Debatte mit Scheuklappen
Im Wahlkampf wollen plötzlich viele durch neue Schulden Investitionen ankurbeln – über neue Einnahmen schweigt man lieber
Von Robin Waldenburg

Wie auch immer die neue Bundesregierung aussehen wird, eines steht bereits fest: Sie wird viel Geld brauchen. Nahezu an allen Ecken und Enden sind enorme Investitionen nötig, darüber herrscht Einigkeit über Parteigrenzen hinweg. Allein um Klimaschutz, Bildung und Digitalisierung adäquat zu finanzieren, sind den Ökonom*innen Monika Schnitzer und Achim Truger vom Sachverständigenrat Wirtschaft zufolge jährliche Ausgaben in zweistelliger Milliardenhöhe vonnöten. Und dabei noch gar nicht mitbedacht sind die marode Infrastruktur, der katastrophale Zustand der Bahn, die mangelnde Ausstattung von Schulen, der stockende Wohnungsbau – und, und, und.
All dies ist nicht zuletzt Konsequenz aus 16 Jahren CDU-geführter -Bundesregierung, in denen geflissentlich ignoriert wurde, dass jeder Euro, der nicht in die Zukunft investiert wird, später doppelt und dreifach ausgegeben werden muss. Das gilt ganz besonders beim Klimawandel – schon jetzt sind die Folgen, wie zum Beispiel die Häufung von Extremwetterereignissen, auch volkswirtschaftlich zu spüren. Immer stärker in die Diskussion gerät deshalb ein finanzpolitisches Instrument, das Zukunftsinvestitionen mit der Kraft einer verfassungsrechtlichen Regelung hemmt: die Schuldenbremse.
Eingeführt wurde die Schuldenbremse im Jahr 2009 unter der Regierung Merkel im Hinblick auf die hohe Staatsschuldenquote Deutschlands, die 2010 einen Höchststand von 80,9 Prozent erreichte. Das widersprach EU-Regeln: Im Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP) von 1997 ist festgelegt, dass der Schuldenstand eines Mitgliedstaates 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) nicht überschreiten darf. Trotz eines Rückgangs befand sich die Quote 2023 für Deutschland mit 64,8 Prozent immer noch über den sogenannten Konvergenzkriterien der EU, die jedoch eine willkürliche Begrenzung darstellen: Es gibt keine wissenschaftliche Grundlage für diesen Wert. Grundsätzlich gilt es als ökonomisch rational, in konjunkturell schwächeren Phasen Kredite aufzunehmen, um Investitionen zu tätigen, und diese in Phasen des Aufschwungs wieder zurückzuzahlen. Uneinigkeit gibt es bei der Frage, wie viele Schulden zu viel sind. Im internationalen Vergleich liegt Deutschland ungefähr im Mittelfeld – Alarmismus jedenfalls scheint unangebracht.
Es sind nicht zu hohe Staatsausgaben, die für die hohe Staatsverschuldung verantwortlich sind, sondern die Macht der besitzenden Klassen, sich und den Markt gegen kollektive Eingriffe abzusichern.
Ohne Zweifel ist es deshalb richtig, dass sich immer größerer Widerstand gegen die Schuldenbremse formiert – in Anbetracht der Herausforderungen des notwendigen sozialökologischen Wandels ist die Schuldenbremse vor allem eine Zukunftsbremse. Dennoch wird aktuell eine Debatte mit Scheuklappen geführt. Zwar liegen Kritiker*innen der Schuldenbremse nicht falsch, wenn sie darauf beharren, Staatsschulden seien etwas völlig Normales. Doch in der Diskussion um die Schuldenbremse zeigt sich ein völlig verengter Blick auf die Finanzierung der Staatsausgaben: Die implizite Annahme, die Aufnahme von Schulden sei die einzige Möglichkeit, den finanziellen Spielraum des Staates zu erweitern, wird überhaupt nicht hinterfragt.
