Sondervermögen der Bundeswehr: Entsteht ein militärisch-industrieller Komplex?
Von Axel Gehring
Ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro soll den Haushalt der Bundeswehr in den nächsten fünf Jahren zusätzlich aufstocken. Unter Einbeziehung der angekündigten Erhöhung der Militärausgaben wird Deutschland damit aller Voraussicht nach den drittgrößten Militärhaushalt der Welt haben – nach den USA (778 Milliarden US-Dollar in 2020) und China (252). Die Bundesrepublik läge dann mit 91 Milliarden US-Dollar deutlich vor den Haushalten Großbritanniens (59,2), Frankreichs (52,7) und Russlands (61,7). Doch ob sich das drittgrößte Militärbudget automatisch in das drittstärkste Militärpotenzial der Erde übersetzt, ist noch unklar. Viel hängt davon ab, wie effektiv mit den neuen Ressourcen umgegangen wird und ob Deutschland dauerhaft mindestens zwei Prozent seines Bruttoinlandsproduktes für Rüstung ausgeben wird. Das Möglichkeitsfenster dazu scheint jedenfalls innen- wie außenpolitisch gegeben.
Rasche Waffenlieferungen werden so auch von den mittelosteuropäischen Staaten mit Selbstverständlichkeit erwartet. Deren größter Feind ist jedoch nicht politischer Unwille, sondern eine komplexe Realität: In der Post-1990-Zeit fanden Kriege zunächst nicht mehr als große Auseinandersetzungen zwischen Staaten statt, sondern als quasi polizeiliche Eingriffe von überlegenen Staatenbündnissen zur Sicherung der Weltordnung in lokalen Kontexten – von Somalia bis Kosovo. Die westlichen Armeen und damit auch die Bundeswehr wurden daran ausgerichtet. Das Konzept war verschränkt mit dem Paradigma von möglichst »flexiblen« Armeen. Konkret sollte auf interventionsfähige Streitkräfte gesetzt und auf die großen Massenheere des Kalten Krieges verzichtet werden. In der Konsequenz hieß dies Outsourcing, die schrittweise Abschaffung der Wehrpflicht und die Umstellung der Rüstung auf möglichst wenige, aber multifunktionale Systeme, die entsprechend anfällig und teuer sind.
Durch Outsourcing standen dem Militär jedoch kaum jene (Über-)Kapazitäten bereit, aus welchen es seine Flexibilität für eine Vielzahl von internationalen Einsätzen bezieht. Im Wesentlichen ist es das, was der bürgerliche Diskurs als Unterfinanzierung der Bundeswehr bezeichnet: eine weitestgehend gescheiterte Mischung aus flexibler Einsatzorientierung bei Übertragung neoliberaler Paradigmen aus der Privatwirtschaft auf die Streitkräfte. Auch destruktive Infrastrukturen leiden ähnlich unter entsprechenden Konzepten wie reproduktive Infrastrukturen. Deshalb werden jetzt aus Industriebeständen längst ausgemusterte deutsche Militärsysteme an die mittelosteuropäischen Staaten geliefert, die im Gegenzug ihre alten sowjetischen Systeme an die Ukraine liefern. Mehr geht objektiv auf die Kürze nicht.
Die Debatten um vermeintlich politisch verzögerte Ringtauschgeschäfte legen etwas offen, was vielen gar nicht bewusst gewesen ist: Anders als zum Beispiel in Frankreich oder den USA ist die Rüstung in Deutschland kein industrieller Leitsektor, der eine zentrale Rolle für die Generierung von Wachstum, Exporten und Arbeitsplätzen spielt. Deutsche Waffenschmieden haben seit 1990 stattdessen mehr und mehr den Charakter von High-Tech-Manufakturen angenommen. In kleinen Stückzahlen produzieren sie zum Teil Waffensysteme, die aufgrund ihrer Überkomplexität übrigens nicht immer den besten Ruf genießen. Stark sind sie vor allem dort, wo sie auf Innovationen aus dem Kalten Krieg zurückgreifen, zum Beispiel beim Kampfpanzer Leopard und als Zulieferer in Nischen – türkische Drohnenhersteller schwören auf Kameras der Firma Hensoldt.
Deutsche Waffenschmieden haben seit 1990 stattdessen mehr und mehr den Charakter von High-Tech-Manufakturen angenommen.
Ihre Stellung als relativ exportstarke Rüstungsexporteurin verdankt die Bundesrepublik vor allem der allgemeinen Exportstärke der deutschen Ökonomie. Entsprechend begrenzt ist bislang die soziale und politische Macht dieses Sektors. In anderen Worten: Gegenwärtig verfügt die Bundesrepublik über Nichts, was sich als »militärisch-industrieller-Komplex« bezeichnen ließe. Militärisch-industrielle Komplexe gehören nicht per se zur Grundausstattung kapitalistischer Staatlichkeit, sie bilden sich vielmehr historisch-konkret heraus. Nach 1990 entstand in Deutschland jedoch kein militärisch-industrieller-Komplex, weil das deutsche Wachstumsmodell um andere Sektoren herum gebaut war und weil sich die Einsatzorientierung und Organisation der Bundeswehr an neoliberalen Bedingungen ausrichtete. Wird das nun so bleiben, wenn sich das deutsche Wachstumsmodell und die Organisationsweise der Streitkräfte perspektivisch ändern und die Akzeptanz von deutschen Rüstungsgütern international zunimmt? Das ist die entscheidende Frage.