Herzstück der kapitalistischen Produktionsweise
Der Politikwissenschaftler Andreas Kallert über den Bankensektor, Regulierungsversuche und die allgegenwärtige Gefahr einer neuen Krise
Interview: Lene Kempe
Wenn derzeit wieder vermehrt vor der Gefahr einer internationalen Bankenkrise gewarnt wird, dann werden damit auch Befürchtungen aktiviert, das Desaster von 2007ff. könnte sich wiederholen. Auf dem Höhepunkt der damals weltweiten Finanzkrise war im Herbst 2008 die Lehman-Bank in den USA aufgrund fauler Immobilienkredite zusammengebrochen – und hatte eine Kettenreaktion ausgelöst. Etliche Banken gerieten ins Straucheln und drohten, die Säulen der globalen Finanzarchitektur einzureißen. Viele von ihnen wurden mit öffentlichen Steuergeldern gerettet. Dieses Szenario, so die Befürchtung, könnte sich so oder so ähnlich bald wiederholen.
Wenn es um die Gefahr eines neuen Bankencrashs geht, ist die Erzählung meist dieselbe: Die Corona-Krise könnte über die schwächelnde Realwirtschaft auch auf den Bankensektor »übergreifen«. Das suggeriert ja, das dieser bis jetzt in einem stabilen Zustand ist. Würdest du das unterschreiben?
Andreas Kallert: Nein, das Banken- und Finanzsystem ist eigentlich immer in einem mehr oder weniger volatilen Zustand. Allerdings sollte man gegenwärtig für den Bankensektor nach Regionen und Ländern differenzieren: In den USA hat sich dieser insofern sehr dynamisch entwickelt, als dass dort wieder enorme Profite erwirtschaftet werden. Die größte US-amerikanische Bank JPMorgan Chase hat beispielsweise 2019 über 36 Milliarden US-Doller Gewinn erwirtschaftet, die Citigroup ebenfalls knapp 20 Milliarden Dollar. Dagegen ist der europäische Bankenmarkt noch immer in einer Konsolidierungsphase, in der allerdings die spanischen, französischen und italienischen Großbanken deutlich erfolgreicher sind als ihre deutsche Konkurrenz. Von solchen positiven Kennzahlen sollte man sich dennoch nicht blenden lassen: Auch vor der Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2007 gab es Rekordprofite und man hatte daraus leichtgläubig auf einen stabilen Bankenmarkt geschlossen.
Wir sehen eine beispiellose Anhäufung von fiktiven Kapitalien wie Aktien und Anleihen, die sich von der realwirtschaftlichen Entwicklung immer weiter abkoppelt.
Hohe Profite lassen sich also auch in einem kriselnden System erwirtschaften …
Ja, da besteht kein Widerspruch. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass nicht nur die Banken gerade von zahlreichen außergewöhnlichen Faktoren nutznießen. Von der Nullzinspolitik der Notenbanken zum Beispiel, aber auch vom zurückliegenden Wirtschaftsboom, massiv steigenden Börsenkursen oder staatlichen Anleihekäufen. Allein das Anleihekaufprogramm der EZB hat momentan einen Umfang von 2,94 Billionen Euro. Damit werden vor allem Staatsanleihen, aber auch Unternehmensanleihen und sogenannte forderungsbesicherte Wertpapiere aufgekauft. Letztere standen bei der Finanzkrise ab 2007 im Mittelpunkt. Damals wurden diese Wertpapiere vielfach wertlos, weil die dahinterliegenden Kredite nicht mehr bedient werden konnten. Die vermeintliche Stabilität der letzten Jahre ist also vor allem das Ergebnis massiver staatlicher Interventionen. Und wir sehen eine beispiellose Anhäufung von fiktiven Kapitalien wie Aktien und Anleihen, die sich von der realwirtschaftlichen Entwicklung immer weiter abkoppelt. Trotzdem spiegelt sich das fiktive Kapital natürlich erstmal in den finanzwirtschaftlichen Kennzahlen, in den Bankbilanzen, Aktienkursen usw. wider. Mit Blick auf die reinen Zahlen wächst und gedeiht das Finanzsystem also seit Jahren – zukunftsfähig ist ein solches Modell allerdings nicht, irgendwann wird der größte Teil dieser fiktiven Kapitalien entwertet werden.
Es gab ja nach der letzten Krise eine ganze Reihe von politischen Maßnahmen zur Stabilisierung und stärkeren Überwachung des Bankensektors. So wie du es beschreibst, stehen wir heute aber vor einer ähnlichen Situation wie 2007/2008. Haben die Maßnahmen also nichts gebracht?
