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Treibstoff der Ideologie

Wie Antisemitismus den weißen Nationalismus in den USA befeuert

Von Eric K. Ward

An einem Septemberwochenende im Jahr 1995 trafen sich ein paar Tausend Menschen in einem Kongresszentrum in Seattle, um sich auf eine apokalyptische Konfrontation mit der Regierung vorzubereiten. Auf diesem Kongress konnte man seine Abwehrkräfte für den kommenden »politischen und ökonomischen Zusammenbruch« stärken, Dörrfleischvorräte aufstocken, Tricks zur Steuerhinterziehung lernen und in Büchern von Schriftstellern wie Eustace Mullins schmökern, dessen Werke (»The Secrets of the Federal Reserve« von 1952 oder »The Biological Jew« von 1967) zu den Klassikern der White-Supremacist-Literatur gehören.

Die sechste Preparedness-Konferenz machte in jenem Jahr Schlagzeilen, weil sie als Messe für die Milizbewegung fungierte, eine dezentrale rechtsextreme Bewegung aus bewaffneten, antistaatlichen Paramilitärs. (1) Erst kurz zuvor hatten zwei ihrer Anhänger, Timothy McVeigh und Terry Nichols, den verheerenden Bombenanschlag in Oklahoma City verübt, bei dem 169 Menschen starben. Eine Reihe von Rednern klärte die Teilnehmer_innen der Messe über die wahre Geschichte auf: Der Anschlag sei von der Regierung organisiert worden – als Vorwand, um den Bürger_innen die Schusswaffen wegzunehmen. Viele Schwarze Leute trifft man bei Versammlungen wie der Prepper-Messe nicht. Das ist nicht verwunderlich: Sie ist Teil einer rechten Gegenkultur, zu deren Säulen die Idee gehört, dass das weiße, biologisch definierte Volk die Regierung stürzen, People of Color verjagen und einen eigenen Staat aufbauen solle.

In den 1990er Jahren war ich für die Northwest Coalition Against Malicious Harassment (Nordwest Koalition gegen böswillige Belästigung) tätig, ein Netzwerk, das daran arbeitet, Hassverbrechen und Gewalt in sechs Bundesstaaten des pazifischen Nordwestens und der Mountain States Region zurückzudrängen. (2) Wir haben eine Menge Feldforschung betrieben, oft verdeckt. Das war der Grund, weshalb ich jenes Wochenende im Jahr 1995 unter Menschen verbrachte, die mich aus ihrem Ethno-Staat lieber früher als später entfernen wollten.

Als Schwarzer Mann werde ich von weißen Nationalist_innen als Untermensch angesehen, als ein gefährliches Tier. Trotz ihres haarsträubenden anti-Schwarzen Rassismus betrachteten mich dennoch Teile von ihnen als potenziellen Verbündeten gegen ihren wahren Erzfeind. Auf jener Messe fragte mich ein Mann misstrauisch, wer ich sei. Ich erzählte ihm, dass ich im Auftrag einiger »Brüder« hier sei. Wir wollten Widerstand gegen die Regierung leisten und uns weiterbilden. Ich sagte, er nehme es hoffentlich nicht persönlich, aber ich würde weißen Leuten nicht die Hand geben. Er lächelte, klar, und pflichtete mir bei: »Bruder McLamb sagt, wir müssen breite Bündnisse aufbauen.«

Gemeinsam lauschten wir also Jack McLamb, einem Polizisten im Ruhestand aus Phoenix. Er stand einer Organisation namens Police Against the New World Order vor und warb in seiner Rede für temporäre Allianzen mit »Schwarzen, Mexikanern, Orientalen« gegen den wirklichen Feind: die Regierung, die von einer internationalen Verschwörung kontrolliert werde. Er musste nicht aussprechen, wer »die Verschwörer« waren. Alle im Raum wussten es.

Kern der rechten Theorie

Von 1990 an, als ich zum ersten Mal eine Demo weißer Nationalist_innen dokumentierte, bis heute hat sich ihre Bewegung den Weg von den Rändern in die Mitte des politischen Lebens in Amerika gebahnt. Wenn ich eine Definition der Bewegung geben müsste, würde sie jedoch nicht viel anders als vor fast 30 Jahren ausfallen: Der amerikanische weiße Nationalismus ist eine revolutionäre soziale Bewegung, die sich dem Aufbau einer rein weißen Nation verpflichtet hat, und der Antisemitismus bildet seinen theoretischen Kern.

