Shame on you, EU
Mit der Verschärfung des gemeinsamen Asylrechts verabschiedet sich Europa endgültig von menschenrechtlichen Standards – Protest gibt es kaum
Ein bisschen Stoff haben manche von ihnen am Leib, ein bisschen Stoff, um sich vor der stechenden Sonne zu schützen. Sonst ist hier nichts. Es hat über 40 Grad an diesem Ort, an dem sie seit Tagen verharren, ohne Wasser, ohne Kompass, in allen Richtungen ist nur Sand zu sehen und das gleißende Licht. Einige von ihnen sind in den vergangenen Stunden gestorben, verdurstet, schwangere Frauen und Kinder.
Sie waren mehrere Hundert Menschen, als sie jeweils in Gruppen hierher verschleppt wurden. In ihren Wohnungen in Sfax, einer Hafenstadt in Tunesien, wurden sie von der Polizei und vom Militär festgenommen, auf der Straße aufgegriffen, in Lastwägen gesperrt und in die Wüste gekarrt. Ihre Handys und ihre Papiere wurden ihnen abgenommen und zerstört. Unter ihnen sind Menschen, die seit Jahren in Tunesien leben, die dort studieren und eine Aufenthaltserlaubnis haben, andere sind auf der Flucht nach Europa, wo sie ihr Recht auf Asyl in Anspruch nehmen wollten – ein Recht, das seit seiner Einführung noch nie so wenig galt wie heute. Gemeinsam haben die Menschen, dass sie aus Ländern der Subsahara kommen. Dass sie in den Augen der tunesischen Behörden wie Migrant*innen aussehen. Sie wurden in das tunesisch-libysche Grenzgebiet verschafft und dabei misshandelt, geschlagen und vergewaltigt.
Deal mit Tunesien
Nur wenige Tage, nachdem diese Verschleppung öffentlich geworden war, nachdem ein Mann, der es irgendwie geschafft hatte, sein Handy mitzunehmen, Human Rights Watch kontaktiert hatte und schließlich das Internationale Rote Kreuz und andere Menschenrechtsorganisationen einige der Menschen gerettet hatten, fanden sich in Tunis EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte und Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni ein. Sie gaben Tunesiens Machthaber Kais Saied die Hand und grinsten in die Kameras: Gratulation!
Die EU hat einen neuen Deal zur Migrationsabwehr geschlossen. Tunesien soll als sicherer Drittstaat gelten, in den nun Menschen, die in Europa Schutz suchen, schneller abgeschoben werden können und an den die EU bis zu 900 Millionen Euro zahlt, damit der tunesische Staat die Menschen an der Weiterreise Richtung Europa hindert.
Knapp sechs Wochen zuvor hatten sich die EU-Regierungen im Innenrat nach jahrelangem Ringen auf ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem (GEAS) geeinigt, mit dem sie nicht einmal mehr vorgeben, am Asylrecht festhalten zu wollen. Die gemeinsame Verordnung signalisiert: Wir wollen die Grenzen hochziehen – und zwar um jeden Preis.
Die Verordnung signalisiert: Wir wollen die Grenzen hochziehen – und zwar um jeden Preis.
Diese Einigung zeichnete sich schon beim EU-Gipfel Anfang Februar ab, als sich das rechte Lager erstmals mit Forderungen durchsetzen konnte, die es seit Jahren vorgetragen hatte (ak 690, 676), für die es nach den Wahlen in Italien und Griechenland, nach einem weiteren Rechtsruck also, nur noch mehr Zustimmung gab: Die EU solle direkt Gelder in »Infrastruktur« zur Abschottung investieren, in Zäune, Mauern und Überwachungstechnik. Bereits in der Vergangenheit hatte die Kommission der Agentur Frontex und den Mitgliedsstaaten an den Außengrenzen Gelder zukommen lassen, um sogenannte irreguläre Migration zu stoppen. Als gäbe es für Flüchtende reguläre Wege nach Europa. Kroatien wurde etwa mit dem Schengenbeitritt belohnt, weil in den vergangenen Jahren weniger Asylsuchende über die so genannte Balkanroute nach Europa gelangten. Wie die Länder dabei jeweils vorgingen, wollte die Kommission gar nicht wissen. Als Journalist*innen und Menschenrechtsorganisationen Pushbacks und den Einsatz von Elektroschockern, Schlagstöcken sowie Pfefferspray gegen Geflüchtete aufdeckten, beteuerten EU-Politiker*innen noch Aufklärung der Rechtsbrüche. Davon ist nun keine Rede mehr.
