»Sie sind zum Dialog verpflichtet«
Ein Riss im bolivianischen Regierungslager droht, die Rechte an die Macht zu bringen, warnt Ex-Minister Hugo Moldiz Mercado
Interview: Atilio Borón
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Die bolivianische Regierungspartei Bewegung zum Sozialismus (MAS) stützte sich lange auf den Proceso de Cambio (Transformationsprozess), ein zu Beginn des Jahrhunderts formulierter Prozess der radikalen gesellschaftlichen Umgestaltung Boliviens nach 500 Jahren kolonialer und kapitalistischer Herrschaft. Nach dem überstandenen Staatsstreich von 2019 steht dieser Prozess erneut vor einer Herausforderung, sagt Hugo Moldiz.
Wie schätzt du die derzeitige Lage in Bolivien ein?
Hugo Moldiz: Wir haben im Jahr 2020 die Regierung zurückerobert, in einem politischen Kraftakt, der in der jüngeren lateinamerikanischen Geschichte beispiellos ist, aber es war uns nicht möglich, auch den Proceso de Cambio zurückzuerobern. Die einzige Möglichkeit, auch den Proceso de Cambio wiederherzustellen, wäre gewesen, dass sich die neue Regierung von Luis Arce, die sozialen Bewegungen und indigenen Gemeinschaften und der weiterhin der Regierungspartei MAS vorstehende Ex-Präsident Evo Morales zusammensetzen und eine gemeinsame Strategie für die Zukunft entwickeln.
Nichts dergleichen geschah. Die sozialen Bewegungen begannen nicht nur, sich zunehmend auf ihre Partikularinteressen zu beschränken, sondern es kam auch zu einer vermehrten Fragmentierung unter ihnen. Die neue Regierung hingegen sah sich relativ schnell von zwei Seiten in die Enge getrieben. Einerseits durch eben diese fragmentierten und geschwächten, aber weiterhin kampfeslustigen sozialen Bewegungen, andererseits durch einen Streit darüber, wer in Bolivien das Sagen hat: der Präsident oder der Parteichef, also Arce oder Morales. Diese Auseinandersetzung hat mittlerweile ein solches Ausmaß angenommen, dass es für beide Seiten anscheinend kein Zurück mehr gibt.
Einer der wichtigsten Gründe für diese politische Krise ist die von Evo Morales schon sehr früh getätigte Aussage, dass er 2025 auf Biegen und Brechen Präsidentschaftskandidat sein werde. Dies hat zu einer Reihe von Hindernissen für die Handlungsfähigkeit der Regierung und für die politische Stabilität im Land geführt, da es den MAS in eine Pro-Arce- und eine Pro-Evo-Fraktion gespalten hat. Nirgendwo auf der Welt nominiert eine Partei einen Kandidaten drei oder vier Jahre im Voraus, ohne dass das praktische Auswirkungen hat. Daher würde ich sagen, dass das strategische Ziel des Staatsstreichs 2019 doch erfüllt wurde. Zwar wurde die de facto Präsidentin Jeanine Áñez durch den Widerstand der sozialen Bewegungen und den Wahlerfolg von Luis Arce 2020 besiegt. Auch wurden der Anführer des Putsches, Luis Fernando Camacho, Áñez selbst sowie einige Militärs und Polizist*innen inhaftiert und der Prozess gemacht, aber das m.E. wichtigste historische Ziel, die Kontinuität des Proceso de Cambio zu unterbinden, ist erreicht worden.

Hugo Moldiz Mercado
ist ein bolivianischer Journalist und Politiker, der während der dritten Regierungsperiode von Präsident Evo Morales (2015-2019) für kurze Zeit das Amt des bolivianischen Regierungsministers innehatte. 2020 veröffentlichte er das Buch »Golpe de Estado. La Soledad de Evo Morales« (Ocean Sur).
Du hast in deinem Buch über den Staatsstreich auch von einer Art Erschöpfung des Proceso de Cambio gesprochen.