Ich würde nicht sagen, dass das gar nichts gebracht hat, aber es ist halt vielfach Stückwerk. Nehmen wir die Europäische Bankenunion. Dort hat man einheitliche Regeln für die größten, als systemrelevant eingestuften Banken eingeführt. Die wichtigen Bereiche Bankenaufsicht und -abwicklung sind nun weitgehend vergemeinschaftet, es gibt allerdings zahlreiche Schlupflöcher. Eigentlich sollten mit der Bankenunion die Zeiten vorbei sein, in denen Banken mit Steuermitteln gerettet werden – stattdessen sollte es eine Haftungskaskade der Investorinnen und Kreditgeberinnen geben. So hätte dann diese eher vermögende Gruppe bei drohenden Bankenpleiten zahlen müssen. In Italien, wo es in den letzten Jahren mehrere Pleiten gab, wurde diese private Beteiligung an Verlusten aber schon mehrfach umgangen. Stattdessen sind wieder öffentliche Geldern geflossen. Darüber hinaus scheiterte eine konsequente europäische Einlagensicherung am Widerstand Deutschlands – diese wäre aber im Euro-Währungsraum dringend geboten, um die Sparguthaben gemeinsam abzusichern und den Euro zu stärken. Und auch die Abermilliarden an faulen Krediten in den Büchern der Banken sind nur teilweise abgeschrieben. Sie werden häufig an andere Finanzakteure weitergegeben. Diese Kreditrisiken im Finanzsystem sind also keinesfalls weg, sondern nur weniger sichtbar.
Andreas Kallert
ist Politikwissenschaftler und hat zur Bankenrettung während der Finanzkrise 2007 bis 2009 promoviert. Er publiziert als freier Autor unter anderem für die Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Und wie steht es um die sogenannten Stresstests? Die sollten ja die Krisenfestigkeit der Banken regelmäßig überprüfen?
Diese Stresstests sind leider sehr anfällig für bilanztechnische Strategien der Banken, das heißt die Banken versuchen erfolgreich, für die Tests ein positives Bild abzuliefern. Die Finanzaufsicht ist also weiterhin immer einen Schritt zu spät dran. Außerdem unterliegt sie der politischen Erwartung, die nationalen Finanzinstitute im internationalen Wettbewerb nicht zu sehr zu schwächen. Beim Skandal um den Pleite gegangenen DAX-Konzern Wirecard ist ja bezeichnend, dass es Journalistinnen der Financial Times waren, die frühzeitig auf Ungereimtheiten und Bilanzbetrug hingewiesen hatten – während die BaFin als Finanzaufsicht Wirecard verteidigte. Leerverkäufe und damit das Wetten gegen die Wirecard-Aktie wurden untersagt. Und sogar Strafanzeige gegen die Journalistinnen erstattet – wegen des Verdachts der Marktmanipulation. Außerdem befasst sich die Finanzaufsicht vor allem mit den streng regulierten Banken. Dabei ist der Schattenbankensektor in den letzten Jahren stark gewachsen. Dazu zählt etwa der weltgrößte Vermögensverwalter BlackRock, der rund acht Billionen Dollar verwaltet. Hier fehlt eine effektive Kontrolle.
Welche Rolle spielt deiner Ansicht nach die Niedrigzinspolitik der EZB, die in den letzten Jahren viel Geld in das Finanzsystem gepumpt hat?
Die Niedrigzinspolitik hilft den Banken mehr als dass sie ihnen schadet – auch wenn die Diskussion oft das Gegenteil suggeriert. Die Banken zahlen die umstrittenen Strafzinsen bei der EZB nur auf einen sehr kleinen Teil ihrer Gelder. Gleichzeitig können sie das EZB-Geld nutzen, um Kredite zu vergeben, in boomende Sektoren wie den Immobilienmarkt zu investieren oder Aktienkäufe zu tätigen. Für institutionelle Anleger wie Banken sind hierbei hohe Renditen möglich. Gleichzeitig werden die Menschen aufgrund der Nullzinsen auf ihr Erspartes ja auch genau in diese spekulativen Sparten gedrängt. Und die Banken profitieren hier wiederum von entsprechenden Gebühren für Finanzdienstleistungen. Aber auch von den steigenden Kursen jener Finanzprodukte, in die sie oft selbst investieren. Das eigentliche Ziel der Niedrigzinspolitik ist aber – neben dem Inflationsziel von zwei Prozent – dass der private Konsum und die Investitionen steigen. Indem die Banken das EZB-Geld in Form günstiger Kredite an Konsumentinnen und Investorinnen weiterreichen. Man hat aber in der Corona-Krise schnell festgestellt, dass die Banken sehr zurückhaltend mit der Vergabe von Krediten werden, sobald die Rückzahlung unsicherer wird – Nullzinspolitik hin oder her.
