Kampf auf der Titanic
Russland steht geopolitisch mit dem Rücken zur Wand
Von Tomasz Konicz
Vielleicht ist das landläufige Klischee, wonach die europäischen Großmächte unbewusst, quasi schlafwandelnd, in den Ersten Weltkrieg als die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts stolperten, nicht ganz verkehrt. Dieser Eindruck kann zumindest angesichts der aktuellen Spannungen zwischen dem Westen und Russland in der Ukraine-Krise entstehen. Osteuropa befindet sich am Rande eines Krieges, ein militärischer Großkonflikt zwischen der Ukraine und Russland rückt in den Bereich des Möglichen, während die westlichen Politeliten weiter ihr geopolitisches Vabanquespiel mit dem Kreml zocken und in der Öffentlichkeit das Thema zumeist ideologisch verzerrt wahrgenommen wird.
Nach der weitgehenden Weigerung der USA und der Nato, den russischen Forderungen nach Sicherheitsgarantien im postsowjetischen Raum nachzukommen, ist eine Entspannung nicht in Sicht. Russland hat inzwischen mehr als 100.000 Soldat*innen an der ukrainischen Grenze zusammengezogen, und die Nato beginnt, zusätzlich Truppen in ihren östlichen Mitgliedstaaten zu stationieren. Am 10. Februar fand eine weitere Verhandlungsrunde im sogenannten Normandie-Format zwischen Deutschland, Frankreich, Russland und der Ukraine statt, während russische und belarussische Truppen zeitgleich ein Großmanöver unweit der ukrainischen Grenze starteten. Am 8. Februar, bei einem Treffen mit dem französischen Präsidenten Macron, hatte Putin sogar den Einsatz von Nuklearwaffen nicht ausschließen wollen.
Schon Anfang Januar hatten die USA dem Kreml gedroht, man sei auf »jede Eventualität« vorbereitet – dies gelte auch für den Fall einer »militärischen Eskalation« durch Russland. Man habe Moskau auf »die Kosten und Folgen militärischer Aktionen oder einer Destabilisierung der Ukraine hingewiesen«, so der Sicherheitsberater des US-Präsidenten, der mit harten Wirtschafts- und Finanzsanktionen sowie Waffenlieferungen an Kiew drohte. Im Klartext: Die USA werden nicht direkt militärisch intervenieren, sollte Moskau die Invasion in die Ukraine beginnen. Kiew ist militärisch – abgesehen von Waffenlieferungen – weitgehend auf sich selbst gestellt.
Die zentrale Konfliktlinie, die zur gegenwärtigen geopolitischen Konfrontation geführt hat, besteht in der etwaigen Ostexpansion der Nato im postsowjetischen Raum. Die Ukraine bildet das geopolitische Objekt der Begierden. Seit dem westlich unterstützten Umsturz von 2014, als die damalige prorussische Regierung Viktor Janukowitsch von nationalistischen Kräften gestürzt wurde, ist Kiew bemüht, trotz Bürgerkrieg, eingefrorener Konflikte und ungeklärter Territorialfragen in die Nato und EU aufgenommen zu werden, um hierdurch die Westintegration des postsowjetischen Landes irreversibel zu machen.
Russlands wichtigste Forderung besteht folglich darin, dem Vorrücken des westlichen Militärbündnisses an seiner Südflanke einen Riegel vorzuschieben. Die Nato soll vor allem darauf verzichten, weitere postsowjetische Länder – konkret sind es die Ukraine und Georgien – aufzunehmen.
Laut Einschätzung der New York Times geht es dem Kreml um ein Sicherheitsabkommen, wie es zu Zeiten des Kalten Krieges üblich war – was aber seitens der Nato »sofort abgelehnt« wurde. Der Kreml will faktisch die Nato dazu bringen, einen Puffer neutraler Staaten zwischen der Russischen Föderation und dem Westen zu akzeptieren. Während des Kalten Krieges übten neutrale Länder wie Österreich oder Finnland eine solch deeskalierende Funktion aus. Österreich, aus dem sowjetische Truppen 1955 unter der Zusage einer dauerhaften Neutralität abzogen, ist bis zum heutigen Tag formell neutral. Finnlands Außenminister erteilte Spekulationen über einen etwaigen Nato-Beitritt seines Landes Mitte Januar öffentlich eine Absage.
