Kein Strom, kein Brot, keine Selbstverwaltung
Die verstärkten Angriffe der Türkei auf die zivile Infrastruktur sollen die Bevölkerung zermürben und das Leben in Rojava unmöglich machen
Von Müslüm Örtülü
Sorxwîn Rojhilat hat eine beeindruckende Biografie. Geboren 1985, stammt sie aus der Kleinstadt Mako im äußersten Nordwesten der kurdischen Gebiete Irans, unweit der türkischen Grenze. Aufgewachsen in der etwas verschlafenen Stadt hoch in den kurdischen Bergen, führte sie ihr Lebensweg 2014 in einen anderen Teil Kurdistans – nach Rojava in Nordsyrien. Sie kam, um die Revolution zu verteidigen, kämpfte in Kobanê als Kommandantin der Frauenverteidigungseinheiten YPJ gegen den IS. In der BBC-Dokumentation »Inside Kobane: Keeping Islamic State at bay« ist sie zu sehen: In Militäruniform und mit einem Funkgerät in der Hand lächelt sie mitten im Krieg in die Kamera. Zuversichtlich kündigt sie dem Dokumentarfilmer, der ebenfalls aus ihrer Herkunftsregion stammt, an, dass sie sich nach der Befreiung von Kobanê um Rojhilat (Kurdisch: Osten), also jene Gebiete Kurdistans, die im iranischen Staat liegen, kümmern werde.
Am 11. Februar wurde Sorxwîn Rojhilat in der nordsyrischen Stadt Qamişlo getötet. Zusammen mit Azadî Dêrik, ebenfalls YPJ-Kommandeurin, wurde sie im Eingangsbereich einer Einrichtung der Föderation der Kriegsversehrten durch einen türkischen Drohnenangriff ermordet. Sorxwîn war während des Krieges in Kobanê verletzt worden und hatte nach einer Explosion Splitter im Körper und eine schwere Sehbehinderung.
Seither kümmerte sie sich um andere Menschen, die im Krieg gegen den IS und durch die Angriffe des türkischen Staates ebenfalls bleibende körperliche Schäden erlitten hatten. Rund 22.000 sind es in Nord- und Ostsyrien. Die Föderation der Kriegsversehrten unterstützt diese Menschen bei der medizinischen Behandlung und bei der Wiedereingliederung in den gesellschaftlichen Aufbau der Revolution. Sorxwîn war eine tragende Säule dieser Arbeit. Das wusste der türkische Staat, deshalb wurde sie getötet.
Drohnenterror und andere Kriegsverbrechen
In Nord- und Ostsyrien gibt es viele Geschichten wie die von Sorxwîn. Seit dem Sommer 2020 setzt die Türkei systematisch auf den Einsatz von Drohnen und ermordet gezielt Aktivist*innen aus der Region. (ak 686) Niemand kann vorhersagen, wann und wo die nächste Bombe einschlägt. Die Drohnen aus der Türkei werden übrigens als Exportschlager auch im Krieg der äthiopischen Armee gegen die Region Tigray, im Bergkarabach-Konflikt oder im Krieg in der Ukraine eingesetzt wurden.
In den Gebieten der Autonomen Selbstverwaltung gab es nach Angaben des dort ansässigen Rojava Information Center im Jahr 2023 insgesamt 198 Drohnenangriffe mit 105 Toten und 123 Verletzten. Diese Angriffe richten sich nicht, wie oft behauptet, ausschließlich gegen Verantwortliche der bewaffneten Selbstverteidigungsstrukturen in Rojava. Fast jedes dritte Todesopfer der Drohnenangriffe im vergangenen Jahr war ein*e Zivilist*in.