Zu erkennen, dass Antisemitismus kein Nebenschauplatz im weißen nationalistischen Denken ist, ist aus zwei Gründen wichtig. Erstens ermöglicht es uns, den Treibstoff zu identifizieren, mit dem diese Ideologie ihren Rassismus gegen Schwarze, ihre Verachtung für People of Color, ihren Frauenhass anfacht. Aus der Perspektive weißer Nationalist_innen in den USA steckt das Land seit den sozialen Umbrüchen der 1960er Jahre in einer endlosen Krise. Die Erfolge der Bürgerrechtsbewegung sind ein schreckliches Problem für die Ideologie der weißen Vorherrschaft. Denn das rassistische Jim-Crow-Regime wurde von einer Schwarz-geführten sozialen Bewegung zu Fall gebracht. (3)

Wie konnte eine »Rasse von Untermenschen« diese Machtstruktur allein dadurch aufheben, dass sie sich organisierte? Wie konnten Feministinnen und LGBTQ traditionelle Geschlechterverhältnisse aus den Angeln heben? Wie erklärt man die grenzüberschreitende Faszination des Hip Hop? Die Wahl eines Schwarzen Präsidenten?

Irgendeine mythologische Kraft muss die soziale Ordnung hinter den Kulissen manipulieren. Dieses diabolische Übel muss das Fernsehen, das Bankenwesen, die Unterhaltungsindustrie, die Bildung, ja sogar Washington D.C. kontrollieren. Es muss weiße Menschen einer Gehirnwäsche unterzogen und ihr Rassenbewusstsein gelöscht haben.

Nemesis für die weiße Ordnung

1920 brachte Henry Ford die »Protokolle der Weisen von Zion« in die Vereinigten Staaten. Er ließ eine halbe Million Kopien einer Adaption namens »Der Internationale Jude« drucken. Seither ist der Text in der US-amerikanischen Gesellschaft verbreitet. (4) Doch erst in den letzten 50 Jahren – nicht zufällig die erste Periode in der US-Geschichte, in der sich die meisten amerikanischen Jüd_innen als Weiße begreifen – ist der Antisemitismus ein integraler Bestandteil der Architektur des amerikanischen Rassismus geworden. Weil sich der moderne Antisemitismus gern Fantasien von unsichtbaren Mächten hingibt, blüht er gerade dann auf, wenn sein Objekt am wenigsten gefährdet zu sein scheint.

Dies bringt mich zum zweiten Grund, warum der Antisemitismus der weißen Nationalist_innen niemals übersehen werden darf. Ein wesentlicher Baustein im ideologischen Fundament der Bewegung ist die Idee von »den Juden« als einer eigenständigen Rasse. Die »Bibel« für Generationen weißer Nationalist_innen sind die »Turner Diaries« von William Pierce, die unter dem Pseudonym Andrew MacDonald veröffentlicht wurden. Es spielt in einer nahen Zukunft, in der Juden es geschafft haben, Schwarze und andere Unerwünschte in das Zentrum des öffentlichen Amerikas zu schleusen, und beschreibt den triumphalen Feldzug einer geheimen weißen rassistischen Organisation, die in einer revolutionären Aktion Israel und New York gleichermaßen in die Luft jagt. Sein Protagonist und Erzähler, ein Soldat in der weißen revolutionären Armee, wendet sich vehement gegen den Versuch, die »guten Juden von den bösen Juden zu unterscheiden«. »Die Juden« sind hier eine Rasse, die eine existenzielle Bedrohung für das Weißsein darstellt. (5)

Wenn Antisemitismus (oder eine andere faschistische Ideologie) am Rand eines politischen Diskurses aufscheint, ist er meist implizit längst im Zentrum angekommen. Aber in einer Form, die wir noch nicht entschlüsselt haben. Das bedeutet, dass die Annahme, dass Jüd_innen ein unanfechtbarer Teil der weißen Gemeinschaft in den USA sind, eine Illusion ist.

Hinter dem Vorhang

Ich wurde Zeit meines Lebens von strukturellem Rassismus und weißem Nationalismus terrorisiert. Weiße Nationalist_innen sind unsere Nachbarn. Selbst in einer Schwarzen Stadt wie der, in der ich aufgewachsen bin. Die Bedrohung durch diese Bewegung ist mir sehr vertraut.