Deutsche Projektionen »zaristischer Ambitionen«
Die aktuellen geopolitischen Spannungen wurden in den westlichen Medien von der üblichen tendenziösen Berichterstattung begleitet, die antirussische Züge aufweist. Während westliche Politiker*innen den Kreml auffordern, seine »zaristischen Ambitionen« fallen zu lassen, sprechen US-Diplomat*innen inzwischen offen von »Kriegstrommeln«, die in Europa aufgrund der »schrillen Rhetorik« gerührt würden.
Dabei enthalten die derzeitigen westlichen Medienangriffe gegen den Kreml durchaus einen gewissen Anteil verzerrter Wahrheit. Russland ist eine repressive und postdemokratische Macht, die imperiale Ambitionen hegt. Putin trauert der Sowjetunion als einem imperialen Gebilde nach, nicht aufgrund ihres staatssozialistischen Charakters. Die Machtpolitik des Kremls ist erzreaktionär. Russland finanziert und unterstützt die Neue Rechte in Europa, während zugleich linke Kräfte vom Kreml bekämpft werden. Putin half etwa 2015 Schäuble dabei, die links-sozialdemokratische Regierung in Griechenland in die Knie zu zwingen, die sich damals dem deutschen Spardiktat in der Eurozone widersetzte. Die Aufstände in Belarus und Kasachstan sind nur aufgrund russischer Interventionen gescheitert.
Russland ist eine reaktionäre Großmacht, die darum kämpft, nicht von den westlichen Neo-Imperialisten zur Peripherie zugerichtet zu werden.
Das Vorgehen Russlands gegenüber der basisdemokratischen Selbstverwaltung im nordsyrischen Rojava unterscheidet sich durch nichts von demjenigen der Trump-Administration: Putin gab der Türkei 2018 aus geopolitischem Kalkül den Freifahrtschein für die Eroberung und ethnische Säuberung des kurdischen Kantons Afrin. Ähnlich agierte die Trump-Administration im westlichen Rojava 2019.
Die »imperialen Ambitionen« des erzreaktionären Russlands sind also ein Faktum. Genauso aber verhält es sich mit der imperialistischen Politik des Westens. Wenn russische Staatsmedien davon berichten, dass »Schweigen und Missinformation« westlicher Medienkonzerne »imperialen Interessen« westlicher Mächte dienen, dann haben sie ausnahmsweise damit genauso recht wie ihre westliche Konkurrenz bezüglich der Charakterisierung russischer Medien als weitgehend »staatlich kontrolliert«.
Nicht nur die endlose Reihe von Kriegen und Interventionen der USA zeugt von deren imperialistischer Politik, auch die BRD ist bemüht, dahingehend den imperialen Vorbildern in nichts nachzustehen. Wieder das Beispiel Rojava: Während Russland und die USA der türkischen Soldateska den Weg zu ihren Eroberungskriegen ebneten, finanzierte Berlin die ethnische Säuberung dieser Gebiete. Die zerstrittenen imperialistischen Staaten konnten somit in einem Punkt faktisch reibungslos kooperieren.
Postsowjetische Dominos
Doch es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen dem Westen und Russland, der immer deutlicher zutage tritt: Der imperiale Anspruch des Kremls kollidiert immer stärker mit einer Realität, in der sich Moskau in der geopolitischen Defensive befindet. Im Kaukasus, in Belarus und zuletzt in Kasachstan scheint das spezifische postsowjetische Herrschaftsgefüge, dessen prominentester Vertreter Putin ist, immer deutlichere Risse aufzuweisen. Es ist offensichtlich, dass die Einflusssphäre des Kremls im postsowjetischen Raum, der den Planungen des Kreml zufolge zu einem dritten geopolitischen Machtzentrum zwischen der EU und China ausgebaut werden sollte, von einem raschen Erosionsprozess erfasst wurde.
