Konsolidieren und kontrollieren
Wie die HTS-Miliz ihre neu erlangte Macht in Syrien festigen will: ein Blick auf die vergangenen Wochen
Von Joseph Daher

Die führende Rolle der HTS (Hayat Tahrir Al-Sham) bei der Militäroffensive, die im Dezember 2024 zum Sturz des Assad-Regimes führte, hat der Organisation und ihrem Anführer Ahmed al-Sharaa (al-Jolani) große Popularität verschafft. Sie profitieren seither von einer Art »revolutionärer« Legitimität, die sie nutzen, um ihre Herrschaft in den von der HTS beherrschten Regionen politisch und militärisch zu festigen.
Zwar hat sich die Gruppe politisch und ideologisch weiterentwickelt und ihre transnationalen dschihadistischen Ziele aufgegeben, doch bedeutet dies nicht, dass sie eine demokratische Gesellschaft unterstützt und Gleichheit und soziale Gerechtigkeit fördert, ganz im Gegenteil.
Nach dem Sturz des Regimes traf Ahmed al-Sharaa zunächst mit dem ehemaligen Premierminister Mohammed al-Dschalali zusammen, um den Machtwechsel zu koordinieren, bevor er Mohammad al-Baschir zum Leiter der Übergangsregierung ernannte. Al-Baschir hatte zuvor die »Heilsregierung« in Idlib geleitet. Er wird auf jeden Fall bis zum 1. März 2025 im Amt bleiben. Die neue Regierung setzt sich ausschließlich aus Personen zusammen, die aus den Reihen der HTS stammen oder ihr nahestehen.
Ahmed al-Sharaa hat auch neue Minister*innen, Sicherheitsbeauftragte und Gouverneure für verschiedene Regionen ernannt, die der HTS oder ihr nahestehenden bewaffneten Gruppen der SNA angehören. So wurde beispielsweise Anas Khattab (auch bekannt als Abu Ahmad Hudud) zum Leiter des Geheimdienstes ernannt. Er ist Gründungsmitglied von Dschabhat al-Nusra und war der wichtigste Sicherheitsbeauftragte der dschihadistischen Gruppe. Ab 2017 leitete er die inneren Angelegenheiten und die Sicherheitspolitik der HTS.
Das Ausland gewinnen
Auch der Aufbau der neuen syrischen Armee geht auf das Konto von Ahmed al-Sharaa und der mit ihm verbundenen Kräfte. Sie ernannten HTS-Befehlshaber zu hochrangigen Offizieren wie den neuen Verteidigungsminister und einen langjährigen Spitzenbefehlshaber der HTS, Murhaf Abu Kasra, der zum General ernannt wurde.
Bei der Neuzusammensetzung der syrischen Armee versucht die HTS-Regierung auch, ihre Kontrolle und Vorherrschaft über die zersplitterten bewaffneten Gruppen des Landes zu festigen, indem sie allen anderen Akteur*innen das Tragen von Waffen außerhalb der staatlichen Kontrolle verbietet und verordnet, und dass das syrische Verteidigungs- und Innenministerium die einzigen beiden Organisationen sind, die Waffen besitzen dürfen. Die Vereinigung aller bewaffneten Gruppen zu einer neuen syrischen Armee ist zwar nicht per se abzulehnen, aber große Teile der drusischen Gemeinschaft in Suwaida und der Kurd*innen im Nordosten sind nach wie vor dagegen, wenn nicht gewisse Garantien wie Dezentralisierung und ein wirklich demokratischer Übergangsprozess gegeben sind.
Ahmed al-Sharaa erklärte, dass die Organisation künftiger Wahlen bis zu vier Jahre und die Ausarbeitung einer neuen Verfassung bis zu drei Jahre dauern könnte.
In einem seiner jüngsten Interviews erklärte Ahmed al-Sharaa, dass die Organisation künftiger Wahlen bis zu vier Jahre und die Ausarbeitung einer neuen Verfassung bis zu drei Jahre dauern könnte. Gleichzeitig war ursprünglich für den 4. und 5. Januar 2025 eine Syrische Nationale Dialogkonferenz mit 1.200 Teilnehmer*innen geplant, die jedoch auf einen unbekannten Termin verschoben wurde. Syrische Anwält*innen haben kürzlich eine Petition gestartet, in der sie freie Gewerkschaftswahlen fordern, nachdem die neuen Behörden einen nicht gewählten Gewerkschaftsrat eingesetzt haben.
