Die Unabhängigkeit bewahren
Syriens Diktator hat eine Dezentralisierung in Aussicht gestellt – was heißt das für Rojava?
Von Tim Krüger
Syrien wird nicht in die Zeit vor 2011 zurückkehren und kann durch eine dezentrale Verwaltung regiert werden.« Mit diesem Satz überraschte Syriens Diktator Bashar al Assad nicht nur das politische Establishment in Damaskus, sondern löste auch im Lager der demokratischen Opposition hitzige Diskussionen aus. Anlässlich der Vereidigung seines neuen Kabinetts sprach Assad am 14. August über die Zukunft des Landes und fügte hinzu, dass »durch die Dezentralisierung eine ausgewogene Entwicklung zwischen den verschiedenen Gebieten Syriens erreicht« werden könne. Ungewohnt moderate Töne aus dem Mund eines Alleinherrschers, der sich erst am 26. Mai dieses Jahres in mehr als fragwürdigen Wahlen mit über 95 Prozent der Stimmen erneut in seinem Amt hat bestätigen lassen. Bis dato zeigte sich das von der nationalistischen Baath-Partei geführte Regime in Damaskus zu keinerlei Verhandlungen über eine Neugestaltung des Landes bereit und beharrte vehement auf der alten Ordnung. Im Lager der Opposition fragt man sich daher nicht zu Unrecht, was von Assads scheinbarem Sinneswandel zu halten ist.
Föderalisierung und Demokratisierung
Der Demokratische Rat Syriens (MSD) hatte zum Boykott der Präsidentschaftswahlen aufgerufen und entschieden gegen die Inszenierung von »Wahlen, welche die politischen Rechte der Bevölkerung Syriens nicht vertreten«, protestiert. In den Gebieten unter der Kontrolle der Autonomen Verwaltung von Nord- und Ostsyrien fanden deshalb weder Wahlkampf noch Urnengang statt, denn »ohne die Schaffung einer demokratischen Atmosphäre« könne »von echten Wahlen keine Rede sein«, so der MSD.
Das vielfältige Bündnis aus Organisationen, Bewegungen und Parteien, das als politische Repräsentation der multiethnischen Selbstverwaltung im Norden des Landes im Jahre 2015 seinen Anfang genommen hatte, ist mittlerweile zur führenden Stimme der demokratischen Opposition Gesamtsyriens avanciert. Während viele der in den Anfangsjahren des syrischen Bürgerkriegs der westlichen Öffentlichkeit als »gemäßigte Opposition« präsentierten Gruppen zusehends unter den Einfluss dschihadistischer Milizen gerieten und türkische Großmachtambitionen unterstützten, wurde der Demokratische Rat Syriens zur Sammlungsbewegung und neuen politischen Heimat all jener Kräfte, die sich für eine vereinte, säkulare und föderale Demokratische Republik Syrien einsetzen. Die Erfahrungen und Errungenschaften der Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien stehen dabei Modell dafür, wie eine friedliche Zukunft des Landes aussehen könnte.
Die Selbstverwaltung und der Demokratische Rat Syriens sehen in der Föderalisierung und Demokratisierung des syrischen Staates den einzigen Weg, um der Krise nach mehr als zehn Jahren blutigem Bürgerkrieg endlich ein Ende zu setzen. Eine bleibende Lösung im Interesse der Bevölkerung könne daher nur in einem Syrien-Syrien-Dialog erarbeitet werden, die »Vereinigung der Völker Syriens im Sinne einer demokratischen Nation« könne Fremdbestimmung und Besatzung ein Ende setzen und eine eventuelle Teilung des Landes noch abwenden. Ganz im Gegenteil zu den teils wüsten Vorwürfen des syrischen Regimes, das die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) auch gerne mal des Terrorismus und des Landesverrats bezichtigt, stellt sich die Autonome Selbstverwaltung gegen alle Bestrebungen, die in einer Balkanisierung Syriens münden würden, und versteht sich selbst als die eigentliche Verteidigerin der territorialen Integrität des Landes. Während man sich in Damaskus über eine angebliche »separatistische Agenda« und die vermeintliche Kollaboration mit dem US-Imperialismus ereifert, hat der MSD die Anschuldigungen stets entschieden zurückgewiesen und betont, eine »nationale Kraft« Syriens zu sein. Es sei die engstirnige Mentalität eines überkommenen Regimes, dessen »Angst nicht Syrien, sondern nur der eigenen Macht« gelte.
