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Risse im Machtapparat

Der jüngste Anschlag in Istanbul weckt Erinnerungen an 2015 und 2016, doch einiges ist heute anders

Von Hasan Durkal und Svenja Huck

Eine Einkaufsstraße im Sommer
Die İstiklal Caddesi ist eine der belebtesten und auch am stärksten bewachten Straßen Istanbuls. Foto: Mstyslav Chernov / Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0

Sechs Menschen wurden am 13. November 2022 bei einem Bombenanschlag auf der belebtesten Straße Istanbuls, der İstiklal Caddesi, getötet, 81 weitere verletzt. Jede*r, der*die die jüngere Geschichte der Türkei verfolgt hat, stellte sich unmittelbar die Frage: Kehren wir jetzt zurück in die Phase von 2015 und 2016? Damals starben bei zahlreichen Anschlägen im ganzen Land rund 500 Menschen. Und: Damals wie heute stand die Macht der Regierungspartei AKP auf dem Spiel; damals wie heute spielten kurdische Akteur*innen in der Region eine wichtige Rolle in Demokratisierungsprozessen. Nachdem die linke HDP im Juni 2015 erstmals die bei Parlamentswahlen damals geltende Zehn-Prozent-Hürde überwunden hatte und als mehrheitlich kurdische Partei ins Parlament eingezogen war, verlor die AKP die absolute Mehrheit. Für Erdoğan und seine Partei war das nicht hinnehmbar, und so wurde nicht nur der Friedensprozess mit der PKK aufgekündigt, sondern bis zur Wiederholungswahl im November 2015 ein Klima der Angst geschaffen, mit Erfolg.

Auch für die kommenden Wahlen im Juni 2023 sieht es aktuell unsicher aus für die derzeitige Regierung. Zwischen dem Oppositionsbündnis um die kemalistisch-nationalistische CHP und der De-facto-Koalition zwischen AKP und ultranationalistischer MHP findet in den Umfragen ein Wettrennen statt, dessen Ausgang noch nicht absehbar ist. Anders als vor sieben Jahren, als die AKP noch in Alleinherrschaft regieren konnte und Erdoğan seine Partei unter Kontrolle hatte, zeichnen sich nun größer werdende Risse im herrschenden Block ab. Wir argumentieren, dass der Anschlag in Taksim nicht nur einen neuen Vorwand für den Angriff auf die Kurd*innen in Syrien und der Türkei darstellt, sondern auch Ausdruck eines sich zuspitzenden Machtkampfes innerhalb der herrschenden Parteien ist.

Krieg gegen Kurd*innen

Gehen wir zurück zu dem Tag des Attentats. Nachdem die ersten Informationen und Videos in den sozialen Medien verbreitet wurden, verhängte die türkische Regierung eine Nachrichtensperre und verlangsamte das Internet. Ohne VPN war Twitter – eine wichtige Informationsquelle in der Türkei – nicht mehr zu erreichen. Während unterschiedliche Spekulationen aufkamen, wer hinter dem Anschlag stecken könnte, verbreitete Innenminister Süleyman Soylu – ein rechter Hardliner mit Verbindungen zur Mafia – ein Foto der vermeintlichen Attentäterin. Es handele sich dabei um eine Anhängerin der YPG und PKK, die aus Syrien nach Istanbul gekommen sei und den Anschlag ausgeführt habe, behauptete Soylu umgehend.

Eine andere Information, die schnell in Umlauf war, wurde von einem Vertreter der Zafer Partisi (Siegespartei) verbreitet. Er beschuldigte Jiyan Tosun, eine Anwältin der HDP, hinter dem Anschlag zu stecken. Die Zafer Partisi ist eine neue Partei, die sich durch extreme Migrant*innenfeindlichkeit auszeichnet. Es waren mutmaßlich Anhänger*innen dieser Partei, die persönliche Daten von Tosun und ihren Angehörigen an zivile Faschisten weitergaben, die sie dann mit Telefonterror und Drohungen überzogen. Tosun begab sich in Polizeischutz und erklärte, dass sie mit dem Anschlag nicht in Verbindung stehe. Die Rufe nach Vergeltung gegenüber vermeintlichen kurdischen Attentäter*innen waren da jedoch bereits laut geworden.

