Das frierende Klassenzimmer
Warum es in der Pandemie einen Weg zwischen »Schule offen« und »Schule zu« braucht
Von Carina Book und Bilke Schnibbe
Wenn Anne morgens um 7.15 Uhr in die Schule kommt, sind noch keine Schüler*innen da. Die 32-jährige Lehrerin versucht, den großen »Schülerströmen«, wie sie sie nennt, aus dem Weg zu gehen. Anne gehört selbst einer Corona-Risikogruppe an. Eine Freistellung von der Arbeit wurde ihr nicht gewährt. Für Anne bedeutet das, dass sie in ihrer Arbeitszeit zwischen 7.15 Uhr und 16.00 Uhr ihre FFP2-Maske nicht absetzen kann. Schulen seien sichere Orte, versprechen die Kultusminister*innen aller Orten. Sicher ist aber vor allem, dass die Schulen als Verwahranstalten für Kinder von lohnabhängigen Eltern um jeden Preis offengehalten werden sollen, damit kein wirtschaftlicher Schaden durch Fehlzeiten von Eltern entsteht.
Die Infektionszahlen legen offen, dass die Schulen mitnichten als sichere Orte in der Pandemie gelten können: Die Sieben-Tage-Inzidenz in der Altersgruppe der 15- bis 19-Jährigen liegt in Berlin bereits über 300. Anfang November sind bundesweit bereits 3.200 Schulen komplett oder teilweise geschlossen. Ein Massentest an der Hamburger Ida-Ehre-Schule zeigte, dass fünf Prozent derjenigen, die sich täglich an der Schule aufhalten, bereits mit dem Virus infiziert sind – ein im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung überdurchschnittlicher Wert. Wirklich verwunderlich ist das nicht: Hygienekonzepte sind in Einrichtungen mit mehreren Hundert Kindern kaum umsetzbar.
Eine erneute Schulschließung befürwortet Lehrerin Anne dennoch nicht: »Ein wesentlicher Teil von Schule sind die sozialen Kontakte und die kann man nicht mit Zoom-Konferenzen substituieren. Es ist wichtig, dass Kinder und Jugendliche sich austauschen und auch mal herumalbern können. Das senkt auch das Konfliktpotenzial im häuslichen Umfeld enorm«, sagt sie. Auch die erhöhte Nachfrage bei Frauenhäusern und Jugendämtern zeigt, dass vollständige Schulschließungen keine gute Lösung in der Corona-Pandemie sind. Vor dem Virus sind eben nicht alle gleich. Prekäre ökonomische Verhältnisse, schwierige soziale Situationen im Wohnumfeld oder mangelnder Zugang zu digitalen Schulmaterialien verunmöglichen gute Bildung.
Der Goldregen bleibt aus
Und wann immer die Schulbehörde über Online-Lehre spricht, lacht irgendwo ein Stadtteilschullehrer. So wie Jan. »Die Stadt Hamburg wollte, dass die Kinder beim Homeschooling ihre eigenen Geräte nutzen. Bei uns an der Schule hatte die Hälfte der Kinder aber nicht mal einen Computer und musste sich ein Handy mit den Geschwistern teilen«, erzählt der 35-Jährige. »Die Bonzen-Kids aus dem Westen von Hamburg konnten einfach per Video unterrichtet werden, weil die Schulvereine hatten, die mal eben Lizenzen für Zoom und Co. bezahlt haben. Digitalisierung ist super, aber nicht, wenn die Hälfte nicht mitspielen beziehungsweise mitlernen darf.«
Schon vor einem Jahr hatte der Bund den fünf-Milliarden-schweren »Digital Pakt Schule« (ak 648) beschlossen. Der Aufbau digitaler Infrastruktur, eigenes WLAN und die Ausstattung mit Endgeräten sollten damit realisiert werden. Seit Beginn der Corona-Pandemie hat der Bund sogar noch eine halbe Milliarde draufgelegt. Doch von den verfügbaren Mitteln wurden bis zum Stichtag am 30. Juni nur 15,7 Millionen abgerufen. »Bei uns an der Stadtteilschule ist von diesem Goldregen wenig zu spüren. Es wurde auch versprochen, dass jeder Lehrer einen Rechner kriegen sollte, aber ich kenne niemanden, der einen Rechner bekommen hätte.« Kein Wunder, denn von der Antragsstellung bis zur Auszahlung ist es ein steiniger Weg: Die Schulen stellen einen Antrag, die Schulträger müssen prüfen, das Land bewilligt, dann geht es nach Berlin – das dauert. In Jans Stadtteilschule aber passierte dann doch etwas: »Bei uns liegen jetzt 200 iPads im Keller. So ein iPad kann ja eine feine Sache sein, nur nützt es ja nichts, wenn das niemand einrichten kann. Und daran scheitert es gerade tatsächlich.« Keine guten Vorzeichen für erneute Schulschließungen.
Trotzdem könne es so, wie es jetzt ist, auch nicht weiter gehen, meint Anne. Die aktuelle Corona-Situation an den Schulen sei eine Überforderung für alle – egal ob Lehrkraft oder Schüler*in. Manche Kinder seien in Sorge, dass sie sich in der Schule mit dem Coronavirus infizieren und ihre Eltern oder Großeltern dadurch in Gefahr bringen könnten. Vielen sei die Anspannung förmlich anzusehen: »Die Schülerinnen und Schüler haben das Gefühl, dass sie Teil eines Experimentes sind«, sagt die Lehrerin.