Seit Oktober 2023 hat sich die Qualität der türkischen Angriffe weiter verändert. (ak 697) Neben den gezielten Tötungen durch Drohnen hat die Türkei begonnen, auch die Infrastruktur im Norden und Osten Syriens ins Visier zu nehmen. In insgesamt drei Angriffswellen, im Oktober und Dezember 2023 sowie im Januar 2024, wurde praktisch ein Großteil der Gas- und Stromversorgung der Region zerstört. Allein bei der Luftangriffswelle vom 12. bis 15. Januar wurden 54 Ortschaften bombardiert. Seit Jahresbeginn wurden 72 Drohnenangriffe gezählt (Stand: 13. Februar).
Dass der türkische Präsident Erdoğan die kurdischen Siedlungsgebiete in Nordsyrien entvölkern will, ist kein Geheimnis. Mehr als einmal trat er mit einer Landkarte vor die Kameras, auf der er eine 30 Kilometer tiefe »Pufferzone« für Nordsyrien vorschlug. Dort sollen nach seiner Vorstellung Millionen syrische Geflüchtete angesiedelt werden, die zumeist aus anderen Landesteilen stammen. Die Einrichtung einer solchen Zone käme einer Vertreibung der kurdischen Bevölkerung in Rojava gleich.
Erdoğans Ziel: die Vertreibung der Kurd*innen
Mit ihren beiden völkerrechtswidrigen Besatzungskriegen in den Jahren 2018 und 2019 kontrollieren die türkische Armee und ihre islamistischen Partner bereits wesentliche Teile dieses Gebietes. Der Terror in den besetzten Gebieten ist alltäglich. Die protürkischen Milizen, die dort das Sagen haben, begehen unter dem Schutz der türkischen Flagge Verbrechen an der Bevölkerung. Das European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) hat kürzlich Strafanzeige bei der Bundesanwaltschaft gegen die Besatzungstruppen in der Region Efrîn erstattet, die es für systematische Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantwortlich macht.
Durch die Bombardierung von Ölförderanlagen sind große Teile der Einnahmen der Selbstverwaltung weggebrochen. Sogar die Versorgung mit Brot droht zum Erliegen zu kommen.
Nach der letzten Invasion im Jahr 2019 in der Region zwischen Girê Spî (arab. Tal Abyad) und Serekaniyê (arab. Ras al-Ain) änderte der türkische Staat seine Strategie in Nordsyrien, auch weil eine weitere türkische Militäroffensive weder von den USA noch von Russland toleriert wurde. Es begann eine Phase des permanenten Terrors und der Destabilisierung. Den Menschen in der Region soll das Leben unmöglich gemacht werden. Dies geschieht neben den ständigen Drohnenattacken und dem Raketenbeschuss aus den besetzten Gebieten auch durch die Unterstützung von Gegner*innen der Selbstverwaltung, etwa der weiterhin in der Region aktiven IS-Zellen. Die gezielten Angriffe auf die Infrastruktur Nordsyriens seit Oktober letzten Jahres stellen die neue Stufe dieser Eskalation dar. Und sie sind erfolgreich. Durch die Bombardierung von Ölförderanlagen sind große Teile der Einnahmen der Selbstverwaltung weggebrochen. Durch die Angriffe auf die Strom- und Treibstoffversorgung drohte zuletzt sogar die Versorgung mit Brot zum Erliegen zu kommen.
Die türkische Regierung zielt mit diesen Angriffen auch darauf ab, die Bevölkerung in Nord- und Ostsyrien gegen die Selbstverwaltung aufzubringen. Eine Stärke der Selbstverwaltungsstrukturen in der Region war es, die Grundversorgung der Bevölkerung auch unter schwierigsten Umständen und unter Kriegsbedingungen aufrechtzuerhalten. (ak 698) Aus diesem Grund haben im Laufe des Bürgerkrieges Hunderttausende Binnenflüchtlinge aus anderen Teilen Syriens Zuflucht in Nordsyrien gesucht und gefunden. Die Aufrechterhaltung der Grundversorgung unter den aktuellen Angriffen stellt jedoch auch für die krisenerprobte Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien eine beispiellose Herausforderung dar.