Und gerade in diesem Zusammenhang spielte die Ukraine eine zentrale Rolle. Zur Erinnerung: Ende 2013 musste die damalige ukrainische Regierung unter Viktor Janukowitsch aufgrund der zunehmenden wirtschaftlichen Misere sich für die Einbindung des Landes in ein Bündnissystem entscheiden: entweder in ein östliches, gemeinsam mit Russland, oder Richtung Westen, in die EU. Janukowitsch, der seine politische Basis in der ostukrainischen Oligarchie hatte, entschied sich für die russische Zollunion. Daraufhin intervenierte der Westen in der Ukraine, indem er den gewaltsamen Umsturz der gewählten Regierung Janukowitsch förderte; westukrainische Rechtsextremisten hatten daran großen Anteil. Es folgte der derzeit »eingefrorene« Bürgerkrieg im Osten des Landes, die Annexion der Krim durch Russland sowie die bis zum heutigen Tag andauernde Alimentierung des Landes durch den Internationalen Währungsfonds.
Der Westen, der nun Krokodilstränen über die Verletzung der Souveränität der westorientierten Ukraine vergießt, trat bei seinem imperialistischen »Great Game« deren Souveränität selber mit Füßen, solange es galt, die Ostorientierung der Regierung Janukowitsch zu sabotieren und das Land aus dem geopolitischen Orbit Russlands zu lösen. Und eben dies war auch die zentrale Zielsetzung der westlichen Intervention, bei der es trotz aller Differenzen zwischen EU und USA substanzielle Interessenübereinstimmungen gab: Es galt, einen konkurrierenden Machtblock östlich der EU zu verhindern, der die Machtprojektionen des Westens im postsowjetischen Raum langfristig blockiert und vor allem auch der östlichen Peripherie der EU eine alternative Bündnisoption eröffnet hätte.
Russlands ambitionierte Planungen für eine umfassende Zollunion im postsowjetischen Raum konnten – um den Preis eines Umsturzes und Bürgerkrieges – vom Westen torpediert werden. Denn was der Westen dem Kremlchef tatsächlich nicht verzeihen kann, ist sein einziges historisches Verdienst: die Stabilisierung der Russischen Föderation zu Beginn des 21. Jahrhunderts, die nicht zu einer Peripherie zugerichtet werden konnte, sondern sich als eigenständiger imperialistischer Machtfaktor und als Konkurrenz zum Westen etablierte. Die Intervention in der Ukraine hatte gerade den Zweck, die Stabilisierung eines postsowjetischen Bündnissystems nach Vorbild der EU zu verhindern.
Doch die Ukraine ist kein Einzelfall. In einer ähnlich aussichtslosen sozioökonomische Lage wie die Ukraine des Jahres 2013 befand sich das in ökonomischer Stagnation verfangene Belarus des Autokraten Alexander Lukaschenko 2020: Getrieben von Massenprotesten – diesmal ganz ohne westliche Intervention oder Finanzierung – und einem drohenden Regierungssturz, musste sich der zuvor auf Unabhängigkeit setzende Lukaschenko zwischen der Integration in die belarussisch-russische Union oder dem schlichten Machtverlust entscheiden. Lukaschenko, dessen Land hauptsächlich von der Weiterverarbeitung russischen Erdöls in den Staatsraffinieren lebt, entschied sich fürs Erste. Die sozioökonomische Instabilität des Pleite bedrohten osteuropäischen Landes legte somit den Boden für die breite Protestbewegung in Belarus, auf die der Westen nur im Nachhinein Einfluss zu nehmen versuchte.
Ähnlich verhält es sich im Fall der jüngsten blutigen Unruhen in Kasachstan, wo die desolate soziale Lage der Bevölkerungsmehrheit den wichtigsten Faktor bildete, der zur jüngsten Explosion führte. Ohne die kurzfristige Intervention des Kreml hätten die Zerfallserscheinungen im Staatsapparat, wo nach wenigen Tagen etliche Polizei- und Militäreinheiten den Dienst verweigerten oder sich den Aufständischen anschlossen, nicht gestoppt werden können.