Seehofers später Sieg
Ursprünglich ging es bei der Idee eines gemeinsamen europäischen Asylsystems darum, die Länder an den Außengrenzen zu entlasten und Geflüchtete – auch nach ihren Wünschen – gleichmäßig zu verteilen, um dann faire Asylverfahren zu ermöglichen. Die nun beschlossenen Regelungen zum GEAS machen genau das Gegenteil: Erstens halten sie am Dublin-System fest. Die Mitgliedsstaaten an den Außengrenzen, die seit Jahren systematisch Recht brechen, sollen weiter für alle Ankommenden zuständig sein. Zweitens sieht das GEAS vor – so wie es einst der damalige Innenminister Horst Seehofer unter großem Protest der SPD und vor allem der Grünen vorbrachte –, dass die Ankommenden durch Inhaftierung an der Weiterreise gehindert und in angeblich »sichere Drittstaaten« zurückgedrängt werden. So werden Pushbacks nun quasi legalisiert: Das rechtliche Konstrukt der »Fiktion einer Nichteinreise«, der zentrale Beschluss des GEAS, setzt das Grundrecht auf Asyl aus, indem es ermöglicht, Asylsuchende ohne inhaltliche Prüfung ihrer Asylgründe zurückzuweisen. Menschen, die bereits europäischen Boden erreicht haben.
Kurz nach der Einigung der Innenminister*innen kamen bei einem vermeintlichen Bootsunglück vor der Küste Griechenlands mehrere hunderte Menschen ums Leben. Eine davon war Issra Oun, wie der NDR dokumentiert, eine 22-jährige Frau aus Syrien, deren Mann längst in Hamburg Asyl bekommen hatte und bei der Post arbeitete, der aber seine Frau nicht auf legalem Weg nachholen konnte – wegen ihrer mangelnden Deutschkenntnisse. Die Grünen beteuerten, den Familiennachzug erleichtern zu wollen, doch die Bundesregierung erwartet neben anderen Dingen auch erfolgreiche Deutschtests von Menschen, die wie Issra Oun seit zwölf Jahren in einem Camp für syrische Kriegsflüchtlinge in Jordanien verharren. Die junge Frau ertrank im Mittelmeer genau wie etwa 100 Kinder, die an Bord waren. Wie nun ein internationales Rechercheteam aus Forscher*innen und Journalist*innen nachwies, sank das Boot wohl nicht einfach so, sondern als Folge eines Pushback-Manövers Griechenlands. Die griechische Küstenwache hatte laut des Berichts versucht, es mit einem destabilisierenden Manöver in italienische Gewässer zu bewegen, statt die Menschen auf das griechische Festland zu befördern, wozu sie gesetzlich verpflichtet wäre. Genauer: Wozu die bislang geltenden Gesetze sie verpflichtet hätten. Gesetze, die mit dem GEAS an Geltung verlieren.
Vielen noch nicht repressiv genug
Kritik an dieser Aushöhlung des Asylrechts brachte nicht etwa die deutsche Bundesregierung vor, in deren Koalitionsvertrag es noch geheißen hatte: »Wir wollen die illegalen Zurückweisungen und das Leid an den Außengrenzen beenden.« Nein, Polen und Ungarn protestierten, weil das GEAS den Rechten noch nicht repressiv genug ist.
Noch repressiver, noch menschenverachtender als die Beschlüsse, auf die man sich im GEAS bereits geeinigt hat, war dann auch das Papier, das der Europäische Rat im Juli unter dem Titel »Verordnung im Fall von Krisen, höherer Gewalt und Instrumentalisierung« diskutierte. Einige EU-Mitgliedstaaten hatten den Vorschlag aus dem Jahr 2021 wieder eingebracht, um von den schon krass abgesenkten Standards noch weiter abweichen und Geflüchtete – auch Kinder wären hiervon nicht mehr ausgenommen – etwa noch länger in den Haftlagern festhalten zu können als ohnehin schon geplant. Als Krise soll nach der vagen Definition des Vorschlags eine Situation gelten, in der viele Menschen auf einmal an den Außengrenzen ankommen oder ein Nicht-EU-Land Geflüchtete »instrumentalisiert«, so wie zuletzt an der belarussisch-polnischen Grenze. Während die Bundesregierung noch über ihre Position zu dem Papier beriet, warnte eine Koalition von fast hundert europäischen Menschenrechts- und Flüchtlingsorganisationen in einem öffentlichen Appell das EU-Parlament und die Mitgliedsstaaten, nicht noch tiefer zu sinken. Ende Juli votierte die Bundesregierung im Rat gegen den Entwurf, die Gespräche dazu scheiterten vorerst.