Innenminister Soylu war zum Zeitpunkt der Explosion in Idlib. Dort nahm er an der Eröffnung einer Schule teil, die sich in dem Gebiet befindet, das von der Türkei und ihren islamistischen Verbündeten kontrolliert wird. Nach dem Anschlag kehrte er in die Türkei zurück und beschuldigte die USA, ihrem Bündnispartner, der PYD in Syrien, relevante Informationen beschafft zu haben, die den Anschlag erst möglich gemacht hätten. Eine Woche später startete die Türkei neue Luftangriffe in den von der PYD regierten, kurdischen Gebieten in Nord-Syrien und deklarierte dies unverhohlen als Vergeltungsschlag für den Istanbuler Anschlag. Wie bisher bekannt ist, wurden dabei kritische Infrastruktur zerstört und zahlreiche Zivilist*innen getötet.

In liberal-kritischen Medien wurde entgegen der staatlich lancierten Behauptungen eine andere Information bereits am 14. November, dem Tag nach dem Anschlag in Istanbul, veröffentlicht: Die vermeintliche Attentäterin sei weder Kurdin noch Anhängerin der YPG, sondern im Gegenteil, sie habe Verbindungen zu den islamistischen Gruppierungen in Syrien. Hinzu kam ein brisantes Detail: Über ihr Telefon sei im Vorfeld des Anschlags zwei Mal ein Funktionär der MHP angerufen worden, der wiederum gute Verbindungen zu Innenminister Soylu pflegt und als sogenannter »Dorfschützer« tätig ist. »Dorfschützer« werden jene Personen genannt, die im kurdischen Südosten der Türkei von staatlicher Seite finanziert und organisiert werden, um gegen die Strukturen der PKK vorzugehen.

Unter den aktuellen Umständen werden wir wohl nie genau erfahren, wer wirklich hinter dem Attentat steckt. Dass auf einer der am stärksten überwachten Straßen Istanbuls eine Bombe explodiert, ohne dass darüber zumindest ein Teil des staatlichen Sicherheitsapparates Bescheid wusste, ist allerdings so gut wie ausgeschlossen. Und dass so vertrauliche Informationen wie die Telefonverbindungen zwischen der Beschuldigten und einem Politiker aus dem Umfeld des Innenministers an die Öffentlichkeit geraten, ist wiederum bemerkenswert. Es kann zwei Dinge bedeuten: Entweder sind die Bombenleger eine rivalisierende Fraktion zur MHP und Soylu, die mit möglichen Falschinformationen versuchen, dem Minister die Schuld in die Schuhe zu schieben. Oder das Umfeld Soylus ist in der Tat in das Attentat verstrickt und hat sich selbst einen Grund geschaffen, noch härter gegen Kurd*innen vorzugehen.

Nicht außer Acht zu lassen ist zudem, dass der Anschlag in einer Phase stattfand, in der Präsident Erdoğan politisch eine Annäherung an das Assad-Regime in Syrien signalisiert. Könnte er in Absprache mit Assad sicherstellen, dass Kurd*innen in Syrien kein politischer Einfluss gewährt wird, wäre denkbar, dass er im Gegenzug seine bisherigen Verbündeten, also islamistische Kräfte, fortan weniger priorisiert. Gegen diese Perspektive könnte die Bombe eine Warnung gewesen sein.