»Dass Syrien heute noch existiert, ist der Autonomen Selbstverwaltung zu verdanken. Sie ist die Garantie der Sicherheit, Freiheit und territorialen Integrität Syriens«, meint Mohammed Abdurrahim, der Co-Vorsitzende des Regionalrates von Derik. Der Familienvater mittleren Alters engagiert sich schon seit Jahrzehnten für die politischen und kulturellen Rechte der kurdischen Bevölkerung und beteiligt sich seit der Revolution im Juli 2012, die in der Vertreibung der syrischen Regimekräfte und Ausrufung der Selbstverwaltung mündete, aktiv am Aufbau der basisdemokratischen Strukturen. Abdurrahim erinnert sich noch an die Zeit vor der Revolution, als sein Leben von »ständiger Angst« geprägt war, und weiß nur zu gut von der Verfolgung und Repression des Assad-Regimes zu berichten. Dennoch ist er überzeugt davon, dass »das Problem in Syrien selbst gelöst« werden muss, »denn außerhalb gibt es keine Lösung. Deshalb kämpfen wir für eine Syrien-Syrien-Lösung und werden unsere Kontakte mit dem Regime niemals abbrechen. Manchmal mag es zwar stocken, aber diese Verbindung wollen wir nicht kappen.« Auch wenn Assad und die regierende Clique gerne nostalgisch in den Erinnerungen an die Zeit vor 2011 schwelgen – das Regime müsse einsehen, dass es eine Rückkehr in die Verhältnisse von vor die Revolution nicht geben werde, so Abdurrahim. Das Regime »sollte die Autonome Selbstverwaltung als Bereicherung und nicht als Schaden für die Völker Syriens betrachten«.
Dass Syrien heute noch existiert, ist der Autonomen Selbstverwaltung zu verdanken.
Mohammed Abdurrahim
Ein entscheidender Faktor, der zu einer Lösung des Konfliktes beitragen könnte, wäre vor allem die politische Anerkennung der Autonomen Verwaltung von Nord- und Ostsyrien. Auch wenn mittlerweile zahlreiche regionale Akteure und auch globale imperialistische Player de facto offizielle diplomatische Beziehungen zur Selbstverwaltung unterhalten, weigert man sich bis heute, der kleinen Region, die nach unterschiedlichen Schätzungen bis zu sechs Millionen Menschen beheimatet, einen politischen Status zuzuerkennen. Die politische Repräsentation der Bevölkerung von Nord- und Ostsyrien bleibt damit auch weiterhin von den entscheidenden Plattformen, Konferenzen und Gipfeln, die sich die gewaltlose Beilegung des Konflikts auf die Fahne geschrieben haben, ausgeschlossen. Ganz egal, ob in Genf oder Astana: Wo auch immer über die zukünftige Ordnung des Landes diskutiert wird, bleibt der Selbstverwaltung ein Platz am Tisch verwehrt. Auch beim hochgelobten »Verfassungskomitee«, das nun seit bald zwei Jahren unter der Regie der Vereinten Nationen vergeblich an der politischen Grundlage für ein neues Syrien feilt, ignoriert man das unliebsame politische Projekt im Norden des Landes weiterhin konsequent.
