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Sinn Féin will regieren

Nach den Wahlen ist in der Republik Irland auch eine Linkskoalition möglich

Von Dietrich Schulze-Marmeling

Abgetreten. Die Führungskader der alten Garde: Gerry Adams und Martin McGuinness. Foto: Sinn Féin / Wikimedia, CC BY 2.0

Bei den Wahlen zum irischen Parlament im Februar wurde Sinn Féin überraschend stärkste Partei. Die republikanische Partei erhielt mit 24,7 Prozent die meisten Erststimmen, bei den Sitzen liegt sie gleichauf mit der konservativen Fianna Fáil, die 22,2 Prozent erreichte. Beide Parteien kommen auf jeweils 37 Sitze. Auf Platz drei folgt mit 35 Sitzen die bisherige Regierungspartei Fine Gael. Es wären wohl noch mehr Sitze für Sinn Féin geworden, aber nach den schwachen Ergebnissen bei den Kommunalwahlen und der Europawahl stellte die Partei nur 42 Kandidat*innen für die 160 Mandate auf.

Der Brexit spielte im Wahlkampf keine Rolle, das republikanische Kernthema einer Vereinigung von Republik und Nordirland nur eine hintergründige. Sinn Féin forderte hier, dass die Ir*innen in den kommenden fünf Jahren über die Wiedervereinigung abstimmen.

Stimmen holte Sinn Féin vor allem bei den ärmeren Bevölkerungsgruppen und den jungen Wähler*innen. Letztere wurden in den vergangenen Jahren durch die Kampagnen für die Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe und der Abtreibung politisiert. Die gleichgeschlechtliche Ehe wurde 2015 per Referendum legalisiert und die Verfassung entsprechend geändert. In dem einst als rückständig verschrienen Land votierten 62 Prozent dafür – bei einer ungewöhnlich hohen Wahlbeteiligung. 

Auch in Nordirland machte sich die Partei für die gleichgeschlechtliche Ehe stark – gegen den massiven Widerstand der unionistischen/protestantischen Regierungspartei Democratic Unionist Party (DUP). 2018 stimmten dann in der Republik 66 Prozent für die Abschaffung des Abtreibungsverbots. Durch die beiden Kampagnen erwarb sich die Partei ein auch kulturell progressives Image. Bei der ärmeren Bevölkerung punktete Sinn Féin mit einem linkssozialdemokratischen Programm. Es fordert Investitionen in den sozialen Wohnungsbau sowie in das Bildungs- und das Gesundheitssystem sowie die Senkung des Rentenalters.

Eine bessere Labour Party

Der Wahlsieg der Republikaner*innen symbolisiert aber vor allem eines: den Wunsch nach grundlegenden Veränderungen. So wurde nach den Wahlen vielfach behauptet, mit Sinn Féins Wahlsieg sei das alte Parteiensystem mit den sich »un-ideologisch« gebenden Säulen Fianna Fáil und Fine Gael implodiert. Das ist nicht ganz richtig. Denn schon bei den Wahlen von 2001 war es der Labour Party gelungen, die Hegemonie der beiden Parteien zu sprengen. Labour eroberte damals ebenfalls 37 Sitze, was damals aber nur zu Platz zwei reichte – knapp vor Fianna Fáil und deutlich hinter Fine Gael. Sinn Féin dürfte nun zu einem nicht unerheblichen Maße die alte Labour-Wählerschaft mobilisiert haben – als »bessere« und gesamtirisch agierende Labour Party.

Im Norden reüssiert Sinn Féin an der Wahlurne bereits seit den frühen 1980ern. Ermuntert durch den spektakulären Wahlsieg des IRA-Hungerstreikers Bobby Sands bei Nachwahlen zum Unterhaus 1981, hatte die republikanische Bewegung die Strategie »with the armalite in one hand and the ballot box in the other« entwickelt, so Danny Morrison: Schnellfeuergewehr und Wahlurne als gleichwertige Mittel politischer Veränderung.

Im Süden fristete Sinn Féin hingegen lange Zeit das stiefmütterliche Dasein eines Unterstützervereins für die unter der britischen Besatzung leidenden Brüder und Schwestern im Norden. Auf dem Sinn-Féin-Parteitag 1983 lösten dann die aus Belfast bzw. Derry stammenden Gerry Adams und Martin McGuinness die alte, politisch und kulturell eher konservative gesamtirische Führung ab, die bis dahin aus dem Süden der Insel dominiert wurde. Nun galt das Motto: »Wer die Hauptlast des Krieges trägt, muss auch das Sagen haben«. Seitdem waren Sinn-Féin- und IRA-Führung weitgehend identisch und fest in nordirischer Hand.

Gleichzeitig war dies eine Voraussetzung dafür, dass sich die südirische Sektion modernisierte. Der sozialistische Republikaner Gerry Adams hatte schon in den 1970ern für eine »Politisierung« der Bewegung geworben, für die Herstellung einer Massenbewegung rund um soziale Fragen. Sozialistisches und marxistisches Denken war vor allem bei den IRA-Gefangenen en vogue. Im Zuge des Friedensprozesses wurde die sozialistische Rhetorik allerdings zurückgefahren; man redete nun nur noch vor der »Republik« – nicht mehr von der »sozialistischen Republik.« Dies wohl auch mit Blick auf die USA, die beim Zustandekommen des Karfreitagsabkommens von 1998, das den bewaffneten Konflikt im Norden beendete, eine wichtige Rolle spielten.