Ja, ich denke, es gibt eine Art Erschöpfung, die ungefähr ab dem Jahr 2014 einsetzte und die wir damals nicht richtig zu deuten wussten. Wir vermochten es einfach nicht, die inneren Widersprüche des Proceso de Cambio korrekt zu erkennen. Zweifellos muss dieser neu justiert werden, und zwar heute mehr denn je, denn die Welt seit der Pandemie ist eine andere. Die bolivianische Rechte nutzt diese Erschöpfung, um zu behaupten, dass der MAS und die sozialen Bewegungen keine Antwort mehr für das Land darstellen. Was sie aber selber vorschlägt, ist nicht nur die Rückkehr zum Neoliberalismus, sondern vielmehr die Einführung eines faschistoiden Ultraneoliberalismus, der heute ganz Lateinamerika und die Karibik bedroht.
Ein Ultraneoliberalismus a la Milei in Argentinien?
Definitiv. Das ist genau das, was uns droht, und es wäre eine Katastrophe. Alle sozialen und wirtschaftlichen Errungenschaften, die aller Widersprüche zum Trotz während des Proceso de Cambio erreicht wurden, würden zerstört werden. Man kann nur hoffen, dass es diese reelle Gefahr ist, die das progressive Lager zum Nachdenken bringt.
An anderer Stelle hast du gesagt, dass es innerhalb des MAS auch ideologische Unterschiede gibt.
Ja, denn der als »Politisches Instrument« konzipierte MAS hat nicht die eine dominante Ideologie, weder eine marxistische noch eine sich auf indigene Kosmovisionen stützende. Der Vorzug des »Politischen Instruments« hat historisch gesehen darin bestanden, dass es angesichts der Heterogenität Boliviens der Raum für die Konvergenz unterschiedlicher emanzipatorischer Projekte war. Die gemeinsame Basis war zwar eine antiimperialistische, antikoloniale und anti-neoliberale, aber trotzdem haben sich die verschiedenen Akteur*innen diesem Projekt auf unterschiedliche Weise genähert, einige vom Marxismus, andere vom sogenannten progressiven Nationalismus. Diese ideologischen Unterschiede bildeten letztlich eine Einheit im Sinne des ursprünglich von Antonio Gramsci und später von dem bolivianischen Soziologen Rene Zavaleta entwickelten Konzepts des „national-populären,“ einem in seiner Komplexität extrem vielfältigen und pluralistischen Phänomen gesellschaftlicher Selbstermächtigung.
Als alter Kenner des Marxismus weißt du, dass es Zeiten gibt, in denen die Menschen ideologisch das Gleiche denken, politisch aber unterschiedliche Positionen einnehmen. Nun, genau das ist es, was zurzeit in Bolivien geschieht, zwischen der Regierung Arce und dem, was ich den konservativen Nationalismus von Evo Morales nenne.
Sind die Unterschiede zwischen den beiden auch auf Fragen der Persönlichkeit, des Führungsstils oder des Egos zurückzuführen?
Es ist sicherlich ein wenig von allem. Im Allgemeinen sehe ich Luis Arce aufgrund seiner marxistischen Herkunft als etwas prinzipientreuer, auch wenn ihm diese Starrheit manchmal wenig Handlungsspielraum lässt. Evo Morales hingegen ist viel pragmatischer und weniger starr in seinen Grundsätzen. Aber macht das die beiden zu Antagonisten? Ich glaube nicht. Ich denke, dass in diesem Fall vor allem zwei Dinge im Spiel sind: der in Lateinamerika nach wie vor existierende Hang zum Caudillismo (Politik des »starken Mannes«, Red.) und die Besessenheit des ehemaligen Präsidenten Evo Morales, unbedingt wieder die Regierung zu führen.
Wie siehst du die Rolle der bürgerlichen Mittelschicht, die in den 14 Jahren der Regierung Morales einen so beeindruckenden Aufschwung erlebt hat? Sie scheint sich zurzeit kaum zu mobilisieren.
Ich war nach dem Coup 2019 erschrocken darüber, als sie nach dem Rücktritt Evos mit bolivianischen Fahnen auf die Straße ging und feierte, als hätte sich Bolivien für die Fußballweltmeisterschaft qualifiziert. Man konnte erkennen, dass sich diese Mittelschichten jahrelang politisch zurückgehalten und ihre Ablehnung gegenüber dem „national-populären“ Projekt nicht offen zum Ausdruck gebracht hatten, da sie de facto wirtschaftlich von der Regierungspolitik profitierten. Symbolisch fühlten sie sich allerdings nicht an der Macht beteiligt. Im Gegenteil, sie fühlten sich von den Arbeiter*innen, den Bäuer*innen, den Indigenas, dem Lumpenvolk, wie sie es nennen, von der politischen und symbolischen Macht verdrängt.
