Sri Lanka ohne Neuanfang
Proteste haben die Regierung Rajapaksa gestürzt, Nachfolger Wickremesinghe ist kaum besser
Von Thomas Berger
Die energischen Proteste auf der Straße brachten das Staatsoberhaupt zu Fall: Präsident Gotabaya Rajapaksa, auf den sich drei Monate die außerparlamentarische Widerstandsbewegung mit der zentralen Botschaft »Gota go home!« fokussiert hatte, trat ab. Die tiefe ökonomische Krise hatte immer mehr Menschen motiviert, auf die Demonstrationen der Bewegung zu gehen. Der Präsident flüchtete, offenbar aus Sorge vor etwaiger Strafverfolgung, ins Ausland. Der eigentliche Plan, nach Dubai zu fliehen, scheiterte. Derzeit hält er sich in Singapur auf: ein Privattrip, wie der Stadtstaat umgehend mitteilte. Die USA scheinen nicht bereit, ihm Asyl zu gewähren. Seinen zweiten US-amerikanische Pass hatte Rajapaksa im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 2019 abgeben müssen, um antreten zu dürfen.
Es war der 9. Juli, der zum entscheidenden Datum wurde: Eine Menschenmenge hatte die Polizeiabsperrungen durchbrochen und den Präsidentenpalast erstürmt. Nahezu parallel ging die private Residenz des Premierministers Ranil Wickremesinghe in Flammen auf. Keiner der beiden war zum jeweiligen Zeitpunkt in den Gebäuden. Wickremesinghe stieg mit dem nun angekündigten Rücktritt Rajapaksas, den dieser Tage später von Singapur aus formalisierte, zunächst zum Interims-Staatsoberhaupt auf. Und wurde schließlich, obwohl auch sein Abgang unvermeidlich schien, am 20. Juli von einer parlamentarischen Mehrheit zum offiziellen Staatschef gekürt. Für viele der 22 Millionen Einwohner*innen ist seine Wahl ein Schock. Denn echter Wandel bleibt damit aus. Wickremesinghe ist nicht nur Premier über sechs Legislaturperioden und dazwischen Oppositionsführer einer der dienstältesten, sondern aus Sicht vieler im Land auch »verbrauchtesten« Spitzenpolitiker. Und kaum einer steht so deutlich wie er für den neoliberalen Umbau der Gesellschaft während der letzten Jahrzehnte.
Der Sturz der Rajapaksas war eine Abdankung auf Raten.
Unmittelbar Schluss war nach seiner Vereidigung als neuer Präsident mit der zwischenzeitlichen Zurückhaltung der Sicherheitskräfte gegenüber den Protestierenden. Tagelang hatte niemand eingegriffen, als die Protestierenden Rajapaksas vormalige Residenz übernahmen. Die Bilder der einfachen Leute, die sich staunend in weiche Sofas fallen ließen, prunkvolle Gemälde bestaunten oder ausgelassen in den Pool sprangen, gingen um die Welt. Doch obwohl Sprecher*innen der Bewegung angekündigt hatten, das zentrale Protestcamp noch am Tag der neuen Präsidentenkür ohnehin räumen zu wollen, wartete Wickremesinghe die paar Stunden nicht ab, sondern setzte Polizei und Soldaten sofort in Marsch, um dies mit harter Hand vorzunehmen. Es war ein wohlkalkuliertes Zeichen, um zu zeigen, wer nun das Sagen hat: Ein Signal an die Menschen auf der Straße – aber auch an das zuletzt in Aufruhr geratene politische Establishment, also an Freund wie Feind.
Land in Familienhand
Der 73-jährige Politveteran kommt aus der rechtsbürgerlichen Vereinigten Nationalpartei (UNP), die über Jahrzehnte eine der beiden tonangebenden Kräfte war – Gegenpol zur sozialliberalen Sri Lanka Freiheitspartei (SLFP) auf der anderen Seite, die im Bündnis immer auch die meisten linken Parteien einband. Beide sind heutzutage in einen Zustand nahe der Bedeutungslosigkeit gedrängt. Für die einst so mächtige UNP war Wickremesinghe seit den Wahlen im August 2020 der einzig verbliebene Parlamentsabgeordnete, nachdem er den internen Machtkampf mit Sajith Premadasa verloren hatte. Dieser unterlag (noch auf UNP-Ticket) Rajapakasa bei der Präsidentschaftswahl 2019. Der einsame UNP-Mann hatte sich aus dem oppositionellen Lager als Premier angedient, nachdem im Mai Mahinda Rajapaksa als Regierungschef abgetreten war, um so seinem jüngeren Bruder Gotabaya Rajapaksa mehr Spielraum zu verschaffen. Gerade Premadasa war nicht bereit, unter Präsident Gotabaya Rajapaksa an einer überparteilichen Krisenregierung mitzuwirken.