Nach Monaten des Schweigens hat sich mit Human Rights Watch (HRW) zumindest eine namhafte internationale Menschenrechtsorganisation zu den türkischen Angriffen in Nord- und Ostsyrien geäußert. »Während die Aufmerksamkeit der Welt weiterhin auf den verheerenden Konflikt in Gaza gerichtet ist, verschärft sich im Nordosten Syriens unter dem Radar eine weitere Krise«, heißt es in dem Bericht vom 9. Februar. Die vorsätzlichen Angriffe auf die zivile Infrastruktur werden von HRW als Kriegsverbrechen benannt. »Alle Länder müssen sich mit der Not der Bevölkerung in der Region befassen, auch wenn andere Konflikte die Schlagzeilen beherrschen«, so der HRW-Bericht weiter.
Der Preis für den Nato-Beitritt Schwedens
Doch davon sind wir weit entfernt. Und das nicht nur, weil gerade ein anderer Krieg auf der Tagesordnung steht. Denn hinter dem Schweigen über die türkischen Kriegsverbrechen in Nordsyrien steckt nicht nur Ignoranz, sondern auch politisches Kalkül: Die Zustimmung der Türkei zum Nato-Beitritt Schwedens zog sich über Monate hin. Zähe Verhandlungen zwischen der türkischen Regierung und ihren Nato-Partnern fanden meist hinter verschlossenen Türen statt. Offensichtlich ging es dabei auch um den Umgang mit der Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien.
Der türkische Präsident Erdoğan hat in den vergangenen Monaten immer wieder mit einem erneuten Einmarsch in Nordsyrien gedroht. Dabei fiel auch der Name der symbolträchtigen Stadt Kobanê als mögliches Angriffsziel. Diese Bestrebungen der Türkei dürften jedoch weder von den USA noch von Russland gebilligt worden sein. Ohne deren Zustimmung ist ein weiteres militärisches Eindringen der Türkei in die Region undenkbar. Aber auch Luftangriffe dieser Intensität bedürfen der Zustimmung der beiden Mächte, die den Luftraum über dem Bürgerkriegsland Syrien kontrollieren.
Welche Absprachen das Erdoğan-Regime mit Moskau getroffen hat, ist schwer zu durchschauen. Klar ist jedoch, dass Putin im Syrien-Konflikt aufgrund des andauernden Ukraine-Krieges keine herausragende Verhandlungsposition hat. Im Fall der USA, die im Anti-IS-Kampf mit den nord- und ostsyrischen Selbstverteidigungseinheiten kooperieren, dürfte hingegen relativ klar sein, dass die Türkei als Preis für den Nato-Deal grünes Licht für ihre Bombardierungsoffensive erhalten hat. Das Schweigen der anderen Nato-Staaten, einschließlich Deutschlands, zu den Angriffen scheint ebenfalls Beiwerk des Deals zu sein.
»Mit den letzten Angriffen sind die Bedingungen für uns und die gesamte Bevölkerung hier sehr schwierig geworden. Aber keine Sorge. Alles wird gut werden.« Diese Worte sandte Sorxwîn Rojhilat wenige Tage vor ihrem Tod an eine Freundin in Deutschland, mit der sie regelmäßig Kontakt hatte. Die Lebensumstände sind wahrlich nicht einfach. Die Revolution in Rojava ist permanenten Angriffen ausgesetzt. In einem völkerrechtswidrigen Krieg begehen die Türkei und ihre Partner Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Und dieser Krieg wird von der Nato und damit auch von der Bundesregierung zumindest geduldet, wenn nicht unterstützt.
Aber wenn Sorxwîn uns als letzte Botschaft mitteilte, dass alles gut werden wird, dann ist das nicht nur zu unserer Beruhigung gesagt. Aus ihr sprechen dieselbe Überzeugung und Zuversicht, mit der sie und ihre Mitstreiter*innen bereits 2015 den für unmöglich erachteten Kampf gegen den IS gewonnen haben. Im Kampf um Kobanê spielte neben dem bewaffneten Widerstand vor Ort die umfassende internationale Solidarität eine entscheidende Rolle. Die wird heute wieder mehr denn je gebraucht.