Dann, im Jahr 2019, sahen sie die Zeit für ihre Rückkehr gekommen, und auch heute unterstützen sie größtenteils eine rechte, faschistoide Alternative zum MAS. Es gibt aber immer noch einen kleinen Teil der Mittelschichten, der erneut ein alternatives politisches Projekt zum Kapitalismus und Neoliberalismus unterstützen könnte, welches nach wie vor nur vom MAS repräsentiert wird. Die Gefahr besteht darin, dass diese Mittelschichten, wenn sie einen gespaltenen MAS mit zwei Kandidaten sehen, sich weder für den einen noch für den anderen entscheiden, sondern in eine andere Richtung gehen.
Dies ist ein weiterer Grund dafür, warum Arce und Morales zum Dialog verpflichtet sind und einen Weg finden müssen, um ihre Widersprüche zu lösen, auch wenn dies im Moment unvorstellbar scheint.
Wenn wir uns daran erinnern, wie die Situation in Bolivien vor 2005 aussah und was dann alles gemeinsam erreicht wurde, es war wirklich historisch. Ebenso unglaublich war, dass der MAS nur eineinhalb Jahren nach dem Staatsstreich wieder die Regierung übernommen hat. Das jetzt alles wegzuwerfen, wäre absolut unverzeihlich.
Zu Beginn des Proceso de Cambio gelang es Evo, im Einklang mit den breiten Massen zu stehen, die durch ihren Widerstand 2003 den damaligen Präsidenten Sánchez de Lozada gestürzt und die sogenannte Oktober-Agenda ausgearbeitet hatten. Diese Agenda beinhaltete die Verstaatlichung der Gasvorkommen, die Abschaffung des Neoliberalismus, eine verfassungsgebende Versammlung und so weiter. Damals sahen wir einen Evo Morales, der das von den Massen aufgestellte Programm übernahm und es mit außerordentlichem Mut und Entschlossenheit durchführte. Das war der Evo, von dem wir uns alle gewünscht haben, dass er weiterhin existiert. Heute sehen wir einen Evo Morales, der seine Leute dazu bringt, dringend benötigte, die Wirtschaft fördernde Gesetze im Parlament zu blockieren und zugleich öffentlich Druck ausübt, die Amtszeit von Luis Arce zu verkürzen, damit die Wahlen vorgezogen werden können. Das ist sicherlich nicht der Evo, den wir wollen.
Es stellt sich also die Frage, ob der Proceso de Cambio der unumkehrbare Bruch mit der Jahrhunderte alten imperialen und kolonialen Herrschaft gewesen ist, oder ob er lediglich ein Intermezzo war für dessen Rückkehr. Ich weiß es nicht. Trotzdem hoffe ich natürlich, dass die verlorene Einheit noch wiedererlangt und das progressive Lager sich neu formieren kann, vor allem mit Hinblick auf die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im nächsten Jahr. Ohne diese Einheit wird der Feind die Wahlen gewinnen.
Möchtest du abschließend noch etwas hinzufügen?
Ich möchte mich noch bei allen linken und progressiven Kräften entschuldigen, für die Art und Weise, wie zurzeit in Bolivien gekämpft wird. Dabei ist es völlig in Ordnung, dass es zu Widersprüchen kommt. Was nicht geht, ist, dass es immer weniger ums Politische geht und stattdessen das Persönliche immer mehr im Vordergrund steht. Der beste Weg, dies zu überwinden ist, sich wieder für die Einheit und den Dialog einzusetzen. Ich möchte daher meine Dankbarkeit für die zahlreichen Initiativen zum Ausdruck bringen, die von renommierten lateinamerikanischen Intellektuellen wie dir ergriffen wurden, um beide Seiten zusammenzubringen.
Dieses Gespräch basiert auf einem Radiointerview. Verschriftlicht wurde es auf der bolivianischen Website La Época.
Übersetzung: Hjalmar Jorge Joffre-Eichhorn