Mit gerümpfter Nase
Die linksliberale Öffentlichkeit weist Rassismus zurück, versteht Silvester-Riots aber nicht
Von Stefan Kalmring
Seit den Krawallen in der Silvesternacht ist die politische Debatte aufgeheizt. Jugendliche in Berlin haben nicht nur die Polizei, sondern auch Rettungswagen und Feuerwehr mit Böllern und Raketen angegriffen und teilweise Barrikaden errichtet. Für ein konservatives bis rechtspopulistisch gesinntes Bürger*innentum stehen die Schuldigen fest: Ein Milieu sogenannter integrationsunwilliger Migrant*innen habe eine Grenze überschritten. Während Deutsche angeblich ausgelassen und friedlich feiern wollten, hätten ganze Gruppen von Migrant*innen in Neukölln und anderswo erneut unter Beweis gestellt, dass sie keinen Respekt vor Demokratie und Rechtsstaat haben.
Mit den wirklichen Zahlen hat das wenig zu tun. In Berlin wurden 145 Menschen an Silvester verhaftet. Nur 38 stehen im Zusammenhang mit den Böllerangriffen. Davon waren zwei Drittel Deutsche. Dessen ungeachtet werden rassistische Ressentiments geschürt. Man appelliert an Law-and-Order-Gefühle. Schließlich ist in der Hauptstadt auch noch Wahlkampf. Und eine Anrufung solcher Emotionen verschafft Stimmen. So hofft man zumindest.
Dagegen wendet sich lautstark eine linksliberale Öffentlichkeit. Diese verweist zu Recht auf den Rassismus, der die Diskussion in weiten Teilen kennzeichnet. Einig ist man sich jedoch mit den politischen Gegner*innen darin, dass die Krawalle inakzeptabel seien und die Täter*innen schnell bestraft gehören. Was man sich zudem lautstark wünscht, ist ein allgemeines Böllerverbot. Und dafür lassen sich durchaus zahlreiche überzeugende Argumente anführen: Umweltschäden, Verletzungsgefahr durch Böller, Feinstaubbelastung oder Tierschutz. Ginge es um die Begründungen allein, es wäre nichts gegen diese Position einzuwenden.
Die linksliberale Öffentlichkeit neigt zwar nicht zum (offenen) Rassismus, aber zum Klassismus.
Was an ihr irritiert, ist der Unterton, die reflexhafte Abwehr einer vor allem proletarischen Feierkultur. Man neigt zwar nicht zum (offenen) Rassismus, aber zum Klassismus. Man schaut mit gerümpfter Nase nach Neukölln und kritisiert die Gewalt und die Umweltschäden, aber eben auch das allgemeine Treiben – und zwar im Namen der guten Sitten. Aus fast allen Kommentaren spricht ein Gefühl der moralischen Überlegenheit und der Wunsch, diese gegebenenfalls auch mit dem Gesetz und polizeilicher Gewalt durchzusetzen.
Dieses gut situierte, linksliberale Bürger*innentum fragt nicht danach, warum es für viele Menschen so wichtig ist, wenigstens einmal im Jahr über die Stränge zu schlagen und auch Geld zu verfeuern, das sie eigentlich gar nicht haben. Und es interessiert sich auch nicht wirklich dafür, woher die Aggressionen stammen, die sich bei einigen zu Silvester entladen haben.
Dabei gibt es gerade für Jugendliche und junge, migrantisierte Menschen in Stadtteilen wie Neukölln oder Wedding viele Gründe für Wut und Frustration. Der in der Silvesterdebatte wieder so offen bediente Rassismus unterstreicht für viele nur noch einmal anschaulich das, was sie an Alltagsdiskriminierung oder durch polizeiliches Racial Profiling sowieso ständig erfahren müssen. Kaum jemand wird bestreiten wollen, dass sich die Lebenschancen der Bewohner*innen in ärmeren Stadtvierteln in den letzten Jahren und Jahrzehnten deutlich mehr verschlechtert haben als in wohlhabenden Bezirken – und das wissen die Menschen natürlich auch. Für sie ist es mehr als handgreiflich, dass der Ausblick auf 2023 vor allem existenzielle Fragen aufwirft oder dass wir es mit einem Bildungssystem zu tun haben, das Ungleichheit (re)produziert, indem es arme und migrantisierte Jugendliche aussortiert.
Der Zorn hat gute Gründe. Um politisch wirksam zu sein, ist aber mehr nötig, als dass er sich eruptiv entlädt. Er braucht eine Form, die Menschen in ihren Stadtteilen und den Betrieben von unten organisiert und soziale Gegenmacht über einen längeren Zeitraum hin aufbaut. Schließlich soll sich etwas Grundlegendes in dieser Welt verändern – und damit frohes neues Jahr.