Eine breitere Öffentlichkeit schien von den Plänen zur »Krisenverordnung« allerdings überhaupt nichts mitzukriegen. Beziehungsweise: sich nicht dafür zu interessieren. So war es auch schon in den Monaten vor dem GEAS-Beschluss: NGOs wie etwa Human Rights Watch, Sea Watch, Amnesty International und Pro Asyl hatten Wochen vor der Abstimmung zur GEAS-Reform Alarm geschlagen. Reaktion auf ihre Warnungen gab es kaum.
Auch für die Proteste der Betroffenen selbst interessiert sich kaum noch jemand. Ende Juni riefen Geflüchtete vor allem der Gruppe Refugees in Libya, von denen mehrere hunderte zuvor in libyschen Lagern interniert waren, zusammen mit Hilfsorganisationen in Brüssel zu einer Großdemonstration auf. Aktivist*innen der Initiative Alarm Phone, die eine Notrufnummer für Geflüchtete in Seenot betreibt, verlasen parallel dazu drei Tage lang vor dem EU-Parlament rund 1.300 Emails, die sie seit Januar an staatliche Rettungsstellen geschickt hatten. Man wolle die Institutionen mit »den Stimmen und Forderungen der Flüchtlinge konfrontieren, die ihre unmenschliche Politik der Grenzabschottung überlebt haben oder noch erleben«, hieß es im Aufruf zur Demo. »Institutionen, die für das endlose Leid und den Tod an den Grenzen Europas, aber auch für die unmenschlichen Bedingungen für Flüchtlinge und Migranten in Libyen, Tunesien und Niger verantwortlich sind.«
Das Thema in den Fokus rücken
Die Demonstration blieb klein. Dem Appell, aus ganz Europa anzureisen, waren kaum linke Gruppen aus den EU-Ländern gefolgt. Und kaum ein Medium berichtete darüber. Die Öffentlichkeit, so resümierte es der Deutschlandfunk bereits im Februar, zu einer Zeit, da die konkreten Pläne für das GEAS gerade bekannt wurden, sei beim Thema Asyl zunehmend abgestumpft.
Im ersten Halbjahr 2023 ertranken 1.874 Menschen auf der Flucht nach Europa – so viele wie seit 2017 nicht mehr. Jede Woche sterben im Mittelmeer 11 Kinder beim Versuch, die EU zu erreichen. Die meisten Asylsuchenden kommen immer noch aus Syrien, wo Krieg und eine Diktatur sie vertreiben. Die zweitgrößte Gruppe flieht aus Afghanistan – darunter weiterhin Menschen, die für deutsche Institutionen arbeiteten und deshalb von den Taliban ermordet werden. 2018 folgten den Aufrufen der »Seebrücke« in verschiedenen deutschen Städten jeweils mehrere tausend Menschen. Allein in Hamburg nahmen damals an einem Demo-Zug mehr als 16.000 Menschen teil. Und auch im März 2020 skandierten in Berlin noch Tausende aus Solidarität: »Europe, don’t kill! Open the borders – Wir haben Platz«, »Shame on you, EU« und »Nazis morden – Grenzen auch. Schluss damit«.
Was ist heute aus dieser Solidarität geworden? Wo sind die Demonstrationen, die Massenproteste jetzt, da die Rechten ihre Agenda an den Außengrenzen endgültig durchsetzen?
2023, in einer Zeit, in der die EU beschließt, Asylsuchende systematisch einzusperren und ohne Prüfung ihrer Fluchtgründe zurückzudrängen, als sei ihre Flucht ein Verbrechen, und in der wiederum die Verbrechen der mörderischen Pushbacks legal werden, in jener Zeit ist es still auf den Straßen.