntgab. Die Talbot Street liegt im Herzen von Norddublin und zieht sich vom Bahnhof Connolly Station parallel zum Fluss Liffey zur O’Connell Street und dem Wahrzeichen General Post Office, wo zu Ostern 1916 die Republik ausgerufen wurde. Hier und in der kreuzenden Gardiner Street befinden sich unzählige Hotels und Bed and Breakfasts. Günstig, sauber und zentral sind sie bei Ryan-Air-Wochenendtourist*innen beliebt. Die besuchen Dublin eigentlich nur, weil sie in Temple Bar, das sich zehn Gehminuten entfernt am südlichen Flussufer befindet, so viele Pints Guinness stemmen wollen, wie sie können. Das Glas des berühmten Bieres kostet mittlerweile mancherorts 15 Euro.

Geldquellen ohne Regeln

Nur wenige Schritte von der Talbot Street entfernt ist der Verlagssitz der Independent Media, er gibt viele der großen irischen Tageszeitung heraus. Im öffentlich-rechtlichen Radiosender RTÉ erzählte im August eine langjährige Mitarbeiterin des Verlages: »Es ist mittlerweile so schlimm, dass ich Angst habe, in der Mittagspause allein zum Supermarkt zu gehen.« Mehrmals wurde sie angepöbelt, bedrängt und bedroht, als sie das Bürogebäude nach Dienstschluss verlies: »Wenn ich bis in den späteren Abend Überstunden machen muss, gehe ich nicht mehr allein hinaus und fahre nur noch mit dem Taxi. Ich habe mittlerweile hier Angst«, berichtet sie dem Sender.

In einer Seitenstraße gegenüber des Verlagssitzes liegt eine Polizeistation in der Store Street. Laut eigenen Angaben der Polizei ist sie jene mit der höchsten Kriminalitätsrate. Besonders oft werden hier Messer-, Schuss- und Drogendelikte dokumentiert.

In ihrem Einzugsgebiet ereignete sich auch der Angriff auf den Touristen am 16. August. Der Vorfall war der jüngste in einer Reihe von gewalttätigen Attacken in der Dubliner Innenstadt. Dies veranlasste die Justizministerin Helen McEntee von der konservativen Fine Gael dazu, bis zum Jahresende zusätzliche 10 Millionen Euro für Überstunden der Polizei bereitzustellen.

Mehr Polizeipräsenz soll das Sicherheitsgefühl der Tourist*innen zurückbringen. Die Überstundenzulage soll die Zeit überbücken, bis mehr Polizist*innen im nächsten Jahr eingestellt werden. Auch mit neuen Schlagstöcken und Schusswaffen werden die Beamt*innen ausgestattet.

Nachdem der US-Musiker Stephen Termini, 57, Ende Juli verprügelt wurde und mit lebensgefährlichen Verletzungen ins Koma fiel, wollte die rechte Regierung rasch zeigen, alles unter Kontrolle zu haben. Auf einer Pressekonferenz sagte McEntee: »Ich denke, unsere Stadt ist sicher, aber wir haben, wie jede andere Stadt auch, Probleme, die wir angehen müssen.« Um zu zeigen, wie sicher es sei, spazierte sie umringt von einem halben Dutzenden Polizist*innen durch die Straßen. Terminis Sohn bezeichnete den PR-Stunt als »lächerlich«. Zum Irish Examiner sagte Mike Rizzuto, 26: »Ich würde McEntee gerne selbst dort hinuntergehen sehen, ohne Polizei. Es ist dort nicht sicher.«

Am 11. August wurden gegen 22 Uhr drei Tourist*innen in Temple Bar überfallen. Alle drei mussten im Krankenhaus behandelt werden. Den drei Tourist*innen in der Temple Bar wurden ihre Mobiltelefone gestohlen. Louise O’Reilly, Parlamentsabgeordnete der republikanischen Sinn Féin (SF), beschrieb den Vorfall als »zutiefst schockierend und völlig inakzeptabel« gegenüber Extra.ie: »Dubliner, diejenigen, die diese Stadt ihr Zuhause nennen, Tourist*innen und Gardaí, alle verdienen es, in unserer Hauptstadt sicher zu sein.« O’Reilly sagte, SF habe Vorschläge zur Bekämpfung der Gewalt in Dublin dargelegt: »Ein Heftpflaster-Ansatz bei der Überwachung unserer Hauptstadt wird nicht ausreichen – wir brauchen echte Reformen«, betonte sie.

