Revolution in der Sackgasse
Auf Kuba wird die soziale Krise immer sichtbarer – und die Jugend wandert aus
Von Knut Henkel
Jorge Rad Paneque ist ein glühender Anhänger der kubanischen Revolution. »Noch in diesem Jahr werden die Reformen kommen, wir kommen wieder auf die Beine«, prognostiziert der Chirurg. Im einst mondänen Stadtteil Vedado von Havanna in einer heruntergekommenen Gründerzeit-Villa lebt der quirlige Mann von Anfang 70. Er ist ein Rentner der Revolution. Als Arzt war er im Ausland mit den Gesundheitsbrigaden der Regierung, hat sich engagiert und hält nach wie vor zur kubanischen Revolution, die ihn wie kaum etwas anderes geprägt hat. Trotz der kümmerlichen Rente, die der ehemalige Gefäß-Chirurg, der so manche komplizierte Operation durchgeführt hat, heute erhält und die für ihn und seine Frau Tatiana hinten und vorne nicht reicht, hält er fest zu den Losungen der Revolution. Wäre da nicht das großzügige Gründerzeit-Haus, würden die beiden Senioren das Schicksal vieler anderen Rentner*innen teilen: Altersarmut. Denn im 1. Stock des Hauses bringen sie hin und wieder Studierende oder Tourist*innen unter, die für ein paar Devisen sorgen.
Altersarmut ist mittlerweile sichtbar auf Kuba. Senior*innen, die vor den Bauernmärkten am späten Nachmittag darauf warten, die Reste der Marktstände für wenig Geld oder gar für umsonst zu ergattern, gehören genauso zur Realität wie jene, die für ihre Familie Schlange stehen, um rare Produkte wie Speiseöl, Seife oder Zahnpasta zu ergattern oder irgendetwas auf der Straße verkaufen. Fakt ist: Kaum jemand der knapp 2,5 Millionen Kubaner*innen über 60 Jahren erhält eine Rente, von der man leben kann.
1.528 Peso cubano beträgt die kubanische Durchschnittsrente laut Omar Everleny Pérez, freier Analyst und langjähriger Leiter des Studienzentrums der kubanischen Wirtschaft (CEEC). Davon lassen sich gerade vier Pfund Bohnen oder drei Pfund Schweinefleisch auf den freien Bauernmärkten kaufen. Unverständnis, Kritik und beißenden Spott muss sich die Regierung von Staatschef Miguel Díaz-Canel in den sozialen Medien gefallen lassen, weil sie weder verbal noch real auf die soziale Misere reagiert. Auf Tauchstation scheint die Regierung. »Weder Sozialprogramme für die Rentner*innen der Revolution noch Investitionsprogramme, um die Wirtschaft anzukurbeln, gibt es«, klagt Jorge Rad Paneque.
Das hat Gründe, erläutert der 64-jährige Ökonom Everleny Pérez: »Der Regierung von Miguel Díaz-Canel sind die Hände gebunden, denn jede Mehrausgabe bringt den ohnehin schon defizitären Haushalt weiter in Schieflage und heizt die galoppierende Inflation weiter an.« Das Problem ist ein wiederkehrendes und ein strukturelles: Der Geldmenge stehen seit Jahren, besser Jahrzehnten, nicht genug Produkte gegenüber.
Daran hat auch die Währungsreform vom Dezember 2020, als der Devisenpeso CUC ersatzlos gestrichen und der Peso cubano zur einzigen Währung auf der Insel erklärt wurde, nichts geändert. »Die positiven Effekte der Reform sind verpufft. Heute orientiert sich alles am Wechselkurs von Euro und US-Dollar. Für einen Euro gibt es auf der Straße rund 400 Peso cubano. Dem steht ein offizieller Kurs von 1:132 Peso cubano gegenüber«, schildert Pérez die Situation. Trotz der Währungsreform ist das Finanzsystem erneut in permanenter Schieflage. Kubas Regierung ist nicht in der Lage, Schulden zu bedienen, dadurch erneut nicht kreditwürdig auf dem internationalen Finanzmarkt und schrammt so regelmäßig an der Zahlungsunfähigkeit vorbei. Davon sind auch die Handelsunternehmen betroffen, die, wie die Hamburger Delatrade, die Insel seit Jahrzehnten mit den Rohmaterialien für die Medikamentenproduktion versorgen. Aufträge gibt es reichlich, aber die staatlichen Einkaufsunternehmen haben nicht das Geld, um zu zahlen.