Fünf ungleiche Partner und eine Staatskrise

Wer sind die verschiedenen Fraktionen im herrschenden Block, die miteinander rivalisieren? Grob aufteilen würden wir sie in fünf Gruppen: der AKP-Flügel, der MHP-Flügel, der Süleyman-Soylu-Flügel, der Flügel um Verteidigungsminister Hulusi Akar und der um Doğu Perinçek. Diese ungleichen Partner mit unterschiedlichen Ideologien wie Islamismus, Panturkismus, Eurasismus oder Militarismus verfolgen historisch gesehen mehr konträre Ziele als gemeinsame Interessen. Doch aktuell haben sie sich im türkischen Staat zusammengeschlossen und ringen dort um Einfluss. Dabei versuchen sie von der Krise zu profitieren, die nach dem Bruch zwischen der AKP und der Gülen-Bewegung besonders während des Putschversuches am 15. Juli 2016 deutlich geworden ist. Doch während es der AKP und vor allem Erdoğan vorübergehend geholfen haben mag, kleinere Partner um sich zu scharen, ist diese Ansammlung von Ungleichen zugleich ein prekäres Bündnis, das jederzeit platzen kann. Es scheint, wie gesagt, dass einer dieser Rivalen eine Provokation organisiert hat, um die eigene Position zu stärken oder um jemand anderen zu stören. Ein anderer wiederum wollte sich dem offenbar entgegenstellen und hat Informationen durchsickern ließ.

Es hat Erdoğan vorübergehend geholfen, kleinere Partner um sich zu scharen. Entstanden ist ein prekäres Bündnis, das jederzeit platzen kann.

Wurde dieses Zweckbündnis nun auf Dauer beschädigt? Wahrscheinlich ja. Doch wird eine der fünf Fraktionen unmittelbar ins Abseits geraten? Diese Frage ist aktuell schwer zu beantworten. Nicht zum ersten Mal gibt es Konflikte dieser Art im türkischen Staat, und immer wieder ist es unterschiedlichen Parteien gelungen, diese abzudämpfen – für das größere Ziel des Machterhalts. Mit den bevorstehenden Wahlen im Juni 2023 und der schwindenden Unterstützung für Erdoğan und seine AKP, steigt der Druck, die Reihen zu schließen.

Andererseits: Auch Parteien im Oppositionsbündnis bieten politische Programme für Anhänger*innen einzelner Regierungsflügel. Noch ist es zu früh, um über ein Aufbrechen der AKP-MHP-Koalition zu spekulieren, die Risse aber werden deutlicher. Wir können eindeutig feststellen, dass eine anhaltende Krise innerhalb des herrschenden Blocks den Staat als Ganzes schwächt. Und so ist die Rivalität zwischen den Fraktionen auch ein Wettbewerb um die Position desjenigen, der diese Konflikte innerhalb der herrschenden Klasse befrieden kann.

Einig sind sich die Fraktionen darin, dass diese Krise zumindest nach außen verdeckt werden muss. Der Weg, sie zu kompensieren und den Brand im Staat zu löschen, war der Angriff auf die Kurd*innen. Mit den Bomben, die auf Kobane, Shahba und Qamishli fallen, soll die Bombe von Istanbul vergessen gemacht werden. Die türkische Regierung hat – nach Stand zum Redaktionsschluss – eine Ausweitung der Angriffe in Form einer Landoperation bereits angekündigt.

Die herrschenden Kräfte der Türkei greifen das kurdische Volk an, wenn sie selbst in Bedrängnis geraten, wie schon so oft. Dennoch ist nicht alles wie früher: Die HDP agiert nicht mehr wie 2015 vornehmlich darauf orientiert, die Wahlhürde zu überwinden und ins Parlament einzuziehen. Sie hat bereits bewiesen, dass sie dazu in der Lage ist und auch die aktuellen Umfragewerte belegen dies. Sie ist nun Teil eines Bündnisses von sozialistischen Parteien, die unter den Bedingungen der Staats- und Wirtschaftskrise das Potential haben, eine andere Geschichte zu schreiben. Gemeinsam können sie den Weg für eine breite demokratische Bewegung ebnen. Stillstand gibt es nicht in der Türkei. Deshalb müssen sich diejenigen, die eine andere Geschichte schreiben wollen, beeilen.

Hasan Durkal

ist Autor und Herausgeber bei elyazmalari.com

Svenja Huck

promoviert an der FU Berlin zu Istanbuler Arbeiter*innengeschichte und arbeitet als freie Journalistin hauptsächlich zur Türkei. Sie lebt in Berlin und Istanbul.