Was ich indes erst verstand, als ich nach Oregon kam, war, dass Antisemitismus der Dreh- und Angelpunkt ihres Glaubens ist. Ich verstand, dass Jüd_innen in ihrer ideologischen Matrix – trotz und wegen des Umstands, dass sie in der Regel als Weiße »gelesen« werden – als nicht assimilierbare, feindliche Rasse gelten, die ausgerottet werden muss. Antisemitismus ist ein Aspekt und eine sehr mächtige Version von Rassismus und so zentral für weiße Vorherrschaftsideologien, dass auch wir Schwarzen nicht gewinnen können, wenn wir ihn nicht bekämpfen.

Long Beach, Kalifornien, wurde entlang einer innerstädtischen Linie gegründet, die von der lokalen Bevölkerung Orange Curtain genannt wird. Er bezeichnet die Grenze zwischen jenen Stadtteilen, die von Arbeiterklasse und Einwanderung geprägt sind, und den weißen konservativen Vororten von Orange County. Ich zog mit meiner Mutter von L.A. nach Long Beach, als ich in der sechsten Klasse war. Die Bürgerrechtsbewegung und andere soziale Bewegungen der 1960er und frühen 1970er Jahre waren bereits vom Staat zerschlagen worden oder hatten sich selbst zerstört. Weißer Nationalismus hingegen war schon Teil der Szenerie.

Ich fuhr in Long Beach mit dem Schulbus durch die Mittelklassevororte und die noch schickeren Stadtteile. Hier kurbelten Weiße ihre Autofenster herunter, um uns als »Affen« zu beschimpfen oder um uns zu sagen, wir sollten zurück »nach Afrika« gehen. In der Schule kratzten weiße Kids SWP in ihre Schreibtische: Supreme White Power.

Die L.A.-Punk-Szene der späten 1970er Jahre verschaffte mir einen konstanten Kontakt mit den Prototypen weißer nationalistischer Jugendlicher. Die Szene war utopistisch und dystopistisch, aufregend und gewalttätig, sie gab mir Freunde fürs Leben – Schwarze, Weiße und Filipinos, geboren in den USA oder ohne Aufenthaltsdokumente. Sie zog die genialsten Köpfe genauso an wie künftige Soziopath_innen. Es gab rassistische und antirassistische Skinheads, Gangs, immer Chaos bei Konzerten. Jemand, der ein Armband mit einem Hakenkreuz trug, konnte ein Neonazi sein oder jemand, der einfach nur Scheiße baute. Wir hatten nicht vor, besonders alt zu werden (manche wurden es auch nicht), und wir hatten Spaß – bis der Krieg gegen die Drogen verschärft wurde und wir wussten, es war auch ein Krieg gegen uns.

Ich war 21 Jahre alt, arbeitete in miesen Jobs und spielte in einer Band namens Sloppy 2nds, als mich Freunde fragten, ob ich mit ihnen nach Oregon komme, um dort zu studieren. Da alles, was ich mir nördlich von San Francisco und südlich von Seattle vorstellen konnte, endlose Baumbestände waren, lehnte ich dankend ab. Aber in einer meiner nächsten Schichten an der Tankstelle lief der Specials-Song »Do Nothing«. »Nothing ever change, oh no/Nothing ever change« – und ich wusste, wenn ich Kalifornien nicht bald verlassen würde, würde ich sterben. Also zog ich mit einer gemischten Gruppe von L.A.-Punks in die College-Stadt Eugene in Oregon. Wir schnappten uns ein Haus, das wir Camp Eisberg nannten, weil wir niemals die Heizung aufdrehten. Sloppy 2nds löste sich auf, und als die Band später ohne mich wieder zusammenfand, wurde sie zu Sublime, eine der berühmtesten Long Beach Bands aller Zeiten.

Weiße Harmonien

Oregon war für weiße Liberale lange eine Art sicherer Hafen. Portland in Oregon hat San Francisco inzwischen als Inbegriff des alternativen Westküstenlebens und als Wahlheimat weißer Jugendlicher weitestgehend abgelöst. Die liberale weiße Idee wird hier mehr und mehr zu einer libertären Idee eines Ortes, der »frei« von People of Color die Möglichkeit sozialer Harmonie birgt. Aber Oregons Weißsein – und im besonderen sein Nicht-Schwarzsein – beruht auf einem bewussten, gewaltförmigen Ausschluss. Begründet von weißen Rassisten vor dem Bürgerkrieg, hatte sich in den 1920er Jahren im Staat Oregon die größte Vereinigung des Klu Klux Klan westlich des Mississippi gefunden. Schwarzen war es bis 1926 nicht erlaubt, sich in Oregon anzusiedeln.