Angesichts der dramatischen Folgen der letzten Krise sind sich alle Finanzaufsichtsbehörden einig, große Banken auf keinen Fall kollabieren zu lassen.
Was sind nun die Befürchtungen? Warum könnte es zu einem neuen Bankencrash kommen?
Das größte Risiko dürfte von Krediten ausgehen: Durch die Corona-Krise haben die meisten Wirtschaftssektoren sehr viel Geld verloren, dazu sind die Reallöhne etwa in Deutschland mit 4,7 Prozent noch stärker als in der letzten Finanzmarktkrise gesunken. In finanziell weniger starken Ländern sind die Löhne noch deutlicher zurückgegangen. Manche Wirtschaftszweige wie etwa die Luftfahrtindustrie oder der Tourismus sind schwer getroffen und werden absehbar viele Kredite nicht mehr bedienen können. Bei gewerblichen Immobilien werden durch die verstärkte Nutzung von Home-Office hoher Leerstand und sinkende Mieten erwartet, viele Neubauten werden sich nicht alimentieren können. Durch staatliche Kredite und Überbrückungshilfen und durch das gelockerte Insolvenzrecht werden momentan viele Zahlungsausfälle und Pleiten noch verhindert. Dennoch sind etwa steigende Beiträge für Kreditausfallversicherungen zu beobachten. Die Wertpapiermärkte sind sehr volatil. Sie haben zwar die heftigen Verluste vom Frühjahr mit Hilfe der Liquiditätsschwemme, Anleihenkäufen und Konjunkturpaketen zum Teil wieder gutgemacht. Dieser Börsenboom steht aber im Widerspruch zum stärksten Wirtschaftseinbruch seit Jahrzehnten in allen Ländern und der weiterhin sehr unsicheren Entwicklung der Pandemie. Den Wertpapiermärkten könnte also nochmals ein herber Absturz bevorstehen. Es spricht insofern viel dafür, dass wir die heftigsten Folgen der Corona-Pandemie für die Wirtschaft und damit auch den Bankensektor erst noch sehen werden.
Du hast dich ja mit Blick auf die Bankenrettung in der letzten Finanzkrise sehr intensiv mit der Frage der ideologischen Absicherung dieser Politik beschäftigt und rausgearbeitet, dass das Narrativ der »Systemrelevanz« großer Banken eine wichtige Rolle gespielt hat. Meinst du, diese Erzählung würde nochmal tragen?
Ja, das würde wahrscheinlich der Fall sein. Das Banken- und Finanzsystem ist das »Herzstück der kapitalistischen Produktionsweise«. So hat es der Marxist Michael Heinrich mal treffend formuliert. Deshalb genießt dieser Wirtschaftszweig eine strukturelle Bevorteilung. Um das zu rechtfertigen, dürfte die Erzählung von den systemrelevanten Banken weiterhin eine wichtige Rolle in der Debatte spielen. Außerdem hat sich diese Systemrelevanz in den letzten zehn Jahren noch stärker im Sinne des Finanzsektors institutionalisiert. Denn angesichts der dramatischen Folgen der letzten Krise sind sich alle Finanzaufsichtsbehörden einig, große Banken auf keinen Fall kollabieren zu lassen. Entsprechend genießen diese weiterhin eine staatliche Bestandsgarantie – ohne selbst allzu viel zu den gesellschaftlichen Kosten beitragen zu müssen. Denn es gibt noch eine sehr wirkmächtige Erzählung: dass auch Kleinsparerinnen, die Rentnerin mit den hart erarbeiteten Extragroschen für den Ruhestand zum Beispiel, von einem »bail-in« betroffen wären. Also von einer Beteiligung der Kreditgeberinnen und Sparerinnen an der Bankenrettung. Dieses Narrativ rechtfertigt bis heute die Rettung der Banken aus Steuergeldern – auch wenn von einem solchen bail-in vor allem die Vermögenden besonders betroffen wären, und die Hälfte der Menschen in Deutschland eh über keine nennenswerten Ersparnisse verfügt.