Die HTS ist bestrebt, ihre Macht zu konsolidieren und gleichzeitig einen kontrollierten Übergang zu vollziehen, indem sie versucht, Ängste im Ausland zu zerstreuen, Kontakte zu regionalen und internationalen Mächten herzustellen und als legitime Kraft anerkannt zu werden, mit der man verhandeln kann. Ein Hindernis für eine solche Normalisierung ist die Tatsache, dass die HTS von den USA, der Türkei und den UN nach wie vor als terroristische Organisation eingestuft wird, während Syrien weiterhin mit Sanktionen belegt ist. Joe Biden unterzeichnete am 23. Dezember die Verlängerung der Anwendung des Caesar-Gesetzes bis zum 31. Dezember 2029, trotz des Sturzes des Regimes. Dieser fünf Jahre zuvor vom damaligen Präsidenten Donald Trump unterzeichnete Text sieht Sanktionen gegen alle – auch Ausländer*innen – vor, die das syrische Regime beim Erwerb von Ressourcen oder Technologien unterstützen, die seine militärischen Aktivitäten stärken oder zum Wiederaufbau Syriens beitragen.
Es sind indes Anzeichen erkennbar, die für eine Änderung der Haltung der regionalen und internationalen Hauptstädte gegenüber der HTS sprechen. Die Türkei ist eindeutig die wichtigste politische und militärische Unterstützerin des neuen Syriens, während Katar eine bedeutende Rolle als wirtschaftliche Stütze spielen wird. Gleichzeitig bemüht sich al-Sharaa um den Aufbau von Beziehungen zu anderen arabischen Staaten, regionalen und internationalen Akteuren. So traf der HTS-Führer etwa in Damaskus mit einer saudischen Delegation zusammen, und eine syrische Delegation besuchte das saudische Königreich. Auch bei den westlichen Mächten ist ein Richtungswechsel zu erkennen. Die Leiterin der Abteilung Naher Osten in der amerikanischen Diplomatie, Barbara Leaf, bezeichnete nach einem Treffen mit al-Sharaa Ende Dezember 2024 diesen als »pragmatischen Mann« und kündigte an, dass Washington das Kopfgeld in Höhe von zehn Millionen Dollar, das seit 2013 auf ihn ausgesetzt war, zurückziehen werde.
Islamischer Neoliberalismus
Nach dem Sturz des Assad-Regimes steht Syrien vor vielen Herausforderungen, insbesondere was die wirtschaftliche Erholung und den Wiederaufbau des Landes betrifft. Schon jetzt werden die Kosten für den Wiederaufbau auf 250 bis 400 Milliarden Dollar geschätzt, und die Sanktionen stellen nach wie vor ein Hindernis für eine baldige Verbesserung der Lage dar. Ausländische Direktinvestitionen (ADI) waren seit 2011 meist auf Iran und Russland beschränkt. Auch die Instabilität des syrischen Pfunds (SYP) ist ein großes Problem, da sie die Attraktivität potenzieller schneller und mittelfristiger Renditen und Gewinne aus Investitionen in dem Land schmälert. Außerdem stellen sich Fragen in Bezug auf die Regionen im Nordwesten, die seit mehreren Jahren die türkische Lira verwenden, um die durch die starke Abwertung des SYP angeschlagenen Märkte zu stabilisieren. Die Wiedereinführung des syrischen Pfunds als Hauptwährung in diesen Gebieten könnte problematisch sein, wenn keine Stabilität erreicht wird.
Gleichzeitig sind Infrastrukturen und Verkehrsnetze schwer beschädigt. Die hohen Produktionskosten, der Mangel an wichtigen Rohstoffen und Energieressourcen (insbesondere Heizöl und Strom) sind weitere Probleme. Zudem leidet Syrien unter einem Mangel an qualifizierten Arbeitskräften. Der Privatsektor, der zumeist aus kleinen und mittleren Unternehmen mit begrenzten Kapazitäten besteht, muss nach mehr als 13 Jahren Krieg modernisiert und wieder aufgebaut werden. Die staatlichen Mittel sind begeschränkt, was die Investitionen in die Wirtschaft, insbesondere in die produktiven Sektoren, begrenzt.
Hinzu kommt, dass 90 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze leben, was ihre Kaufkraft massiv schwächt und sich daher negativ auf den Binnenkonsum auswirkt. Denn obwohl es in Syrien nicht an Arbeit mangelt, werden die Menschen nicht ausreichend bezahlt, um ihren täglichen Bedarf zu decken, viele Syrer*innen sind auf Geldüberweisungen angewiesen, um zu überleben. Einige Vertreter der neuen Regierung, wie Ahmed al-Sharaa selbst, kündigten vor diesem Hintergrund an, die Löhne der Arbeiter*innen um 400 Prozent auf einen Mindestlohn von 1.123.560 SYP (etwa 75 US-Dollar) anheben zu wollen. Dies ist zwar ein Schritt in die richtige Richtung, reicht aber nicht aus, um den Lebensunterhalt der Menschen angesichts der anhaltenden Krise bei den Lebenshaltungskosten zu sichern.
HTS hat keine Alternative zum neoliberalen Wirtschaftssystem, und ähnlich wie die Dynamik und die Formen des klientelistischen Kapitalismus unter dem Assad-Regime ist die Gruppe bestrebt, diese Praktiken in den Unternehmensnetzwerken (bestehend aus alten und neuen Persönlichkeiten) auszubauen. In den vergangenen Jahren hat die »Heilsregierung« in Idlib die Entwicklung des Privatsektors und enge Geschäftspartner der HTS und von al-Jolani begünstigt. In der Zwischenzeit wurden die meisten sozialen Dienste – insbesondere im Gesundheits- und Bildungswesen – von NGOs bereitgestellt.
