China oder Nichtchina?
In der Taiwanfrage begegnen sich Geschichte und Geopolitik – das macht Antworten schwierig
Von Hauke Neddermann
Taiwan ist ein geopolitisches Kippbild: Was man erkennt, wenn man es betrachtet, ist eine Frage des Blickwinkels. Die Mehrdeutigkeit zeigt sich, wann immer die Weltlage in Bewegung gerät. So denken Beobachter*innen seit dem russischen Angriff auf die Ukraine darüber nach, wie sich die Ereignisse in Osteuropa auf den Taiwankonflikt übertragen lassen: Die einen sehen, wie ein Riesenreich seinen kleineren Nachbarn, dem es die Daseinsberechtigung als Staat abspricht, zu schlucken droht – die Volksrepublik (VR) China entspricht in diesem Bild Russland, Taiwan der Ukraine.
Andere sehen, wie eine Großmacht unter Bruch des Völkerrechts eine Separatistenregion instrumentalisiert, um eine angebliche Schutzverantwortung herbeizureden und so einen von langer Hand vorbereiteten Waffengang zu legitimieren – in dieser Deutung stellen sich die USA als Russland dar, China als Ukraine, Taiwan als Donbass-Republik. Für beide Betrachtungsweisen gibt es Argumente, entscheidend ist die Perspektive.
Zwei Geschichten
Wenn es nach Peking geht, ist Taiwan ein unveräußerlicher Teil Chinas, eine Provinz der Volksrepublik, die infolge des Kolonialismus, des chinesischen Bürgerkriegs (1927–49) und des Kalten Kriegs bloß vorübergehend dem chinesischen Zugriff entzogen ist. »Die Landsleute auf beiden Seiten der Taiwanstraße gehören zur chinesischen Nation«, erklärt der chinesische Staatspräsident Xi Jinping, und »obwohl das Festland und Taiwan noch nicht vereinigt sind, bilden sie eine untrennbare Einheit.« Erst die Eingliederung des Inselterritoriums in den chinesischen Staat würde, so gesehen, dessen volle Souveränität herstellen und die Zersplitterung Chinas in Geschichte verwandeln, als letzten Schritt einer beispiellosen Auferstehung aus Ruinen, in deren Zuge Ende des 20. Jahrhunderts schon die koloniale Fremdherrschaft Großbritanniens über Hongkong und Portugals über Macao in Geschichte verwandelt worden sei.
Im 16. Jahrhundert hatten portugiesische Seefahrer die – bewohnte, also längst bekannte – Insel Taiwan »entdeckt« und Ilha Formosa (Schöne Insel) genannt. Im 17. Jahrhundert hatten die Niederlande und Spanien koloniale Enklaven auf der gut 130 Kilometer vor der Küste des chinesischen Festlandes gelegenen Insel in Besitz genommen, später kurzzeitig auch Frankreich, bevor 1897 Japan die ganze Insel für fünfzig Jahre an sich riss und in sein blutiges Expansionsprojekt integrierte.
Nach dessen totalem Scheitern fiel Taiwan am Ende des Zweiten Weltkriegs zurück an das bürgerkriegszerrissene China – und wurde vier Jahre später, als Mao Zedongs Kommunist*innen 1949 die Gründung der Volksrepublik gelang, zum letzten Zufluchtsort des besiegten Regimes des Militärs und Politikers Chiang Kai-shek. Von dort wollte Chiang, protegiert durch die US-amerikanische Schutzmacht, die die Insel an vorderster Front des Kalten Krieges zum »unsinkbaren Flugzeugträger« des Antikommunismus hochrüstete, zum konterrevolutionären Gegenschlag ausholen. Am Machtanspruch auf ganz China hielt Chiangs Exilregierung fest, selbst als Taipeh, die Hauptstadt Taiwans, 1971 die chinesische UNO-Mitgliedschaft an Peking abtreten musste.
Heute antwortet auf die geschichtsbewusste Erzählung vom »einen China«, das seiner Wiedererstehung als Ganzes harrt, eine Gegenerzählung. Auch sie lässt sich aus dem Kontinuum der Geschichte heraussprengen, auch für sie ist die lebendige Erinnerung an den Kolonialismus zentral. Doch ihr Schluss ist ein anderer: Taiwan sei »ein unabhängiges Land«, verlautbart aus dem Präsidentenpalast in Taipeh, »mit einer eigenen Identität«. Immerhin kamen die Chines*innen einst selbst als ungebetene Siedler*innen auf die von indigenen Taiwaner*innen bewohnte Insel, höchstens zwei Jahrhunderte unterstand sie festlandchinesischer Kontrolle, gerade einmal zehn Jahre davon als Provinz, und zur kommunistischen Volksrepublik gehörte Taiwan sowieso nie. Einer Sinisierung habe die Inselbevölkerung sich stets widersetzt, obwohl Chiang Kai-shek und seine zwei Millionen festlandchinesischen Gefolgsleute sie jahrzehntelang im eisernen Griff diktatorischer Terrorherrschaft hielt – das steht im Zentrum dieser anderen, »unchinesischen« Geschichte, in der China nicht die Rolle des kolonialen Opfers zukommt, sondern die des Täters. Erst seit dem Ende des Kriegsrechts und dem Beginn der Demokratisierung in den 1980er Jahren bestimmen die 23 Millionen Taiwaner*innen demnach selbst über das Schicksal Taiwans.
