Rechtes Gruselkabinett
Israels neue Regierung ist so antipalästinensisch wie keine vor ihr – was bedeutet das?
Von Yossi Bartal
Pünktlich zur Vereidigung der sechsten Regierung von Benjamin (Bibi) Netanjahu am 29. Dezember 2022 gratulierte Olaf Scholz dem alt-neuen Premierminister mit warmen Worten: »Für die anstehenden Aufgaben wünsche ich Ihnen gutes Gelingen, eine glückliche Hand und viel Erfolg« schrieb der Bundeskanzler, wohl wissend, welche »anstehenden Aufgaben« die neue Regierung in ihrem Koalitionsvertrag festgehalten hat. Gleich im ersten Absatz hat sie unmissverständlich erklärt, was ihre höchste Priorität ist: »Das jüdische Volk hat ein exklusives und unbestreitbares Recht auf alle Teile des Landes Israel. Die Regierung wird die Besiedlung in allen Teilen des Landes Israel, in Galiläa, dem Negev, dem Golan und Judäa und Samaria fördern und entwickeln«.
Eine so klare Zurückweisung des palästinensischen Selbstbestimmungsrechts gab es seitens einer Regierung in Jerusalem noch nie – in diesem propagierten Groß-Israel vom Jordan bis zum Mittelmeer können Palästinenser*innen nur als rechtlose Untertanen leben, wenn sie nicht gänzlich aus dem Land vertrieben werden sollen. Die zweite Option, d.h. der »totale Krieg« und die »Umsiedlung der Feinde Israels« in die arabischen Nachbarländer, steht im Wahlprogramm der Partei Otzma Yehudit (jüdische Macht), die in der neuen Regierung sitzt und den neuen Polizeiminister mit weitreichenden Befugnissen stellt. Dennoch, außer Glückwünsche kam von der Bundesregierung, die sich der Unterstützung der Zwei-Staaten-Lösung noch offiziell verpflichtet sieht, nichts. Am gleichen Tag stimmte der deutsche UNO-Vertreter mit 26 anderen Ländern dagegen, die Situation in den palästinensischen Gebieten vom Internationalen Gerichtshof juristisch überprüfen zu lassen. Für Deutschland steht Israel eindeutig über dem Völkerrecht.
Bleibt alles beim Alten?
Das Schweigen europäischer Politiker*innen zur Konstituierung des neuen israelischen Gruselkabinetts – eine Mischung von messianischen Fundis, Unterstützer*innen des Rechtsterrorismus und verurteilten Verbrechern – lässt nichts Gutes erahnen. Die Hoffnung prominenter Besatzungsgegner*innen, der explizite Abschied von schwammigen Lippenbekenntnissen zur geregelten Konfliktlösung würde endlich die Weltgemeinschaft zu Protesten, vielleicht sogar zu Sanktionen bewegen, wurde zunächst enttäuscht. Im Gegenteil, die internationalen Beziehungen Israels waren noch nie so gut wie heute. Sogar Marokko plant bald eine Botschaft in Tel-Aviv zu eröffnen und fordert, dass Israel im Gegenzug die Annektierung der Westsahara anerkennt.
In der Tat scheint der Plan der neuen Regierung zur De-facto-Annexion der eigenen besetzten Gebiete, einhergehend mit zunehmender Repression gegen die palästinensische Bevölkerung, eher von Kontinuität als von Wandel zu zeugen. Die Kriminalisierung von Menschenrechtsorganisationen, die massive Zunahme an Siedlungsbau und tödlichen Überfällen durch das israelische Militär (seit Ende der zweiten Intifada 2005 wurden nicht so viele palästinensische Zivilist*innen in der Westbank getötet wie im letzten Jahr) ereigneten sich alle unter Regie der letzten Anti-Bibi-Koalition. Was die Etablierung einer Apartheid-Realität in den besetzten Gebieten angeht, hat die israelische Rechte ohnehin schon längst gewonnen, mit oder ohne Netanjahu. Bleibt deshalb alles beim Alten?
Auf keinen Fall – denn hatten die vorherigen Koalitionen mit einer Zuckerbrot-und-Peitsche-Politik noch auf ein sogenanntes Management des Konflikts gesetzt, setzen die extremistischen Kräfte in der jetzigen Regierung darauf, die Kollaboration mit den diktatorischen Strukturen der Palästinensischen Autonomiebehörde völlig einzustellen und eine Eskalation, vor allem durch religiöse Provokationen am Tempelberg, herbeizuführen. Schlimmer noch, die Gewalt- und Willkür-Verhältnisse, die bereits in der Westbank herrschen, sollen auch in das Kernland Israel importiert werden. Das Endziel der Kahanist*innen (Anhänger*innen des Rabbiners Meir Kahane, dessen Partei 1988 wegen rassistischer Hetze verboten wurde) ist die Vertreibung aller Palästinenser*innen – mit israelischer Staatsbürgerschaft oder ohne.