Leere Apotheken
Folgerichtig sind die Apotheken in Havanna leer. »No hay«, gibt es nicht, heißt es, wenn Antibiotika, Nahtmaterial oder Narkose-Präparate angefragt werden. Operationen müssen verschoben, Verbände können erst mit Zeitverzögerung gewechselt und Spritzen manchmal nicht gegeben werden, weil es keine Einwegspritzen gibt, berichtet Rita García aus Cárdenas. Sie sucht händeringend bei kirchlichen Hilfswerken nach Unterstützung für das Krankenhaus in der Hafenstadt, die rund 140 Kilometer von Havanna entfernt liegt – hinter der Tourismus-Drehscheibe Varadero. Dort fehlt es laut García, die das »kirchliche Zentrum für Dialog und Reflexion« in Cárdenas leitet, an allem. Hinzu kommt, dass – anders als früher – auch das Personal knapp wird. »Die Auswanderung, mit der wir es in allen Bereichen zu tun haben, macht auch nicht vor dem Gesundheits- und dem Bildungssystem halt«, sagt García. Die gelten als zwei zentrale Errungenschaften der Revolution und waren über Jahrzehnte Synonym für ein gutes Sozialsystem in Kuba.
Von der Rente lassen sich gerade vier Pfund Bohnen auf den freien Bauernmärkten kaufen.
Dieses ist nicht nur in die Jahre gekommen, wie der bauliche Zustand vieler Kliniken und Gesundheitseinrichtungen zeigt, sondern auch an die Grenzen seiner Funktionsfähigkeit gestoßen. Unter den 600.000 Kubaner*innen, die zwischen November 2021 und Januar 2024 die Insel verließen und in den USA ankamen, sind Zigtausende aus dem Gesundheits-, aber auch aus dem Bildungssystem. Sie wissen, dass sie in den USA gute Chancen auf Jobs haben, während in Kuba in beiden Sektoren händeringend nach Personal gesucht wird. Pensionierte Ärzti*nnen und Pädagog*innen werden landesweit angeworben – ungewohnte, wenn auch nicht ganz neue Realitäten auf der Insel. Was Fidel Castro am 2. September 1960 in der »Erklärung von Havanna« zusicherte, kann die heutige Regierung nicht mehr garantieren: das Recht auf Befriedung elementarer Bedürfnisse wie Ernährung, ein Dach über dem Kopf sowie Bildung, Arbeit, Alters- und Gesundheitsversorgung.
Nur ein Beispiel aus dem kubanischen Rationierungssystem, das die Grundversorgung für das Gros der Rentner*innen und für viele Familien bildet: Es kommt immer öfter zu Verzögerungen bei der Lieferung von Produkten, die die Bevölkerung zu subventionierten Preisen erhält. »Mehrere Tage waren es bei Hühnern im Januar; statt sechs Pfund Reis wurden in den letzten Monaten immer mal wieder nur zwei oder drei am Monatsbeginn und der Rest später ausgegeben«, berichtet Everleny Pérez, der wie alle Kubaner*innen die rationierten Produkte erhält. Gleichwohl gehört er zu den wenigen, die nicht drauf angewiesen sind. Derzeit garantiert die Libreta, wie das kubanische Rationierungssyystem genannt wird, für zehn bis vierzehn Tage die Grundversorgung der Bevölkerung – nicht mehr und nicht weniger. Doch für die Mehrheit der kubanischen Ökonomen ist dieses System überholt. »Es fördert alle, nicht nur die wirklich Bedürftigen. Wir brauchen eine effektivere Sozialpolitik, die den Schwachen, darunter immer mehr Rentner*innen, unter die Arme greift«, lautet Pérez Plädoyer für mehr Pragmatismus und weniger Gießkannenprinzip seit Jahren.
