Kampf im Volksheim
Die Schwedendemokraten treiben die Regierung immer weiter nach rechts
Von Gabriel Kuhn
Der 22. Januar war ein harter Tag für Schwedens Ministerpräsidenten Ulf Kristersson. Am Tag zuvor hatte der extrem rechte Provokateur Rasmus Paludan einen Koran vor der türkischen Botschaft in Stockholm verbrannt. Der türkische Präsident Recep Erdoğan ließ daraufhin verkünden, dass die türkische Regierung beim Veto gegen den schwedischen Nato-Beitritt bleibe. Dabei hatte die schwedische Regierung alles getan, um Erdoğan zufriedenzustellen. Sogar PKK-Verdächtige wurden an die Türkei ausgeliefert, bis vor wenigen Monaten noch unvorstellbar.
Als Kristersson nach der Koranverbrennung versuchte, die Wogen zu glätten, indem er Verständnis für die Empörung von Muslim*innen zeigte, bekam er vom Vorsitzenden der Schwedendemokraten, Jimmie Åkesson, eine aufs Dach. Åkesson meinte, die Meinungsfreiheit sei ein hohes Gut, das man nicht einfach wegen ein paar gekränkter Muslim*innen über Bord werfen dürfe. Das Problem für Kristersson: Die von ihm angeführte Rechtskoalition ist auf die Unterstützung durch die Schwedendemokraten, die in den 1980er Jahren im neonazistischen Milieu des Landes gegründet worden waren, angewiesen. Aus den Parlamentswahlen im September 2022 gingen sie als zweitstärkste Partei hervor.
Kristersson Regierung ist seit Mitte Oktober im Amt. Die Koalition besteht aus den Moderaten (deren Vorsitzender Kristersson ist), den Christdemokraten und den Liberalen. Eine Regierungsbeteiligung für die Schwedendemokraten wäre noch zu früh gekommen. Noch vor vier Jahren waren sich alle anderen Parteien einig, niemals mit ihnen zusammenzuarbeiten. Doch nun treiben die Schwedendemokraten die Regierung de facto vor sich her. Ohne ihre Unterstützung ist die Koalition Kristerssons nicht überlebensfähig. In der Regierungskanzlei haben die Schwedendemokraten ein eigenes Büro bezogen, und das Regierungsprogramm ist wesentlich von ihnen geprägt, vor allem in der Migrations- und Sicherheitspolitik. Bezeichnend, dass Åkesson bei der Präsentation nicht nur mit auf dem Podium stand, sondern auch als Erster sprach und die längste Redezeit in Anspruch nahm.
In der Regierungskanzlei haben die Schwedendemokraten ein eigenes Büro, obwohl sie nicht Teil der Regierungskoalition sind.
Um sich im Januar aus seiner misslichen Lage zu befreien, bediente sich Kristersson eines Themas, das er bereits im Wahlkampf schamlos ausgebeutet hatte: die »Bandenkriminalität«. Denn just an dem Wochenende, an dem Paludan einen Koran verbrannte, kam es im Großraum Stockholm zu mehreren Schießereien und Bombenanschlägen, mindestens zwei Menschen starben. Kristersson betont gerne, dass es für die »Weltfremdheit« seiner sozialdemokratischen Vorgängerregierung spräche, dass in deren Regierungsprogramm von 2018 das Wort »Bandenkriminalität« nicht auftaucht. Im Programm der Regierung Kristersson ist dauernd von ihr zu lesen. Im Wahlkampf forderte Kristersson eine Verdopplung der Strafen, sollte eine Gesetzeswidrigkeit in Zusammenhang mit der Bandenkriminalität stehen, er sprach gar von ihr als »einheimischen Terrorismus«.
Dass Bandenkriminalität in Schweden ein Problem ist, ist keine Erfindung Kristerssons. Was den Gebrauch von Schusswaffen und Bomben zwischen rivalisierenden Gruppen angeht, die illegale Geschäfte machen, liegt Schweden europaweit im Spitzenfeld. Dass nach den Anschlägen im Januar primär nach dem »kurdischen Fuchs« gefahndet wurde, zeigt jedoch, dass es hier um mehr geht. Von Bandenkriminalität wird ausschließlich in Zusammenhang mit jungen Männer aus den »Vororten« der schwedischen Städte gesprochen. Diese sind geografisch isoliert, migrantisch geprägt und sozial vernachlässigt.
Die Bandenkriminalität wurde erst zu einem landesweit tauglichen Thema, als im Oktober 2021 der 19-jährige Rapper Nils »Einár« Grönberg erschossen wurde. Einár war der Sohn einer bekannten schwedischen Schauspielerin, hatte keinen sogenannten Migrationshintergrund und wurde in einem hippen Stadtteil im Stockholmer Zentrum erschossen, wo seine Wohnung lag. Ulf Kristersson meinte damals: »Jetzt kann es jeden treffen, überall. Es ist fürchterlich. Auch Menschen in Stadtteilen, in denen ganz gewöhnliche Familien wohnen.«
Außerhalb Schwedens stellt man sich oft die Frage, wie sich dieses Land, das lange als sozialdemokratisches El Dorado galt, so entwickeln konnte. Man schwelgt in Erinnerungen an Olof Palme, den weltweit verehrten früheren sozialdemokratischen Ministerpräsidenten, der im Februar 1986 auf offener Straße in Stockholm erschossen wurde. Dabei wird übersehen, dass der Klassenkampf in Schweden nie verschwunden war. Die Sozialdemokratie errang in den 1920er Jahren eine hegemoniale Macht, die sie bis in die 1980er Jahre verteidigen konnte. Diese Macht beruhte jedoch nicht auf einem Sieg über das Bürgertum, sondern auf einem ausgeprägten Klassenkompromiss. Friede-Freude-Eierkuchen herrschte nie. Letzte Untersuchungen legen übrigens nahe, dass es sich bei Palmes Mörder um einen Waffenliebhaber aus bürgerlichen Kreisen gehandelt habe.
Mit dem Triumphzug des Neoliberalismus in den 1990er Jahren wurde die schwedische Gesellschaft radikal umgekrempelt – nicht zuletzt mithilfe sozialdemokratischer Regierungen, die auf den neoliberalen Zug aufsprangen, um nicht die Macht zu verlieren. Seither wird der Wohlfahrtsstaat abgebaut, Kliniken, Schulen und der öffentliche Verkehr sind privatisiert, die Einkommensunterschiede wachsen. Dass in diesem Klima rechte Kräfte gedeihen, die der relativ großzügigen schwedischen Migrationspolitik der letzten Jahrzehnte die Schuld für den sozialen Verfall geben, ist kein Wunder. Tragisch ist, dass es im Moment ausgerechnet diese Kräfte sind, die dem vollständigen Ausverkauf des Wohlfahrtsstaats im Wege stehen, da sie sich als nationale Verteidiger des schwedischen »Volksheimes« inszenieren, das die Sozialdemokraten einst aufzubauen beanspruchten. Es ist einiges faul im Staate Schweden.