Besonders in den Mountain States haben Neonazis die territorialen Ausmaße ihres zukünftigen weißen Staates sehr klar umrissen. Selbsternannte »Arier« aus dem ganzen Land haben begonnen, die Region zu kolonisieren. »Wir sind bereit«, erklärte Robert Miles, Gründer von Aryan Nation, »die neue Nation zu errichten, selbst wenn wir uns noch in der erdrückenden Umarmung der ZOG befinden.« Im Jargon weißer Nationalist_innen werden die USA vom »Zionist Occupied Government« regiert, der »Zionistisch Okkupierten Regierung«. Im Nordwesten hat der bewaffnete Arm weißer Nationalist_innen, berüchtigt für seine Auseinandersetzungen mit dem FBI in Ruby Ridge, Idaho und Waco, Texas, dem Staat so laut den Krieg erklärt, dass es eigentlich nicht zu überhören war. (6)

Ich kam 1986 im liberalen Eugene an, wanderte von Jobangebot zu Jobangebot, und trotz meines Lebenslaufs, trotz meines Lächelns, trotz meines Charmes stellte mich niemand ein. Ich hatte Oregon noch nicht verstanden, ich dachte, es läge an mir. Es dauerte eine Weile, bis mir klar wurde, dass die Menschen, die das urbane Leben in meiner Heimatstadt zertrampelt hatten, schon vor mir angekommen waren. Das Gesetz Proposition 13 hatte Oregon in ein Laboratorium für die Revolution von Ronald Reagan verwandelte. Steuern und Sozialleistungen waren beschnitten worden, Armut und Drogenkriminalität angestiegen, und dasselbe weiße Volk, das die kalifornischen Städte mit ihrer Flucht in die Vorstädte entkernt hatte, floh nun die Küste aufwärts.

Die zunehmenden Zusammenstöße zwischen rassistischen und antirassistischen Skinheads in der Punkszene, die bereits das Leben in Long Beach hatten gefährlich werden lassen, waren auch zu einem festen Bestandteil des Lebens in Oregon geworden. Ein Teil des Staatsgründungsprojekts der weißen Rassist_innen im Nord-West-Pazifik bestand darin, ihre eigene Gerichtsbarkeit, ihre eigene Religion und ihre eigenen Paramilitärs einzusetzen. Sie attackierten und töteten Polizist_innen, aber die Behörden zeigten sich feige und auf dem rechten Auge blind. Als Neonazi-Punk-Gangs begannen, Menschen of Color und andere in Portland zu terrorisieren, waren es nur die angegriffenen Communities, die sich wehrten und sie von den Straßen prügelten.

Ich begann, gegen weißen Nationalismus zu kämpfen, weil Neonazis meine Welt, meine Szene, meine Freunde und meine Musik angriffen. Die großartige Postpunk-Band Fugazi hatte auf ihrer USA-Tour mit Nazis im Publikum zu kämpfen, ein Konzert in Eugene wurde abgesagt, weil das Gerücht umging, dass es von Skinheads gestört werden sollte. Zu dieser Zeit war ich Student und Aktivist, sogar stellvertretender Vorsitzender der Gewerkschaft Schwarzer Studierender und von Studierende gegen Apartheid an der Universität von Oregon.

Ich ging für ein Semester nach Frankreich. Dann wurde der 28-jährige äthiopische Student Mulugeta Seraw von weißen Rassisten auf einer Straße in Portland totgeschlagen. Ich kam zurück in eine zutiefst verstörte und trauernde Community. Wir gründeten ein Zine (»The Race Mixer«) und begannen, von den Aktivitäten der Neonazigruppen im Nordwesten zu berichten.

Antisemitische Versorgungslinien

Wenn Leute mich skeptisch fragen, worin genau nun der Antisemitismus der weißen Nationalist_innen besteht, fühlt es sich manchmal an wie der Versuch, auf einen riesigen Elefanten in einem kleinen Raum zu zeigen.