Nicht wie Afghanistan
Für Mohammed Abdurrahim gibt es keinen Zweifel: »Die Nichtanerkennung der Autonomen Selbstverwaltung geschieht mit bewusstem Kalkül«, und »auch die Angriffe des türkischen Staates finden nicht ohne Einverständnis der internationalen Großmächte statt.« Tatsächlich haben wohl keinerder in Syrien aktiven Großmächte ein Interesse daran, dass das System der autonomen Selbstverwaltung in anderen Gebieten Syriens oder gar des Mittleren Ostens Fuß fassen könnte. Schließlich bedroht das Konzept, das auf dem gleichberechtigten Zusammenleben verschiedener Bevölkerungs- und Religionsgruppen, der Befreiung der Frau und einer ökologischen Gemeinwirtschaft basiert, nicht nur die Herrschaft der regionalen Despoten, sondern es würde auch der jahrhundertealten kolonialen Teile-und-Herrsche-Politik des Imperialismus in der Region ein rasches Ende bereiten. Deswegen ist es kein Zufall, dass man im Westen weiterhin lieber auf die so genannten »Rebellen« der »Nationalkoalition syrischer Revolutions- und Oppositionskräfte« (ETILAF) setzt. Wo immer unter Einbeziehung der syrischen Opposition über die Zukunft des Landes verhandelt wird, sind ETILAF und deren Mitgliedsorganisationen als »Vertreter der syrischen Gesellschaft« geladen und das Bündnis erfreut sich im In- und Ausland großzügiger finanzieller Zuwendungen. Der Zusammenschluss mehrheitlich islamistischer und anderer türkeitreuer Gruppierungen gilt auch der Bundesregierung nach wie vor als die einzige legitime Repräsentation des syrischen Volkes.
In Nord- und Ostsyrien hatte man sich schon zu Beginn des syrischen Aufstandes auf die »Politik des Dritten Weges« verständigt. Weder wollte man sich an Assads diktatorisches Regime halten, noch sich selbst zum Teil einer angeblichen Opposition im Sold der ausländischen Intervention machen. Eine eigenständige politische Position schließt explizit einen offenen Dialog und auch taktische Kooperationen mit allen Seiten mit ein. Wichtig sei nur, dass die Beziehungen letztlich dem Interesse der Revolution dienen und die eigene Unabhängigkeit gewahrt bleibe. »Wir unterstützen immer den inneren Dialog. Damit wir als Völker Syriens einen eigenen Weg aus der Krise finden, müssen wir die Probleme zwischen uns selbst lösen«, erklärt Nassir Nasro, der Co-Vorsitzende des MSD-Jugendrats in der Region Cizire. Für ihn ist klar, dass die ausländischen Großmächte, allen voran »die USA, Russland, Iran und natürlich der türkische Besatzerstaat«, ein Interesse an der Aufrechterhaltung des Konflikts haben, denn somit können sie »ihre Existenz in Syrien vor der Welt legitimieren«.
Für Nasro und seine Mitstreiter*innen muss das neue Syrien aus eigener Kraft geformt werden, denn nicht zuletzt der Zerfall des Regimes in Afghanistan zeige deutlich, dass jedes System, das sich von der Unterstützung einer imperialistischen Macht abhängig mache, auf Sand gebaut ist. »Die afghanische Regierung hat das Land 20 Jahre lang nur zum Schein regiert. Diejenigen, die diesen Staat tatsächlich gelenkt haben, waren die USA. Nachdem sie ihre Soldaten abgezogen haben, ist diese Regierung in sich zusammengefallen«, meint Nasro. »Wir werden nicht zulassen, dass so etwas mit uns gemacht wird.«
Wie ein zukünftiger Dialog zwischen Zentralregierung und Selbstverwaltung aussehen kann, bleibt dennoch weiter offen. Die Co-Vorsitzende des Exekutivkomitees des MSD, Ilham Ehmed, erklärte hinsichtlich der Stellungnahme Assads, dass »es ein wichtiges Zugeständnis« sei, anzuerkennen, dass »Syrien nicht in die Zeit vor 2011 zurückkehrt«. Viel entscheidender sei jedoch die »Frage, wohin Syrien gehen wird«. Zu einer wirklichen Lösung bedürfe es weit mehr als ein paar netter Worten, denn: »Solange die Verfassung nicht geändert wird, kann kein Ergebnis und keine Lösung erzielt werden.« Ob die regierende Machtclique rund um die Familie Assad dazu bereit ist, bleibt weiter zu bezweifeln.