Seit Februar 2018 sitzt die aus Dublin stammende 50-jährige Mary Lou McDonald der Partei vor. Gefördert wurde sie von ihrem mittlerweile 71-jährigen Vorgänger Gerry Adams. Sie ist der Partei erst 1999 beigetreten, also nach dem Karfreitagsabkommen. Zuvor hatte sie Fianna Fáil angehört. Aber was die Partei auf dem Gebiet der Sozialpolitik anbot, war ihr zu wenig. Auch kritisierte sie deren Ignoranz gegenüber dem Norden. Im Wahlkampf war ihr wichtigster Mitstreiter Eoin O Broin (47), Chefideologe eines sozialistisch geprägten Republikanismus, Herausgeber der Zeitschrift Left Republican Review und Autor des Buches »Sinn Féin and the Politics of Left Republicanism«.

Auch im Norden wird Sinn Féin von einer Frau geführt: Michelle O’Neill (43) ist Fraktionschefin von Sinn Féin im nordirischen Parlament und stellvertretende Ministerpräsidenten des Landes. Ihr Vater, Brendan Doris O’Neill, war in den 1970ern ein Aktivist der East Tyrone Brigade der IRA und verbrachte dafür einige Jahre im Gefängnis. Später saß er für Sinn Féin im Kommunalparlament von Dungannon.

Bei einer Betrachtung der Sinn-Féin-Fraktionen in den beiden irischen Parlamenten fällt zweierlei auf. Erstens der hohe Frauenanteil – in Belfast sind zwölf der 27 Abgeordneten Frauen (44 Prozent), in Dublin 13 von 37 (35 Prozent). Zweitens nimmt die Zahl der Abgeordneten ab, die eine IRA-Biografie haben, was natürlich in erster Linie biologisch begründet ist. 

Im Norden stellen ehemalige IRA-Kämpfer*innen noch etwa ein Drittel der Sinn-Féin-Parlamentarier*innen Prominenteste Ex-IRA-Volunteers sind der ehemalige Hungerstreiker Raymond McCartney (65) und Gerry Kelly (66), Anführer des legendären Gefängnisausbruchs von 1983 (»The Great Escape«), bei dem 38 IRA-Häftlinge entkamen. Kelly war eine zentrale Figur bei den Verhandlungen, die zum Karfreitagsabkommen führten. 

Der Republikaner, der 1973 an dem Bombenanschlag auf den Strafgerichtshof Old Bailey in London beteiligt war, ist heute einer von drei Vertretern Sinn Féins in der Behörde Northern Ireland Policing Board, die die nordirische Polizei überwacht. In der Republik waren die letzten Abgeordneten mit IRA-Vergangenheit Gerry Adams und Martin Ferris, die aber im Februar nicht mehr antraten.

Priorität Linkskoalition

Sinn Féins erste Priorität bei einer Regierungsbildung ist eine Linkskoalition mit der Green Party (12 Sitze), Labour (6), Social Democrats (6), Solidarity People before Profit (5) und den Independents 4 Change (1). Diese »coalition for change« käme allerdings nur auf 67 Mandate, für eine Mehrheit im Parlament sind aber 80 erforderlich. Um diese zu erreichen, bedürfte es der zusätzlichen Unterstützung von 13 der 19 unabhängigen Abgeordneten, was sich angesichts der Heterogenität dieses »Lagers« schwierig gestaltet.

Die Parteiführung schließt aber auch eine Koalition mit Fianna Fáil und einem kleinen weiteren Partner nicht aus. Eine große Koalition von Fianna Fáil und Fine Gael mit Sinn Féin als stärkster Oppositionskraft ist für McDonald keine attraktive Option, auch wenn dies ihrer Partei weitere Wähler*innen in die Arme treiben könnte. Sinn Féin will regieren – nicht nur im Norden, sondern auch im Süden, nicht morgen, sondern jetzt. Wohl auch, weil man davon ausgeht, dass die »irische Frage« nach dem Brexit eine gewisse Dynamik entfalten wird.

Nach den Wahlen lud Sinn Féin zu stark besuchten öffentlichen Veranstaltungen ein. In Dublin drängelten sich 500 in der Liberty Hall, mehrere Hundert fanden keinen Einlass. In der nordirischen Grenzstadt Newry und in Cork kamen jeweils 1.000. Das erinnerte an den Friedensprozess und das Karfreitagsabkommen von 1998. Auch damals wurde die Basis intensiv konsultiert. Diesmal kamen aber nicht nur Sinn-Féin-Mitglieder zu den Veranstaltungen. Dort ging Parteichefin Mary Lou McDonald besonders scharf mit dem Fianna-Fáil-Führer Micheál Martin ins Gericht, der eine Koalition mit Sinn Féin kategorisch ausschließt – wie auch der Fine-Gael-Chef und Noch-Ministerpräsident Leo Varadkar. McDonald weiß, dass ein nicht unerheblicher Teil der Fianna-Fáil-Mitglieder anders denkt als ihr Parteichef. Martin und Varadkar erklären Sinn Féins sozial- und wirtschaftspolitische Forderung für illusorisch und problematisieren die »IRA-Vergangenheit« der Partei.

Drew Harris, Chef der südirischen Polizei, machte diese Vergangenheit dann zur Gegenwart, als er behauptete, dass eine Rechenschaftspflicht Sinn Féins gegenüber einem immer noch existierenden IRA-Armeerat bestünde. Hierin sei er sich mit seinen nordirischen Kollegen einig. In Nordirland scheint dies aber kein Problem zu sein, obwohl Sinn Féin hier deutlich »mehr IRA« ist als im Süden. Zehn Jahre lang, von 2007 bis 2017, regierten hier gleich drei Ministerpräsidenten der Democratic Unionist Party mit dem im März 2017 verstorbenen ehemaligen IRA-Führer Martin McGuinness. 

Dietrich Schulze-Marmeling

ist Autor, hält Vorträge und schreibt gelegentlich für Zeitungen über Fußball, Nordirland und Antisemitismus.