»Ein China«-Politik
Von Chiang Kai-sheks Postulat, als eigentliche Regierung ganz China zu repräsentieren (und nur vorübergehend nicht zu regieren), ist in dieser Gegenerzählung keine Rede mehr. Dabei waren die konkurrierenden Alleinvertretungsansprüche für Taipehs und Pekings Interaktionen mit der Welt nach 1949 bestimmend. Zwischenstaatliche Beziehungen hatten exklusiv zu sein, bilaterale Diplomatie durfte es, ähnlich wie es die Hallstein-Doktrin für das geteilte Deutschland festschrieb, allein im Entweder-Oder geben: So stellten sich die Staaten des sozialistischen Lagers in den 1950er Jahren an die Seite der VR China, die des westlichen Blocks unterhielten Beziehungen nach Taipeh. Ein Modus, mit dem auch in den 1970er Jahren nicht gebrochen wurde, als China von den USA und ihren Verbündeten umgarnt und in den Kampf gegen den sowjetischen Hauptfeind eingespannt wurde. Keine Regierung habe »das, was mit ihr geschehen sollte, je weniger verdient als Taiwan«, stellte der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger später lakonisch fest. Im Ergebnis ließ der antikommunistische Block seinen Waffenbruder im südchinesischen Meer nämlich über die Klinge springen. Von 71 Regierungen, mit denen Taipeh 1969 Beziehungen unterhalten hatte, wechselten bis 1978 fünfzig die Seiten – 1979 auch Washington.
Seit den 1980er Jahren hat Taiwan sich zu einer liberalen Demokratie entwickelt, der seit dem Bürgerkrieg herrschende Ausnahmezustand wurde aufgehoben. Damit taten sich neue Diskursräume auf. Zwar hält Taipeh bis heute an der alten Verfassung von 1947 fest – und damit auch am Ein-China-Grundsatz, der sie grundiert. Im Debattenalltag werden Zugehörigkeits- und Identitätsfragen aber kontrovers und vielstimmig diskutiert. Für eine wachsende Mehrheit ist Chiangs Alleinvertretungsanspruch längst obsolet – das gilt für das politische Spektrum insgesamt, ganz besonders aber, wenn man von Splittergruppen absieht, für die taiwanische Linke.
Ob sich die Spieler in Zukunft doch noch einmal auf strategische Gleichgewichtspunkte zurückziehen werden, ist offen.
Für Peking bleibt das Ein-China-Prinzip hingegen eiserne Doktrin: Es gebe ein einziges China, nämlich die Volksrepublik als einzigen chinesischen Staat mit einer einzigen legitimen Regierung. Nicht nur hat sich diese Linie, eben in ihrer Unbeugsamkeit, im realpolitischen Ringen um internationale Handlungs- und Gestaltungsmacht als enorm erfolgreich erwiesen. Von den 193 Mitgliedsstaaten der UNO erkennen inzwischen 180 die VR China an. Vor allem berührt die Frage den Kern des chinesischen Sozialismus, der stets auch – und phasenweise vorrangig – eine antikoloniale Stoßrichtung hatte.
Ins Zentrum ihres 1. Manifests stellten Chinas Kommunist*innen 1922 die Befreiung vom »Joch der Fremdsklaverei«. Das neue China, das die KP 1949 aufzubauen versprach, sollte ein China ohne imperialistische Unterwerfung und Ausplünderung sein. Wie zentral der Rekurs auf die vorrevolutionäre Leidensgeschichte noch heute ist, spiegelt sich im sorgsam modellierten Jargon chinesischer Selbstbeschreibungen: Nicht vom Aufstieg des Landes ist die Rede, sondern vom Wiederaufstieg. Chinas Zersplitterung ist dafür das Schlüsselkriterium. Ein schwacher Staat zerfällt und ein zerfallender Staat ist schwach, er hat regionalen Fliehkräften nichts entgegenzusetzen, franst zu seinen Rändern hin aus, bietet Einfallstore für Feinde – das gilt in China aus Erfahrung als historisches Gesetz. War nicht genau das die Mechanik der Niederlage in Hongkong und Macao? »Die Sorge, China könnte zerfallen, ist immer gegenwärtig«, so schildert Angela Merkel 2012 die Atmosphäre bei deutsch-chinesischen Regierungskonsultationen.