Weißer Nationalismus ist eine kulturfeindliche soziale Bewegung. In ihr gibt es keine einheitliche Position zur »jüdischen Frage«. Aber wie ein roter Faden zieht sich der Antisemitismus durch ihre Ideologieproduktion, von den »Turner Diaries« über David Dukes aufpolierten Ku Klux Klan, der in den 1970er Jahren vom Anti-Katholizismus abrückte, um sich den »Jüdischen Mächten« zu widmen, bis hin zur Neonazigruppe The Order, die, inspiriert von den »Turner Diaries«, Mitte der 1980er Jahre Überfälle und Bombenanschläge auf Synagogen in Washington verübte und den Moderator einer jüdischen Radiosendung in Denver ermordete. Er zieht sich von den evangelikalen weißen Nationalisten wie Pat Robertson hin zu aktuellen Alt-Right-Stars wie Richard Spencer.

In den Dokumentationen und Recherchen regionaler Gruppen wie Communities Against Hate, Coalition for Human Dignity, Montana Human Rights Network und vieler anderer zu weißem Nationalismus werden die rechten Theorien, Strategien und Pläne seit Jahrzehnten beschrieben.

In den vielen Jahren des Referierens über weißen Nationalismus im amerikanischen Nordwesten, später im Mittleren Westen und im Süden, erlebte ich nach und nach, dass mein Publikum, egal ob es weiß war oder of Color, ob es in Synagogen oder Kirchen, in Universitäten oder bei Polizeitrainings saß, in der Regel in einem ähnlichen Verhältnis zum weißen Nationalismus stand wie ich selbst. Es kannte das Ausmaß der Bewegung und war auch nicht geschockt, wenn es um ihre zutiefst antisemitische Prägung ging. Einigem Widerstand begegne ich allerdings, seit ich vor sieben Jahren in den Nordosten gezogen bin und Antisemitismus gegenüber den etabliertesten antirassistischen Persönlichkeiten, Organisationen, Koalitionen und Stiftungen im Washington State thematisierte. Hier ist ein gutmeinendes, aber äußerst kontraproduktives Diskursdickicht herangewachsen, das darauf beharrt, das »Juden« – vor allem aschkenasischer Herkunft – unbestreitbar weiß seien. Anders gesagt: Wenn ich gefragt werde »Wo ist der Antisemitismus?«, lautet die Frage eigentlich: »Warum sollten wir über Antisemitismus sprechen?«

Ich kann diese Frage nur immer wieder so beantworten, wie ich es bereits getan habe: Antisemitismus befeuert den weißen Nationalismus. Antisemitismus zu bekämpfen heißt, diese Versorgungslinie abzuschneiden – zum Wohl aller benachteiligten Gruppen, die den Angriffen der Trump-Regierung und jener Bewegung, die ihm an die Macht geholfen hat, ausgesetzt sind. Wer es ablehnt, sich mit rechten Ideologien und Herrschaftstheorien zu beschäftigen, bestärkt diese. Aktuellen sozialen Bewegungen ist das eigentlich sehr klar: Antirassismus abzulehnen ist eine rassistische Handlung, Feminismus abzulehnen eine sexistische Handlung. Genauso ist es antisemitisch, Protest und Widerstand gegen Antisemitismus abzulehnen. Mehr, sollte man meinen, muss man dazu nicht sagen. Ich fürchte aber, es muss noch viel mehr dazu gesagt werden. Auf die Frage, warum wir über Antisemitismus reden sollten, gebe ich also zur Antwort: Was fürchten wir dabei herauszufinden? Welche Konflikte werden dabei offengelegt? Und wenn wir feststellen, dass das weiße Privileg wirklich ein Privileg ist – was würde es für jüdische Antirassist_innen bedeuten, sich von der Fantasie zu verabschieden, dass sie es wirklich besaßen?

