Straßenblockaden und brennende Häuser
Die Proteste gegen die Regierung in Israel werden radikaler, während die Lage in den palästinensischen Gebieten eskaliert
Von Simon Ednom
Die blauen Absperrgitter der Polizei fliegen durch die Luft, das Trappeln der Polizeipferde ist zu hören. Kurz darauf steigen kleine Tränengaswolken zwischen den Menschen auf, die sich in Downtown Tel Aviv versammelt haben. Es ist eine schöne, wohlhabende Ecke in Israels bekannter Küstenstadt.
Seit Januar demonstrieren am Samstagabend viele Menschen gegen die geplante Justizreform der Regierung von Benjamin Netanjahu. Kern dieser Pläne ist eine Regelung, die es dem Parlament erlaubt, Entscheidungen des Obersten Gerichts mit einer einfachen Mehrheit zu kippen. Das gilt auch für Entscheidungen, die Minderheitenrechte betreffen. Daneben wird ein Vorhaben in der Reform besonders heiß diskutiert: Der Ministerpräsident soll nur noch vom Parlament abgesetzt werden können und selbst dagegen kann er ein Veto einlegen. Gegen Ministerpräsident Benjamin Netanjahu wird gerade wegen Korruption ermittelt. Die umstrittene Reform ist bereits durch die erste Lesung des Parlaments, nach der dritten Lesung und erfolgreicher Abstimmung gilt das Gesetz als verabschiedet.
Die Proteste begannen friedlich und staatstragend: Die Rechtsanwaltskammer hatte dazu aufgerufen. Schon im Januar waren es Zehntausende, die sich auf den Straßen von Tel Aviv einfanden, bis heute die Hochburg der Proteste. Getragen von einer liberalen Mittelschicht und kaum von den arabischen Israelis oder den äthiopischen Jüdinnen und Juden, gab es auch in anderen Städten wie Haifa und Jerusalem Demonstrationen. Mit Israelfahnen ziehen sie wöchentlich in Tel Aviv vom Konzerthaus der Stadt die Dizengoffstraße hoch. An ihr türmen sich die neuen Hochhäuser der expandierenden Tech-Industrie.
Mittelschicht in der Opposition
Schnell war auch die prosperierende Start-up-Szene der Stadt auf den Straßen. Sie fürchten vor allem, dass die Reform ausländische Investor*innen abschreckt. So springt die liberale Elite dem Protest bei. Der Chef der israelischen Notenbank warnte in einem Interview mit dem US-Sender CNN vor wirtschaftlichen Problemen durch die Gesetzesänderungen. Der Präsident des Landes, Izchak Herzog, hielt vor einigen Tagen eine Fernsehansprache, um vor der Spaltung des Landes zu warnen. Herzog, der mit repräsentativen Aufgaben betraut ist, appellierte an die Regierung, von dem Reformvorhaben Abstand zu nehmen.
Die Regierung, an die Herzog sich gewandt hat, hat es in sich (ak 689). Netanjahu hat eine Koalition mit den rechtesten Parteien in der Knesset gebildet. Entweder zählen sie zur religiösen Rechten oder stehen der verbotenen rechtsextremen Kach-Partei nahe wie der derzeitige Minister für öffentliche Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, der durch sein Amt auch der oberste Chef der israelischen Polizei ist, oder der rechts-religiöse Bezalel Smotrich. Er ist zwar nur Finanzminister, hat aber im Sinne einer paritätischen Besetzung Mitspracherecht im Verteidigungsministerium.
Während sich diese Regierung mit der liberalen Ober- und Mittelschicht des Landes anlegt, wird die Region immer mehr zum Pulverfass. In den palästinensischen Autonomiegebieten operieren immer noch islamistische Gruppen wie die Hamas. Im Januar kam es zu einem tödlichen Anschlag auf eine Synagoge in Ostjerusalem. Die israelische Armee antwortet mit Razzien in den Autonomiegebieten, die sowohl im Januar in Dschenin als auch im März in Nablus für viele Tote sorgten. Zwar gab es bei diesen Einsätzen Feuergefechte zwischen Bewaffneten und der Armee, gleichzeitig waren auch immer zivile Opfer aufseiten der Palästinenser*innen zu beklagen. In der New York Times und der Washington Post wurde der Ruf nach einer strafrechtlichen Untersuchung der Razzia in Nablus laut. Am 9. März schoss ein Attentäter, der der Hamas zugerechnet wird, auf ein Restaurant in Tel Aviv.