Neoimperialismus und Krise
Putin ist somit derzeit vorwiegend damit beschäftigt, die autoritären, im Verlauf des Zerfalls der Sowjetunion entstandenen Machtstrukturen in seinem geopolitischen Hinterhof zu stabilisieren, deren herausragender Vertreter er selber ist: Es handelt sich zumeist um oligarchische Systeme oder Kleptokratien, die aus der spätsowjetischen Nomenklatura hervorgegangen sind und sich weite Teile der ökonomischen Konkursmasse der Sowjetunion angeeignet haben – entweder in formell privatwirtschaftlicher Form (ukrainische Oligarchie), oder in Form einer Staatsoligarchie (Russland). Nahezu alle postsowjetischen Regimes leben vom Export von Rohstoffen, Vorprodukten oder Energieträgern. Die in den 1980er Jahren gescheiterte Modernisierung der staatssozialistischen Sowjetunion konnte auch von deren Zerfallsprodukten nicht mehr nachgeholt werden. Dies gilt weitgehend auch für Russland, dessen einziger global wettbewerbsfähiger Industriezweig die Militärindustrie ist. Alle Modernisierungsbemühungen des Kreml sind bislang im Großen und Ganzen gescheitert.
Dabei spiegelt sich in dieser postsowjetischen Misere nur der globale Krisenprozess des spätkapitalistischen Weltsystems. Dieses läuft aufgrund eines fehlenden Akkumulationsregimes, das massenhaft Lohnarbeit verwerten könnte, in der Semiperipherie wie in den Zentren nur noch auf Pump. EU und USA haben aber noch ihre ökonomischen Großräume samt Euro und Dollar, die bis vor Kurzem eine Verschuldung über die Geldpresse ermöglichten. Mit ihrer Intervention in der Ukraine 2013/14 stellten EU und USA sicher, dass dem postsowjetischen Raum kein ähnliches Kriseninstrument zur Verfügung stehen wird. Das »Great Game« um Eurasien gleicht somit faktisch einem Krisenimperialismus, einem Kampf gegen den krisenbedingten sozioökonomischen Abstieg, wobei die Zentren bemüht sind, ihre dominante Stellung auf Kosten der Peripherie zu halten. Es ist eine Art Kampf auf der Titanic. Deswegen nehmen die geopolitischen Auseinandersetzungen oft die Form von innenpolitischen Unruhen, Aufständen etc. an, die erst durch die krisenhafte Destabilisierung der betreffenden Gesellschaften ermöglicht werden. Sobald keine ausreichenden Rohstoffvorkommen zum Export vorhanden sind, setzen im postsowjetischen Raum eben jene sozioökonomischen Krisenprozesse ein, die Belarus und der Ukraine ihre politische Instabilität verschafften.
Der russische Traum von der Etablierung eines eigenständigen ökonomischen Großblocks zwischen der EU und China – der resistenter gegenüber Krisenerschütterungen wäre – ist nun ausgeträumt. Stattdessen muss Russland um seinen Status als Großmacht kämpfen, da der Westen sich anschickt, seinen Einfluss in der Ukraine dauerhaft zu etablieren – einer Region, die jahrhundertelang Teil Russlands war. Putin steht somit gewissermaßen mit dem Rücken zur Wand. Keine russische Regierung könnte es sich innenpolitisch erlauben, die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine zu akzeptieren. Die gegenwärtige Situation ist gerade deswegen so gefährlich, weil Putin keine Rückzugsoptionen hat.
Die derzeit auf Touren kommende antirussische Propaganda, die aus Putin einen allmächtigen Weltbösewicht macht, muss praktisch vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Russland ist eine reaktionäre, dem Westen sozioökonomisch unterlegene imperialistische Großmacht, die vor dem Hintergrund der sich zuspitzenden Systemkrise um ihr Überleben kämpft, um nicht doch noch von den westlichen Neo-Imperialisten zur Peripherie zugerichtet zu werden.
Diese gefährliche Situation sollte – unabhängig vom Charakter des russischen Regimes – auch progressive und emanzipatorische Kräfte dazu veranlassen, mit aller Kraft gegen die akut gegebene Kriegsgefahr, insbesondere gegen den deutschen Drang nach Osten zu opponieren. Wenn etwa die sozialdemokratische Parteizeitung »Vorwärts« inzwischen »rote Linien« gegenüber der »russischen Aggression« fordert, dann sollte daran erinnert werden, dass die SPD 1914 die Arbeiterschaft unter Verweis auf die reaktionäre Zarenherrschaft in die Schützengräben des Ersten Weltkrieges marschieren ließ.
Dieser Text ist die aktualisierte und leicht gekürzte Fassung des Beitrages »Neoimperialistisches ›Great Game‹ in der Krise«, der am 18. Januar auf www.konicz.info erschienen ist.