Der Sturz der Rajapaksas war eine Abdankung auf Raten. Am 3. April erzwangen die noch jungen Massenproteste den Rücktritt der kompletten Regierung, darunter Basil Rajapaksa, der als umstrittener Finanzminister seinen Hut nehmen musste. Er ist der jüngere Bruder von Mahinda und Gotabaya Rajapaksa, die in den letzten zweieinhalb Jahren gewissermaßen mit vertauschten Rollen agiert hatten. Noch bis 2015 war Mahinda Rajapaksa zehn Jahre Präsident, der zweitjüngste Bruder unter ihm Verteidigungsminister. Und bis heute gilt Mahinda Rajapaksa als das Oberhaupt des Politikerclans, der mit nur knapp fünfjähriger Unterbrechung eine familiäre Machtfülle installiert hatte, die weltweit ziemlich beispiellos ist. Auch der älteste Bruder Chamal Rajapaksa sowie dessen und die Söhne seines Bruders Mahindas hatten hohe Regierungsämter inne. Zeitweise kontrollierten die Rajapaksas unmittelbar 80 Prozent des Staatshaushaltes. Wie viel über dunkle Kanäle abgezweigt wurde, ist ohne eingehende Untersuchungen unklar. Doch nicht nur eine Cousine der Brüder und deren Ehemann, so investigative Enthüllungen im Rahmen der »Pandora Papers«, verfügen über Konten in diversen Steueroasen rund um den Globus. Auch die bis vor kurzem noch mächtigsten Männer Sri Lankas haben offenbar millionenschwere Finanzpolster in Dubai und anderswo angelegt – der gescheiterte Absetzversuch in die Glitzermetropole der Vereinigten Emirate war wohl kein Zufall.
Die Rebellion wird wahrscheinlich als gescheitert in die Landesgeschichte eingehen, da die turbulenten Wochen keinen politischen Neuanfang auslösen konnten. Trotzdem waren die Proteste besonders, denn das radikale Aufbegehren der Bürger*innen gegen die politische Führung war neu. Und sie hatten allen Grund dazu: Sri Lanka wird seit Jahresbeginn von der schwersten Wirtschafts-, Finanz- und Versorgungskrise seit der Unabhängigkeit 1948 heimgesucht. Schon im letzten Quartal 2021 hatte sich die Lage immer weiter zugespitzt, als die Devisenreserven stetig zusammenschmolzen und erste Importe gestoppt werden mussten. Der Offenbarungseid, dass das Land bei drückenden Gesamtschulden von 51 bis 52 Milliarden Dollar und jahresaktuellen Verpflichtungen von 6,9 Milliarden Dollar nunmehr zahlungsunfähig sei, folgte im April. Bis dahin fehlte bereits jeder für Zins und Tilgung aufgewendete Dollar, um dringend nötige Einfuhren zu bezahlen. In den Folgemonaten wurde die Versorgungslage immer katastrophaler. Die Inflation stieg im Juni erstmals über 50 Prozent, bei Nahrungsgütern ist die Teuerung noch höher. Und trotz Notlieferungen vom großen Nachbarn Indien – dank einer neuen Kreditlinie über 3,8 Milliarden Dollar – sind Diesel und Benzin kaum noch erhältlich. In den Krankenhäusern sind letzte Medikamentenbestände aufgebraucht.
Krise mit Ankündigung
Der Frust der Menschen, die kaum mehr wissen, wie sie ihre nächste Mahlzeit sichern sollen, brach sich auf den Straßen Bahn. Demonstrationen gab es landesweit, doch vielfach zogen wütende Bürger*innen sogar unter schwierigen Bedingungen – selbst Busse und Züge fuhren wegen Treibstoffmangels nur eingeschränkt – in die Hauptstadt, um in Colombo den Rajapaksas ganz direkt ihre Rücktrittsforderung zu unterbreiten. Die basisgetragenen Proteste ließen sich zwar nicht durch bestehende politische Kräfte vereinnahmen, doch fehlte ihnen, wie sich bald zeigte, eine klare Linie. Es waren einfache Taxifahrer*innen, Lehrer*innen, Tagelöhner*innen, Bäuer*innen oder Krankenpfleger*innen, die eine gemeinsame Front bildeten, leider jedoch ohne explizite Leitlinie abseits der Kernforderung nach Entmachtung des Präsidenten.
Genau das machte es den restaurativen Kräften am Ende leicht, den eigentlich nicht minder umstrittenen Wickremesinghe ins höchste Staatsamt zu hieven – für ihn ein später Triumph nach mehreren an der Wahlurne gescheiterten Anläufen. Wann der erhoffte IWF-Notkredit nun mit neuen Verzögerungen kommen und was er dem Land an Auflagen abverlangen mag, ist noch unklar. Deutlich ist aber die Desillusionierung der Protestfront mit den jüngsten Weichenstellungen, bedeuten sie doch, dass die Ära Rajapaksa einfach abgehakt und gedeckelt wird. Eine kritische, tiefgründige Aufarbeitung ist unter dem neuen Präsidenten und den ihn tragenden Kräften nicht zu erwarten. Das betrifft nicht nur die finanzielle Misere, sondern genauso die gravierenden Menschenrechtsverletzungen, die Mahinda und Gotabaya Rajapaksa noch aus der Zeit der brutalen Militäroffensive vom Mai 2009 zur Last gelegt werden. Sie beendete damals den 25 Jahre andauernden Bürgerkrieg mit den tamilisch-separatistischen LTTE-Rebell*innen durch deren vernichtende Niederlage.