Vom Steuer- zum Schuldenstaat
Die Entstehung dieser Annahme ist eng mit dem Souveränitätsverlust von Staaten gegenüber internationalen Märkten und dem Finanzkapital verbunden. In dem Buch »Gekaufte Zeit« beschreibt der Soziologe Wolfgang Streeck diese Entwicklung als das Ende des »Steuerstaates«. Da beginnend in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg die Fähigkeit des Staates gesunken sei, der »besitzbürgerlich dominierten Zivilgesellschaft (…) die Mittel abzuringen, die er zur Erbringung der von ihm geforderten Leistungen benötigen würde«, hätten sich viele moderne Staaten irgendwann nicht mehr in der Lage gesehen, ihre Ausgaben durch Steuereinnahmen zu decken. Steuererhöhungen, insbesondere für die Reichsten der Gesellschaft, schienen politisch schlicht nicht mehr durchsetzbar.
Resultat war das Modell des sogenannten Schuldenstaats, in dem ein großer Teil der Ausgaben durch Kreditaufnahme bedient wird. Für Deutschland lässt sich empirisch zeigen, dass es ab den 1970er Jahren einen starken Anstieg der Staatsschulden gab: von umgerechnet 64 Milliarden Euro im Jahr 1970 auf 239 Milliarden zehn Jahre später bis zu einem vorläufigen Höchststand von 2,07 Billionen im Jahr 2012. Ähnlich sieht es aus, wenn man die Schuldenquote betrachtet, das heißt die Schulden in Relation zum BIP. Der extremste Anstieg fällt hier auf die Zeit zwischen 1970 und 1995, nämlich von 17,8 Prozent auf 55,1 Prozent des BIP – während der bisheriger Höchststand von 78,4 Prozent im Jahr 2010 zu verzeichnen ist (allerdings wurde die Art und Weise der Erhebung in diesem Jahr geändert, was die Zahl im Vergleich höher erscheinen lässt).
Der innere Widerspruch des »Schuldenstaats«, so Streeck, liegt in der Untergrabung der eigenen Voraussetzungen: Steigen die Verbindlichkeiten immer weiter an, wird auch die Wahrscheinlichkeit der Rückzahlung geringer, was die Bereitschaft der Gläubiger mindert, das Spiel weiter mitzuspielen. Da also langfristig Sorgen der Finanzkapitalist*innen um ihre Ansprüche aufkommen, vollzieht sich an einem gewissen Punkt ein weiterer Paradigmenwechsel hin zum »Konsolidierungsstaat«. Dieser zielt auf die Eindämmung der Staatsverschuldung durch von supranationalen Institutionen verordnete Austeritätspolitik.
Die Zahlen stützen diese Analyse. Ab 2010 gingen sowohl die absolute Staatsverschuldung als auch die Schuldenquote stetig zurück, nur 2020 und 2021 gab es aufgrund der Corona-Pandemie wieder einen temporären Anstieg. Vorbereitet wurde diese Entwicklung schon Jahre vorher – unter anderem durch die Agenda 2010 von 2003 bis 2005 und die Einführung der Schuldenbremse. Der Fokus verschob sich nun von der Einnahmengenerierung durch Kredite auf Reduktion der Ausgaben, insbesondere im öffentlichen Sektor. Parallel breiteten sich Narrative aus, »wir« müssten uns endlich wieder mehr anstrengen und mehr arbeiten. Soziale Sicherheit, staatliche Gesundheitsvorsorge, kostenlose Hochschulbildung werden immer mehr als entbehrlich dargestellt, um der Schuldenlast Herr zu werden.
