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|ak 711 | Wirtschaft & Soziales

Spekulieren bis zum Crash

Auch die aktuellen Preissprünge bei Nahrungsmitteln zeigen: Krisen sind gut fürs Geschäft

Von Eva Gelinsky

Ein Kuh schaut in die Kamera, im Hintergrund ein Baum.
Weizen teurer, Milch teurer. Diese Kuh ahnt wohl eher wenig von der komplexen Ökonomie, in die sie verwickelt ist. Foto: Pixabay/Penny

Kriege, geopolitische Spannungen und Naturkatastrophen hinterlassen ihre Spuren auch auf dem Weltagrarmarkt. Dieser ist vor allem seit Beginn der Covid-Pandemie und dem Krieg Russlands gegen die Ukraine (siehe ak 687) wieder Verwerfungen ausgesetzt, was sich in stark schwankenden Preisen (Volatilität) bei zentralen Rohstoffen wie Weizen zeigt. Während große Agrarhändler wie das US-Unternehmen Cargill enorme Profite machen und sich die Spekulationen an den Rohstoffmärkten als lohnendes Geschäft erweisen, nehmen Hunger und Unterernährung vor allem in jenen Ländern drastisch zu, die von Lebensmittelimporten abhängig sind. 

Im Unterschied zu den vergangenen Preiskrisen, bei denen der Wert des Dollars gefallen war, während die Lebensmittelpreise stiegen, hat die Kombination aus hohen Lebensmittelpreisen und einem starken Dollar die Belastung vor allem ab 2022 noch verstärkt. Das »Null-Hunger-Ziel« bis 2030, eines der zentralen UN-Nachhaltigkeitsziele, scheint unerreichbar: Laut einem aktuellen Bericht des World-Food-Programms der UN sind 343 Millionen Menschen in 74 Ländern von akutem Hunger betroffen (über 700 Millionen Menschen gelten als unterernährt). Dies entspricht einem Anstieg von zehn Prozent gegenüber dem Vorjahr und liegt nur knapp unter dem Höchststand, der während der Pandemie erreicht wurde. 

Trotz klimabedingter Ernteausfälle sind die Preisschwankungen kein Ausdruck einer »physischen« Mangellage. Ob die auf den Märkten gehandelten Güter wie Mais oder Weizen aber tatsächlich die bedürftigen Menschen erreichen, hängt allein von deren Kaufkraft ab. Auch diese Krise macht damit deutlich, dass es mit einem kapitalistisch organisierten Weltagrarmarkt nicht gelingen wird, den Hunger in der Welt zu bekämpfen. Die Forderungen zur Bekämpfung der Krise, die angesichts der aktuell komplizierten Weltlage kaum wahrgenommen wird, bleiben indes moderat: Erneut geht es vor allem um eine Regulierung der »exzessiven« Spekulation. Einmal mehr steht hierbei die Markt- und Finanzmacht der großen Rohstoffhändler im Fokus. 

Deregulierung und Finanzialisierung

Als Instrument einer »geordneten Preisermittlung« und eines Preisrisikomanagements an den Weizenterminbörsen ist das »Hedging« (Absicherung), das »kommerzielle Unternehmen« (Landwirt*innen, Mühlen, Händler*innen) seit langem betreiben, weitgehend unumstritten. 

Kontrovers diskutiert wird dagegen die Rolle der »Nicht-Kommerziellen« (Investmentbanken, Hedgefonds, Vermögensverwaltungen, Pensions- und Staatsfonds), die durch ihre Spekulationsgeschäfte für eine hohe »Liquidität« der Märkte sorgen. Diese Akteure sind weniger an »traditionellen« Warentermingeschäften interessiert; sie spekulieren vor allem mit daraus abgeleiteten Finanzprodukten (Derivaten). Sie wetten auf Preisänderungen, auf fallende wie steigende Preise, auf Preisunterschiede zwischen den Märkten und auf Indizes, die Preisänderungen abbilden. Allein die Erwartung von Preisänderungen, wodurch auch immer sie ausgelöst werden – steigende Nachfrage, schlechte Ernteprognosen, Störungen im Transportwesen, Kriege, politische Unruhen – begünstigt und erweitert ihr Geschäft. 