Den Feind studieren

Lange war es so, dass, wenn Linke eine schwere und scheinbar unerklärliche Niederlage erlitten, mein Telefon öfter klingelte. Seit der weiße Nationalismus in den USA an die Macht gelangt ist, klingelt es pausenlos. Die öffentlichen und privaten Diskussionen, die ich in den vergangenen Monaten geführt habe, verweisen auf ein Bedürfnis, Antisemitismus innerhalb und außerhalb der jüdischen Community zu verstehen, wie ich es so noch nicht erlebt habe. Ich vermute, dass sich viele US-Jüdinnen und -Juden, die sich an sich als weiß betrachten, dies weniger tun, nachdem in den letzten Monaten der Gerade-noch-Kandidat-nun-Präsident seine Billigung für David Duke, den notorischsten Verfechter weißer Vorherrschaft, nur noch schwer verleugnen konnte. In der gleichen Zeit wurden massiv jüdische Friedhöfe geschändet, obwohl das FBI doch angewiesen wurde, die Überwachung von Muslim_innen zu verdoppeln und sich weniger auf die weißen Rassisten zu konzentrieren, die unterdessen jüdische Vordenker_innen und Journalist_innen massiv in sozialen Medien attackieren.

Es wird weiße Jüdinnen und Juden geben, die nun beginnen, über den provisorischen Charakter ihres weißen Privilegs nachzudenken. Denn ein Privileg ist nicht gleichbedeutend mit Macht. Ein Privileg kann widerrufen werden. So sehr ich meine jüdischen Partner_innen und Freunde verehrte, war es meine Organisierung als Schwarzer Antirassist, die mich in die jüdische Gemeinde zog. Ich entwickelte eine Analyse des Antisemitismus, weil ich die weiße Vorherrschaft zerschlagen wollte, von der ich frei sein wollte.

Der Text ist eine übersetzte, gekürzte und redaktionell bearbeitete Version seines Beitrags »Skin in the Game«, der im Juni 2017 in The Public Eye Magazine erschienen ist.

Anmerkungen:

1) Die sogenannte »Prepper-Szene«, die es inzwischen auch in Deutschland gibt, bereitet sich auf Katastrophen, das Jüngste Gericht oder Zombieapokalypsen vor – oder eben auf eine Erhebung gegen die Regierung, der einige ihrer Anhänger_innen unterstellen, den »Volkstod« organisieren zu wollen. Diese Szene ist extrem anfällig für Verschwörungstheorien. Die beiden Männer, bei denen im Sommer 2017 in Mecklenburg-Vorpommern Waffen und Todeslisten mit linken Politiker_innen gefunden wurden, waren offenbar vom Prepper-Gedankengut beeinflusst.

2) Als Mountain States werden diejenigen US-Bundesstaaten bezeichnet, durch die die Rocky Mountains laufen. Von Nord(west) nach Süd(ost): Idaho, Montana, Wyoming, Nevada, Utah, Colorado, Arizona und New Mexico.

3) Jim Crow war eine rassistische Bezeichnung für Schwarze. Ausgehend von dieser Bedeutung wurde eine Reihe von US-Gesetzen, die von 1876 bis 1964 die Rassentrennung festschrieben, als Jim-Crow-Gesetze bezeichnet.

4) Die »Protokolle« sind ein zuerst im Jahre 1903 von der zaristischen Geheimpolizei in Russland in Umlauf gebrachte Fälschung von einem angeblichen Protokoll einer Sitzung einer »internationalen jüdischen Verschwörung«.

5) Die »Turner Diaries« gelten weltweit als ein Standardwerk der rassistischen White-Supremacy-Bewegung. Die Urheber des Bombenanschlags in Oklahoma City 1995 sollen davon zu ihrer Tat politisch motiviert worden sein. Der Roman verbreitete sich schnell in der weltweiten Neonaziszene; als erstes großes Netzwerk berief sich Blood and Honour darauf. Der Roman ist in Deutschland seit April 2006 durch die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien indiziert.

6) Im Jahr 1992 kam es in Ruby Ridge auf dem Grundstück der Familie Weaver zu einer Schießerei zwischen bewaffneten Mitgliedern der Familie und Beamten der Bundespolizei, am Ende mit mehreren Toten. Über 18 Monate hatten sich die Weavers, die der Aryan Nation und der Aryan Church nahestanden, zuvor dort verschanzt, um ein Betreten des Anwesens von Beamt_innen zu verhindern. In Waco, Texas stürmten im April 1993 Bundespolizist_innen nach einer 51 Tage dauernden Belagerung das Mount Carmel Center der schwerbewaffneten Sekte um David Koresh. Diese setzte das Gebäude selbst in Brand. Es kam zu Explosionen und Schüssen, bei denen 76 Anhänger_innen der Sekte starben.