Ernsthaft experimentiert wird in den Schulbehörden aber nur damit, den Schulbetrieb von vor der Pandemie möglichst Corona-konform nachzubilden. Heraus kommt eine Jonglage mit Desinfektionsmitteln, Masken, Plexiglasscheiben, Heizdecken, Winterjacken und Thermoskannen. Das ist alles sicherlich gut gemeint, aber in der aktuellen Krise stellt sich umso mehr die Frage, was eigentlich die Aufgabe von Schule ist. Die Vehemenz, mit der die Vermittlung von Mathe, Deutsch und Englisch und die entsprechende Benotung aufrechterhalten werden soll, ist absurd. Oder wie einige kluge Grundschullehrer*innen in einem Beitrag auf dem Blog »Solidarisch gegen Corona« schrieben: »Kinder sollen in der Krise weiter das kleine Einmaleins pauken, damit sie vordergründig kompetent sind für eine Welt von morgen, von der wir gerade noch weniger als sonst wissen, wie sie aussehen wird und was es in ihr zu können gilt.«
Was ist Bildung in Pandemiezeiten?
Auch unter den Schüler*innen regt sich zunehmend Widerstand. In einem offenen Brief wendet sich das Schüler*innenbündnis aus Nordrhein-Westfalen an die Politik: »Sie haben in den vergangenen Monaten nichts Effektives zu Tage gebracht. Warum ist ihnen auch nur jeder weitere Euro für Bildung zu viel? Warum werden keine kreativen Lösungsansätze verfolgt? Warum wird jeder Funken Selbstinitiative bereits im Keim erstickt? Warum ignorieren Sie UNS, unsere Lehrer*innen und Eltern?«
Die Antworten darauf sind so einfach wie unbefriedigend: Zum einen liest sich ein Zehn-Punkte-Plan in einer akuten Krisensituation besser, als grundlegend über den Sinn und Unsinn von Noten zu diskutieren. Zum anderen soll am Status quo von Schule als Leistungs- und Disziplinierungsanstalt nicht gerüttelt werden. Und dann ist da noch das schon vor der Pandemie organisierte Ressourcendesaster: Lehrkraftmangel, zu große Lerngruppen, zu kleine Räume, zu schlechte Ausstattung, zu wenig Digitalisierung.
Viele Lehrkräfte geben sich die allergrößte Mühe, auch in dieser Zeit gute Pädagog*innen zu sein und die Kinder und Jugendlichen in der Bewältigung der Pandemieerfahrung zu unterstützen. Doch 28 Schüler*innen in einer Klasse gerecht zu werden war schon vor der Pandemie unmöglich. Dass individuelle Betreuung in der Schule viel zu kurz kommt, gereicht Schulbehörden und Gesundheitsämtern im Moment sogar zum Vorteil, wie Anne berichtet: »Wenn sich ein Schüler aus meiner Klasse mit dem Coronavirus infiziert hat, bedeutet das noch lange nicht, dass die ganze Klasse in Quarantäne gehen muss. Nicht mal ich als Lehrerin, die danach weiter von Klasse zu Klasse hüpft. Dann könnte man die Schule wahrscheinlich auch Ruckzuck wieder dichtmachen.« Für sie sei erst dann eine Quarantäne vorgesehen, wenn sie länger als 15 Minuten mit weniger als 1,5 Metern Abstand mit der infizierten Person verbracht habe. Anne lacht: »Als ob das im Schulbetrieb jemals vorkommen würde.«
Schule auf oder zu?
Die Kultusminister*innen machen es sich zu einfach, wenn sie sagen: »Lüften, lüften, lüften«. Was es bräuchte, wären mutige Veränderungen: Denkt man über Schule in der Pandemie nach, kann man nicht bei der Imitation des Schulbetriebs vor Corona stehen bleiben. Neben mehr Personal, der Reduktion der Lerngruppen auf etwa ein Dutzend und einer digitalen Infrastruktur, die über im Keller herumliegenden iPads hinausgeht, müsste grundsätzlich über die Rolle von Schule in der Gesellschaft nachgedacht werden. Wie weit entfernt solche Visionen auch für nach der Pandemie sind, zeigt sich aber an der Argumentation, mit der an Schulöffnungen festgehalten wird. Veronika Grimm, Mitglied im Sachverständigenrat der Bundesregierung zur Wirtschaftsentwicklung, warnte beispielsweise Anfang November davor, dass junge Menschen schlechtere Zukunftschancen hätten, wenn die Schulen in der zweiten Welle wieder geschlossen würden. Als wären Benotung und Einsortierung nach Leistung in Stein gemeißelt.
Hätten wir ein Bildungssystem, das darauf abzielt, den Lernerfolg nicht in Zahlen zwischen eins und sechs zu bemessen, sondern eines, das nach den Problemen fragen und gemeinsam nach der Verbesserung suchen würde, bräuchten wir nicht darüber reden, welcher technische Weg geebnet werden muss, damit in einer Klassenarbeit die nötige Punktzahl für ein Ausreichend erreicht wird. Für allgemeinbildenden Unterricht und forschendes Lernen, also Wissensaneignung, in der die Schüler*innen als Subjekte einen eigenständigen und aktiven Prozess erleben und nicht passiv beschult werden, wäre Schule auch nicht an ein festes Gebäude gebunden. Das Lernen könnte in der Stadt und in der Natur stattfinden, genauso wie es in (für Besucher*innen geschlossenen) Museen und in der Werkstatt stattfinden könnte. Viren hassen diesen Trick. Sicher, manche werden sagen: Hätte, hätte, Fahrradkette. Aber der einzige Weg zwischen »Schule offen« und »Schule zu« ist einer, der danach fragt, wie Schule anders sein könnte, als sie es vor der Pandemie war.