Drei Spieler
Hinzu kommt die Hauptrolle, die Taiwan gegenwärtig im globalen Imperium des Hightech-Kapitalismus spielt: Zum einen ist der Zugriff auf die dort ansässige Halbleiterindustrie für seine Mitspieler systemrelevant, allein auf den Marktführer TSMC entfällt rund die Hälfte der weltweiten Chipproduktion. Zum anderen sichert sich, wer die Küsten der Insel beherrscht, ungehinderten Zugang zu den meistfrequentierten See- und Handelsrouten der Welt.
Für die VR China ist die Eingliederung Taiwans, wenigstens als langfristige Perspektive, also nicht verhandelbar. Seit 2005 kodifiziert ein Antisezessionsgesetz die nationale Einheit als »gemeinsame Verpflichtung aller Chinesen, die taiwanischen Landsleute eingeschlossen«. Anders als in der Mao-Ära, als man auf beiden Seiten der Taiwanstraße mit einem Wiederaufflammen des Bürgerkriegs rechnete und es auf eine Reihe von Artilleriescharmützeln ankommen ließ, setzt Peking dabei erklärtermaßen auf friedliche Mittel: Integration von Wirtschaftsräumen und Infrastrukturen, intensivierte Kulturbeziehungen usw. Zugleich schließt der Gesetzestext die militärische Ultima Ratio nicht aus: »Wenn die Möglichkeiten für eine friedliche Wiedervereinigung ausgeschöpft sind, muss der Staat nicht-friedliche Mittel ergreifen.« So klingt eine rote Linie.
Jahrzehntelang verzichteten beide Konfliktparteien darauf, solche Grenzen zu überschreiten. Stattdessen richtete man es sich seit den 1980er Jahren im ungeliebten, aber einigermaßen stabilen Status quo ein. Deeskalation ging vor Siegfrieden: Peking fand sich zähneknirschend mit Taiwans De-facto-Staatlichkeit ab, auf deren Formalisierung Taipeh, nicht weniger zähneknirschend, verzichtete – eine Balance der Mäßigung, über die mit der Weltmacht USA ein kraftstrotzender dritter Spieler wachte. Denn Washington hatte bei der Aufnahme offizieller Beziehungen zur VR China zwar akzeptiert, dass »es nur ein China gibt und dass Taiwan ein Teil Chinas ist«, gleichzeitig aber Taiwan zugesichert, weiterhin für das Verteidigungsrecht der Insel einzustehen. Inwiefern das US-Militär im Kriegsfall selbst ins Geschehen eingreifen würde, haben US-Regierungen seitdem in strategischer Uneindeutigkeit offengelassen.
Die Eskalationsspirale der letzten Monate zeigt, dass das Arrangement ins Wanken geraten ist. Im neuen Ost-West-Antagonismus scheinen die USA es jetzt, nicht später, auf eine Entscheidungsschlacht gegen China ankommen lassen zu wollen – aus günstiger Position: Die Reihen ihrer Verbündeten sind, seit der »Westen« gegen Russland zusammengeschweißt ist, geeint wie lange nicht, während die VR China sich zwischen Pandemie und Rezession vielfach gefordert sieht. Was fehlt, ist ein Kriegsgrund.
Es sieht aus, als sollte Taiwan dafür geopfert werden. Ein probates Mittel ist Washingtons Antidiplomatie jedenfalls nur zum kriegerischen Zweck: Joe Biden spricht, US-amerikanische Interessenpolitik routiniert als Zivilisationskampf der »freien Welt« kostümierend, von einer einseitigen »Verpflichtung zur Verteidigung Taiwans«, den Blankoscheck überbringen US-amerikanische Flugzeugträger in der Taiwanstraße und hochrangige Regierungsdelegationen in Taipeh, sechs allein seit der Visite Nancy Pelosis, der Sprecherin des US-Repräsentantenhauses, im August, mit immer neuen, immer leistungsstärkeren Waffen im Gepäck. (Gleichzeitig liefert das so aufgerüstete taiwanische Militär seinerseits 800 hochmoderne Granatwerfer-Drohnen an die Ukraine.) Und während Peking mit immer schärferen Protesten auf die Zuspitzung reagiert, mit Sanktionen und Boykotten, gigantischen Militärmanövern und flammenden Kriegsdrohungen, vertieft sich die politische und kulturelle Distanz zwischen Taiwan und dem chinesischen Festland zum Abgrund.
Ob sich die Spieler in Zukunft doch noch einmal auf strategische Gleichgewichtspunkte zurückziehen werden, ist offen. Derzeit wagen sie ein riskantes Spiel mit hohem Einsatz. Am wenigsten hat dabei die taiwanische Bevölkerung zu gewinnen. Mit etwas Pech könnte am Schluss die ganze Welt als Verlierer dastehen.