Dabei sind es eben nicht zu hohe Staatsausgaben, die für die hohe Staatsverschuldung verantwortlich sind, sondern die Macht der besitzenden Klassen, sich und den Markt gegen kollektive Eingriffe abzusichern, während sie vom Staat immer mehr verlangen – allen voran eine immer stärkere Protektion der eigenen ökonomischen Interessen, auch und gerade wenn diese Allgemeininteressen entgegenstehen. Es ist deswegen unbedingt erforderlich, den Blick zu weiten und nicht lediglich auf die Schuldenbremse fixiert zu bleiben: Zwar zementiert diese eine staatliche Austeritätspolitik und dient damit lediglich den Interessen des Finanzkapitals. Jedoch ist sie nur ein Symptom des Verlusts kollektiver Souveränität gegenüber den ökonomisch Mächtigen der Gesellschaft, die den gesellschaftlichen Diskurs erfolgreich so beeinflusst haben, dass die demokratische Entscheidungsmacht ihnen nicht gefährlich werden kann.
Mehr Einnahmen sind möglich
Diesem Verlust von kollektiver Souveränität entgegenzuwirken würde bedeuten, das Missverhältnis zu beheben, das die hohe Schuldenlast überhaupt erst erforderlich macht. Der Staat muss wieder in die Lage versetzt werden, zumindest den größten Teil seiner Ausgaben durch entsprechende Einnahmen gegenzufinanzieren. Dazu ist es unerlässlich, Gebrauch zu machen von dem effektivsten Hebel, der zur Verfügung steht: der Steuerpolitik. Statt Ausgaben auf kommende Generationen umzulegen, müssen diejenigen stärker in die Pflicht genommen werden, die es sich leisten können und in besonderem Maße vom aktuellen System profitieren. Das wäre nichts anderes als eine Geltendmachung des Grundgesetzes, wo es in Artikel 14 Absatz 2 heißt: »Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.«
Steuerflucht ist weit weniger attraktiv, als allgemein angenommen wird.
An der (Wieder-)Einführung einer Vermögensteuer, die ebenfalls ausdrücklich im Grundgesetz erwähnt ist (Art. 106, Abs. 2), führt dann kein Weg vorbei. Sie würde der Tatsache Rechnung tragen, dass die Vermögensungleichheit in Deutschland noch viel extremer ist als die Einkommensungleichheit – so besitzen die reichsten zehn Prozent über 60 Prozent des Gesamtvermögens. Auch eine Erhöhung des Einkommenssteuer-Spitzensatzes sowie die Anpassung der Erbschaftssteuer wären effektive Ansatzpunkte. Und nicht zuletzt wäre es unerlässlich, Steuerschlupflöcher zu schließen sowie hart gegen Steuerkriminalität vorzugehen.
Langfristig muss der Staat so höhere Einnahmen generieren, um die durch Klimawandel und andere Herausforderungen steigenden Ausgaben zu bewältigen. Das ist auch denen bewusst, die trotz ihres immensen Eigentums nicht ihren angemessenen Beitrag dazu leisten wollen. Sie versuchen uns vorzuspielen, dass es nur zwei Möglichkeiten gibt, mit dieser Situation umzugehen: entweder bei öffentlichen Gütern einzusparen oder neue Schulden zu machen. Es ist höchste Zeit, diese Logik in Frage zustellen und kollektive Souveränität über die Staatsfinanzen (wieder-)herzustellen.
Das Totschlagargument, dann würden die Reichen das Land verlassen, kann dabei ohne Bedenken zurückgewiesen werden. Eine von Oxfam und dem Netzwerk Steuergerechtigkeit in Auftrag gegebene Studie kam jüngst zu dem Ergebnis, dass Steuerflucht weit weniger attraktiv ist als allgemein angenommen. Die Überschätzung des Drohpotenzials der Reichen im gesellschaftlichen Diskurs trägt sicherlich zu der verminderten kollektiven Souveränität in der Steuerpolitik bei – so wird mit dem Argument drohender Steuerflucht etwa gezielt Stimmung gegen eine Vermögensteuer gemacht. Gleichzeitig jedoch findet sich genau hier auch ein Hebel, um die gegenwärtigen Verhältnisse aufzubrechen: Denn wenn der Mehrheit klar wird, dass die Macht der Vermögenden weniger groß ist als vermutet, können über die Aufnahme neuer Schulden hinaus wieder andere Einnahmequellen in den Blick genommen werden.