Vergeblich: Die Verantwortlichen in Havanna verharren in Untätigkeit. »Sie drohen ihr letztes bisschen Glaubwürdigkeit zu verspielen«, mahnt der Sozialwissenschaftler und verweist auf die zunehmenden Proteste auf der Insel. Denen wird vor allem repressiv begegnet.
Todesstrafe wegen Aufruhrs?
So wie in Santiago de Cuba, als am 17. März Hunderte auf die Straße gingen. Wenige Tage danach wurden 17 Wortführer festgenommen. »Das Material lieferten hochauflösende Kameras. Davon werden immer mehr an neuralgischen Punkten angebracht«, erklärt Manuel Cuesta Morúa, ein bekannter sozialdemokratischer Oppositioneller aus Havanna. Er bescheinigt der Regierung, über einen nach wie vor muskulösen, repressiven Arm zu verfügen und über einen immer schwächer werdenden Arm der ökonomischen Reproduktion: »Auf Kuba wird immer weniger produziert, die fixen Vorgaben der Regierung würgen vieles ab«, kritisiert der 61-Jährige. Das bestätigen Expert*innen wie Pavel Vidal, kubanischer Ökonom mit Lehrauftrag im kolumbianischen Cali: »Das staatliche Ankaufsystem Acopio, das den Bäuer*innen die Ankaufspreise für ihre Produkte vorschreibt, hat seit Jahrzehnten eine Bremsfunktion. Wenn Bäuer*innen unter ihren Produktionspreisen verkaufen sollen, produzieren sie nur das Nötigste«, schildert Vidal ein Kernproblem der kubanischen Landwirtschaft, das zumindest teilweise die latente Lebensmittelknappheit erklärt. Der latente Mangel und die je nach Stadt bis zu 16-stündigen Stromabschaltungen, die apagones, sorgen landesweit immer wieder für Proteste.
Denen scheint die Regierung von Staatschef Miguel Díaz-Canel vor allem repressiv begegnen zu wollen. Darauf deutet zumindest die Sendung »Hacemos Cuba«, in ihrer Ausgabe vom 24. April hin. Dort wurde über potenzielle Maßnahmen gegen weitere Proteste und Demonstrationen, aber auch über potenzielle Angriffe auf Polizist*innen diskutiert. Es wurde über langjährige Haftstrafen von 20 Jahren und über die Verhängung der Todesstrafe wegen »Aufruhr« diskutiert. Das werten Blogger wie Elias Navarro aus Santiago de Cuba als Versuch der Einschüchterung. Zugleich moniert der Mann mit 5.000 Follower*innen, dass die jüngere Generation die Hoffnung auf den friedlichen Wandel verloren hat: »Die Jungen engagieren sich nicht mehr, sie gehen, während die Alten bleiben. Auswanderung aus Perspektivlosigkeit ist nichts Neues, aber noch nie war es so gravierend wie heute«, stellt er fest.
So sieht es auch William aus Havanna. Der 33-jährige ehemalige Ingenieurstudent mit den tätowierten Unterarmen würde selbst bei nächster Gelegenheit gehen: »überall hin, wo ich eine Chance erhalte, hier habe ich keine.« So geht es vielen. Auch er kritisiert die Untätigkeit der Regierung. »Sie ignorieren die soziale Misere. Unter Fidel Castro hätte es das nie gegeben«, meint er genervt. »Auseinandersetzung, Dialog, Reformen – Fehlanzeige!«, schiebt er hinterher. Genau das sind die Gründe, warum er jeden Euro und jeden US-Dollar für die Ausreise beiseitelegt.