Die Zahl der von akutem Hunger Betroffenen liegt zurzeit nur knapp unter dem Höchststand, der während der Pandemie erreicht wurde.

Steigende Agrarpreise aufgrund höherer Nachfrage und schlechter Ernteprognosen wurden beispielsweise im Herbst 2020 zu einer beliebten Wette an den Warenterminbörsen: Bis Anfang 2021 wurde, gemessen an der Zahl der Kontrakte, die bisher größte »gemeinsame« Wette auf steigende Preise durchgeführt. Als russische Truppen im Februar 2022 in die Ukraine einmarschierten, konnten die Fonds, die zuvor schon auf steigende Kurse gesetzt hatten, weitere massive Gewinne einfahren. 

So wuchs das Volumen der Spekulation im März 2022 auf fast 57 Milliarden US-Dollar, der höchste Stand seit mehr als elf Jahren. Die Preissteigerungen und die Volatilität der Weizenterminkontrakte hatten 2022 einen Punkt erreicht, an dem auch der Markt für »kommerzielle Unternehmen« betroffen war: Die durch Spekulation aufgeblähten Future-Preise und die Preise auf den (»physischen«) Spotmärkten klafften immer weiter auseinander. Da sich die »physischen« Händler an der Preisentwicklung der Terminmärkte orientieren, kam der Handel ins Stocken. Landwirt*innen gelang es nicht, Käufer für ihren Weizen zu finden. 

Während das Verhältnis von »kommerziellen« zu »nicht-kommerziellen« Händlern vor der Jahrtausendwende bei ca. 70 zu 30 Prozent lag, hat es sich inzwischen (aufgrund weitreichender Deregulierungsmaßnahmen) umgekehrt. Damit kam es zur »Finanzialisierung« der Rohstoffmärkte. Preise, die aus Wetten auf Preisänderungen von immer komplizierter konstruierten Finanzprodukten hervorgehen, bilden seither die Orientierungsmarker für die Preisentwicklung für Produkte wie Weizen. Aktuell wird in Fachkreisen (wieder) darüber diskutiert, ob eine »exzessive Spekulation« im Spiel ist, die die Preise verzerrt. Eine ausufernde Spekulation trägt nicht nur zur Gefährdung der Ernährungssicherheit bei, sondern kann auch die (Finanz-)Märkte insgesamt destabilisieren.

Für diese Behauptungen gebe es »keine empirischen Beweise«, so lautet das seit Jahren von der Finanzwelt und ihren Ökonom*innen vorgetragene Mantra. Dagegen liegen auch zur aktuellen Krise diverse Studien (unter anderem von der niederländischen NGO SOMO und der UNCTAD) vor, die den entsprechenden Wirkungszusammenhang ausführlich zu belegen versuchen. Neben den Banken, die eine zentrale Rolle in den Lebensmittelpreiskrisen 2007/2008 und 2010/2011 gespielt haben sollen, stehen aktuell die großen Rohstoffhandelsfirmen im Fokus. 

Marktmacht der großen Vier

Die Marktmacht der vier den Handel mit Agrarrohstoffen dominierenden Unternehmen, der sogenannten ABCD (1), erstreckt sich inzwischen auch auf die Finanzmärkte. Als »kommerzielle Unternehmen« betreiben Rohstoffhändler einerseits Preisabsicherungsgeschäfte an den Warenterminbörsen, andererseits agieren sie als Finanzakteure (auch außerhalb der Börsen: over-the-counter, sog. OTC-Geschäfte) (2), wobei sie diverse Ausnahmeregelungen nutzen. 