Bassel Hamwi, der Präsident der Handelskammer von Damaskus, sagte, dass die von der HTS eingesetzte neue syrische Regierung nach dem Sturz des Regimes den Wirtschaftsführer*innen erklärt habe, dass sie ein Modell der freien Marktwirtschaft übernehmen und das Land in die Weltwirtschaft integrieren werde. Der neue, der HTS nahestehende Wirtschaftsminister bekräftigte eine neoliberale Ausrichtung wenige Tage, nachdem er gesagt hatte, dass »wir von einer sozialistischen Wirtschaft … zu einer freien Marktwirtschaft übergehen werden, die die islamischen Gesetze respektiert«. Unabhängig davon, dass es völlig abwegig ist, das frühere Regime als sozialistisch zu bezeichnen, spiegelt sich die Klassenorientierung des Ministers deutlich in der Betonung wider, dass »der private Sektor … ein effektiver Partner und Beitrag zum Aufbau der syrischen Wirtschaft sein wird«.
Arbeiter*innen, Bäuer*innen, Staatsbedienstete, Gewerkschaften und Berufsverbände wurden bei all den Skizzen einer künftigen Wirtschaft des Landes mit keinem Wort erwähnt. Letztlich wird ein neoliberales Wirtschaftssystem in Verbindung mit dem Autoritarismus der HTS wahrscheinlich zu sozioökonomischen Ungleichheiten und einer anhaltenden Verarmung der syrischen Bevölkerung führen, die schon zu den Hauptgründen für den Aufstand von 2011 gehörten.
Keine Lösung für die kurdische Frage
Gleichzeitig ist es unwahrscheinlich, dass die HTS bereit ist, die Forderungen der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) und der AANES (Autonomous Administration of North and East Syria) zu unterstützen, insbesondere was die nationalen Rechte der Kurd*innen betrifft. Schließlich sind die nordöstlichen Regionen reich an natürlichen Ressourcen, insbesondere an Erdöl und Landwirtschaft, und damit strategisch und symbolisch wichtig.
Die Türkei ist nach dem Sturz des Assad-Regimes zur wichtigsten regionalen Akteurin in Syrien geworden. Abgesehen von der Zwangsrückführung syrischer Flüchtlinge und der Nutzung künftiger wirtschaftlicher Chancen in der Wiederaufbauphase besteht das Hauptziel der Türkei darin, die kurdischen Autonomiebestrebungen zu vereiteln, die einen Präzedenzfall für die kurdische Selbstbestimmung in der Türkei schaffen würden.
Obwohl die HTS in den letzten Wochen nicht an militärischen Konfrontationen gegen die SDF teilgenommen hat, hat sich die Organisation auch nicht gegen die von der Türkei geführten Angriffe im Nordosten ausgesprochen, im Gegenteil. Murhaf Abu Kasra, ein hochrangiger Kommandeur der HTS und neu ernannter Verteidigungsminister der Übergangsregierung, erklärte: »Syrien wird nicht geteilt, und es wird keinen Föderalismus geben. So Gott will, werden all diese Gebiete unter syrischer Autorität stehen.« Auch al-Sharaa lehnt den Föderalismus ab. Einer türkischen Zeitung gegenüber erklärte er, dass Syrien in Zukunft eine strategische Beziehung zur Türkei aufbauen werde, und fügte hinzu: »Wir akzeptieren nicht, dass syrische Gebiete die Türkei oder andere Länder bedrohen und destabilisieren.«
Dies alles, obwohl SDF-Vertreter*innen Erklärungen abgegeben haben, in denen sie sich um Verhandlungen mit der HTS bemühen. Der SDF-Befehlshaber Mazlum Abdi erklärte, sie seien für eine Dezentralisierung und Selbstverwaltung des Staates, aber nicht für Föderalismus, und seien offen für eine Beteiligung an einer künftigen nationalen syrischen Armee (mit Garantien). Er sagte, die SDF seien kein verlängerter Arm der PKK und bereit, nicht-syrische Kämpfer*innen sofort nach Abschluss eines Waffenstillstands auszuweisen. Al-Sharaa erklärte um den Jahreswechsel herum, dass man mit den SDF verhandle, um die Krise im Nordosten Syriens zu lösen, und dass das syrische Verteidigungsministerium kurdische Kräfte in seine Reihen integrieren werde. Es bleibt abzuwarten, wie und unter welchen Bedingungen.
Dies ist ein Auszug des deutlich längeren und empfehlenswerten Textes »Die Bedrohungen für ein demokratisches und fortschrittliches Syrien«, der auf emanzipation.org erschienen ist (Übersetzung: Harald Etzbach). Das Original erschien am 4. Januar bei syriauntold.com.