Es wird an normalen Geschäftstagen versucht, die große Stadtautobahn im Zentrum Tel Avivs zu blockieren.
Der Konflikt kehrt von den Autonomiegebieten auf israelisches Staatsgebiet zurück. Und die Zahl der Toten und Verletzten steigt wieder. Vieles deutet auf eine Eskalation hin. Auf den samstäglichen Demonstrationen war die Gewalt lange kein Thema, nur ein kleiner Block aus radikalen Linken machte die Situation in den palästinensischen Gebieten zum Thema. Ein Vorfall änderte das.
Neben dem Dorf Huwara im Westjordanland liegt die Siedlung Jitzhar, ihre Einwohner*innen gelten als besonders radikaler Teil der Siedler*innenbewegung. Immer wieder kommt es um Huwara zu Zusammenstößen zwischen israelischer Armee, Siedler*innen und Palästinenser*innen. Ende Februar starben zwei Männer aus der Siedlung durch Schüsse in Huwara. Finanzminister Smotrich, der der Siedler*innenbewegung nahe steht, forderte öffentlich, dass das Dorf »ausradiert« werden solle. Mit dem Zusatz, dass dies nur durch die Armee und nicht durch Privatleute erfolgen sollte.
»Müssen einen Bürgerkrieg verhindern«
Die Eskalation folgte auf dem Fuß. Vermummte Personen aus der naheg elegenen Siedlung fielen in das Dorf ein, zündeten Häuser sowie Autos an und griffen mit Äxten und Steinen Menschen in ihren Autos an. Die liberale Tageszeitung Haaretz recherchierte minutiös die Angriffe. Auf den veröffentlichten Videoaufnahmen sind auch Einsatzkräfte der israelischen Polizei zu sehen, die nicht eingreifen. Ein Palästinenser starb bei dem Angriff.
Am 5. März hielten Teilnehmer*innen der wöchentlichen Demonstration in Tel Aviv ein Transparent. Darauf waren die Gesichter der beiden rechten Minister Smotrich und Ben-Gvir zu sehen und der Slogan auf Hebräisch: »Heute Huwara – Morgen Israel«. Das Transparent war nicht Teil des üblichen Blocks, der sich mit der Lage in den palästinensischen Gebieten auseinandersetzt. Vielmehr scheint die Mittelschicht, die den Protest trägt, in Konfrontation mit der gewalttätigen und rechten Rhetorik der Regierung und ihrer militanten Fans zu gehen.
Aber das Kerngeschäft der Proteste bleibt die Justizreform. Und die haben in den letzten drei Wochen eine neue Dynamik bekommen. Mittlerweile beschränken sie sich nicht mehr auf den Samstagabend. Es wird an normalen Geschäftstagen versucht, die große Stadtautobahn im Zentrum Tel Avivs zu blockieren, erste Straßen werden auch im eher konservativen Jerusalem blockiert. Mittlerweile sind nicht nur die Programmierer und Start-up-Manager*innen als Berufsgruppe wahrnehmbar. Das Krankenhauspersonal einiger Kliniken in Tel Aviv hält eigene Kundgebungen ab. Studierende und Dozierende der Universität von Jerusalem protestieren gemeinsam. Reservist*innen von Polizei und Militär wollen den Dienst verweigern. Eine offene Konfrontation zwischen Regierung und Opposition scheint unausweichlich. Der ehemalige Ministerpräsident Benny Gantz richtet einen Appell an Netanjahu und sagte: »Wir müssen einen Bürgerkrieg verhindern.«