Termini erlitt schwere Kopfverletzungen als junge Männer versuchten, seine Geldtasche zu stehlen. Im Juni wurde der ukrainische Schauspieler Oleksandr Hrekov, 23, nach einem Auftritt im Abbey Theatre gewaltsam angegriffen. Die jungen Angreifer fügten ihm schwere Gesichtsverletzungen zu. Sie hatten versucht, seine Zigaretten zu stehlen, und ihn durch ein zerbrochenes Glas im Gesicht verletzt und gebissen.

Über 11.000 Obdach- und Wohnungslose gibt es laut aktuellen Zahlen in Dublin.

Sozialhilfegruppen warnen seit langem, dass die jahrzehntelange Vernachlässigung von Innenstadtbezirken zu einer »verlorenen Generation« von Kindern geführt hat, die während der Pandemie durch das soziale Netz gefallen sind und nun auf der Straße leben. Viele Mitglieder der Jugendbanden kommen aus der nördlichen Innenstadt, die historisch zu den ärmsten Gegenden Irlands zählt.

Viele Dubliner*innen aus den Außenbezirken fahren abends nicht mehr in die Innenstadt. »Dublin is a kip«, fasst es eine Anwohnerin aus dem südwestlichen Vorort Tallaght, selbst keine wohlhabende Gegend, gegenüber ak zusammen. »Kip« ist irisch-englischer Slang für einen rauen, heruntergekommenen Ort.

Die Krise wird sichtbar

Durch Immobilienspekulation können sich viele kein Dach über dem Kopf leisten. Die Eurokrise hatte der irischen Bevölkerung hart zugesetzt, bis heute ist der Wohnungsmarkt angespannt. In fast jedem Hauseingang liegen Obdachlose in nassen Schlafsäcken und suchen Schutz vor der Kälte. Über 11.000 Obdach- und Wohnungslose gibt es laut aktuellen Zahlen in Dublin. Die meisten sind unsichtbar: Familien, die in Autos auf Parkplätzen schlafen.

Den in der Innenstadt auf der Straße oder in Slum-ähnlichen Unterkünften lebenden Jugendlichen bietet Dublin keine Perspektive. Um zu überleben, ist Kleinkriminalität oft der einzige Weg. Wohlhabende Tourist*innen, die Hunderte Euro für Guinness und peinliche Paddy-Souvenirs ausgeben, sind einfache Beute im Überlebenskampf.

Patrick Gates, Koordinator des Young-People-at-Risk-Projekts, lebt seit 40 Jahren in Ballybough in der nordöstlichen Innenstadt. Es muss ein »kritisches Verständnis der Wurzeln und wie sie beseitigt werden können« geben, sagt er der Tageszeitung Irish Times. Zusätzliche Polizei sei ein »enger und eindimensionaler« Ansatz für das Problem, insbesondere wenn nicht genügend Ressourcen bereitgestellt würden um zu versuchen, »Zyklen« generationsübergreifender Benachteiligung zu durchbrechen. Laut Gates sind viele Kinder in Innenstädten von den täglichen Traumata erschöpft, kommen aus der Armut, leben bei Eltern, die Drogenprobleme haben, oder sind als Kleinkinder bereits süchtig: »Nur für 30% der Familien gibt es die Möglichkeit der Kinderbetreuung, kaum ein Kind von hier schließt die Schule ab.«

Viele Jugendliche nehmen ihre Drogenabhängigkeit von Geburt an mit. Um Schulden zu begleichen, beginnen sie irgendwann, selbst zu dealen, und werden Teil einer Drogengang. Irland ist seit den 1980er Jahren ein Umschlagsplatz für Heroin- und Kokainhandel in Westeuropa.

Im September 2015 brach in Dublin der Drogenkrieg zwischen zwei dominierenden Gangs aus. Seither fielen ihm 18 Personen zum Opfer. Nach Schätzungen sollen auf der ganzen Insel in den letzten Jahren über 60 Menschen in Auseinandersetzungen verschiedener Drogengangs ermordet worden sein. Viele der Morde wurden in der Gegend um die Talbot Street begangen.

Jedes Jahr besuchen mehr als 6 Millionen Tourist*innen die Republik, was 180.000 Arbeitsplätze schafft und der Wirtschaft 3,9 Milliarden Euro einbringt. Law and Order sollen weiterhin sicherstellen, dass sich täglich zehntausende Tourist*innen im bierseligen Temple Bar drängen, US-Amerikaner*innen ihre imaginären Wurzeln auf der Insel suchen und am St. Patricks Day grüne Hüte tragen. Die Dubliner Innenstadt verkümmert dadurch nur noch weiter zu einem potemkinschen Dorf des Massentourismus, das immer mehr Elend produziert.

Dieter Reinisch

ist Journalist und Historiker und lebt in Wien und Belfast. Er berichtet für deutsche und internationale Zeitungen über Irland, Großbritannien und Österreich.