In ihren Geschäften versuchen sie, mehrere Vorteile miteinander zu kombinieren: zum einen ihre weitreichenden Kenntnisse der Agrarrohstoffmärkte und zum anderen ihre Möglichkeiten, Agrarrohstoffe zu lagern, um Preisunterschiede auszunutzen (die Händler verfügen über beträchtliche Getreidereserven, sind aber nicht verpflichtet, deren Umfang offenzulegen). Darüber hinaus haben die ABCD Hunderte von Tochtergesellschaften gegründet, um national unterschiedliche Regulierungsauflagen (und ihre Lücken) zu nutzen (Cargill z.B. ist mit einer unabhängigen Tochtergesellschaft, dem Hedgefonds Black River Asset Management, auch als Finanzdienstleister tätig). Da (auch) der von den Rohstoffmärkten abgeleitete Handel mit Derivaten zunehmend durch »Maschinen« betrieben wird, ergeben sich für die Rohstoffhändler mit ihrem enormen Wissensvorsprung weitere Möglichkeiten, um ihre Profite zu steigern. 

Allerdings kann gerade diese Form des vollständig automatisierten, computergestützten Handels mit Wertpapieren (Hochfrequenzhandel), bei dem in einem sehr kurzen Zeitraum extrem viele Transaktionen getätigt werden können, die Volatilität an den Märkten weiter erhöhen. Da der Hochfrequenzhandel aufgrund der zugrunde liegenden Entscheidungsmodelle (Algorithmen) oftmals nicht auf unvorhergesehene externe Schocks adäquat reagieren kann, kann es zu Selbstverstärkungsprozessen insbesondere von Kursstürzen, sogenannten Flash Crashs, kommen. Deren Ursachen sind nachträglich meist schwer zu identifizieren, da durch die komplexen Interaktionen zwischen Hochfrequenzhandelsprogrammen und den anderen Marktteilnehmern das Gesamtsystem ein unerwartetes Verhalten zeigen kann. Da auch in diesem Bereich zunehmend Künstliche Intelligenz eingesetzt wird, dürften Intransparenz und Volatilität des Marktgeschehens weiter zunehmen.

Auch aufgrund anhaltender geopolitischer Spannungen und einer sich beschleunigenden Klimakrise mit ihren Ernteausfällen durch Dürren oder Überschwemmungen ist das Risiko weiterer erheblicher Preisschwankungen auf den Rohstoffmärkten hoch. Als Gegenmaßnahme wird zum einen – u. a. von der Ökonomin Isabella Weber – der Aufbau von regionalen, nationalen und globalen öffentlichen Speichern von Getreide und anderen Grundnahrungsmitteln gefordert.

Zum anderen werden – wie bereits nach den vergangenen Finanz- und Preiskrisen – diverse Instrumente zur Regulierung und Überwachung nicht nur der Finanzmärkte, sondern auch des stark konzentrierten Agrarsektors diskutiert. Ob die Regulierungsbemühungen dieses Mal dabei helfen werden, um die »exzessive Spekulation« einzudämmen, darf allerdings bezweifelt werden. Erst 2020 wurde (unter Trump) das Positionslimit, das Finanzinstitute ohne kommerzielles Interesse an einer Ware in einem Kontrakt halten dürfen, erheblich erweitert. Und im Sommer letzten Jahres hat die EU-Kommission der Fusion von Bunge und Viterra zugestimmt. Konzentration und Marktmacht der Rohstoffhändler werden damit weiter gestärkt. Nach der Krise ist also vor der Krise. Das Geschäft muss weitergehen – bis zum nächsten Crash. 

Eva Gelinsky

ist Geografin, Agraraktivistin und Redaktionsmitglied bei emanzipation. Zeitschrift für ökosozialistische Strategie.

Anmerkungen:

1) Vier Konzerne dominieren den Im- und Export von Agrarrohstoffen: Archer Daniels Midland, Bunge, Cargill und die Louis Dreyfus Company. Gemeinsam sind sie als »ABCD« bekannt. In den vergangenen Jahren hat der chinesische Getreidehändler Cofco zu ihnen aufgeschlossen.

2) In den Jahren 2012/2013 erwog das Financial Stability Board (FSB), große Rohstoffhandelshäuser entweder als Schattenbanken oder als »systemrelevante Nichtbanken-Finanzinstitute« oder beides einzustufen. Damit wären sie einer stärkeren Regulierung unterworfen worden.