In dieser Hinsicht sind vor allem die Pläne des Rechtsterroristen-Anwalts und Polizeiministers Itamar Ben Gvir besorgniserregend, jüdische Milizen in armen Gegenden zu fördern, wo jüdische neben palästinensischen Israelis wohnen. Zudem sollen mit der Änderung des Wahlgesetzes Parteien nicht mehr kandidieren dürfen, die den jüdischen Charakter des Staates infrage stellen – was ein Verbot aller Vertreter*innen der palästinensischen Minderheit bedeuten würde. Selbst Zugangsbeschränkungen arabischer Studierender zu Lehrgängen an staatlichen Hochschulen stehen im Koalitionsvertrag.
LGBTI-Rechte in Gefahr
Neben der systematischen Entrechtung der nicht-jüdischen Bevölkerung nimmt die Regierung vor allem die Unabhängigkeit der Justiz und anderer rechtsstaatlicher Institutionen ins Visier. Der Versuch von Netanjahu, das gegen ihn laufende Verfahren wegen Bestechung, Betrug und Veruntreuung aus der Welt zu schaffen, ist dafür nur eine Teilerklärung. Fast alle Rechtsexpert*innen bewerten die geplante Reform als Ende der ohnehin brüchigen Gewaltenteilung. Diese Reform sieht vor, dass eine Mehrheit im Parlament Entscheidungen des Obersten Gerichts für ungültig erklären kann, Politiker*innen größeren Einfluss auf die Ernennung von Richter*innen erhalten und Gutachten von Verwaltungsjurist*innen zu bloßen Empfehlungen degradiert werden. All dies in einem Staat, der nicht mal eine Verfassung hat.
Neben der systematischen Entrechtung der nicht-jüdischen Bevölkerung nimmt die Regierung vor allem die Unabhängigkeit der Justiz und anderer rechtsstaatlicher Institutionen ins Visier.
Der Angriff auf die Justiz wird nicht nur der Korruption im Staatsdienst Tür und Tor öffnen, er bedroht auch bürgerliche Rechte, die durch Gerichtsentscheidungen in den letzten Jahren erstritten wurden. Das betrifft vor allem den Schutz der geschlechtlichen und sexuellen Identität und die Rechte der nicht-orthodoxen jüdischen Communities. Die Beteiligung der besonders homofeindlichen Kleinstpartei Noam an der Regierung, die Feindlisten von LGBTI- Journalist*innen verbreitete und jetzt für Teile der Schulbildung verantwortlich ist, führte bereits zu groß angelegten Protesten von queeren Aktivist*innen. Diese versuchte Netanjahu zu beschwichtigen, indem er seinen engen Anhänger Amir Ohana, ein schwules Likud-Mitglied, zum Parlamentsvorsitzenden machte: Alice Weidel lässt grüßen.
Es sind vor allem solche antiliberalen Gesetzesinitiativen, die die Mitglieder der europäischstämmigen oberen Mittelschicht im Land auf die Barrikaden treiben. Sehen diese doch darin das Ende der Demokratie. Dass diese »jüdische Demokratie« mit einer 55-jährigen Militärbesatzung in erster Linie »demokratisch gegenüber Juden und jüdisch gegenüber Arabern« war, wie es das Knessetmitglied Ahmad Tibi einst formulierte, ändert nichts daran, dass die dennoch existierenden demokratischen Räume unter starkem Beschuss stehen. Der Oppositionsanführer Yair Lapid hat deshalb mit vielen anderen Politiker*innen zu Protesten auf Autobahnbrücken im ganzen Land aufgerufen. Gegen die stabile Mehrheit des rechtsreligiösen Lagers im Parlament seien die Straßen die einzige Option, Widerstand zu leisten.
Opposition ohne Palästinenser*innen
Diese neuformierte israelische APO entpuppt sich bei näherem Hinsehen jedoch vor allem als Außer-Palästinenser*innen-Opposition. Lapid weigert sich noch immer, sich mit der linken Hadasch-Partei im Parlament zu treffen. Selbst auf einer Petition von 648 Kulturschaffenden und Wissenschaftler*innen gegen die drohende »Liquidierung der Demokratie« war kein einziger arabischer Name zu finden. Wollen aber Netanjahu-Gegner*innen jemals an die Macht kommen, brauchen sie die volle Unterstützung der palästinensischen Staatsbürger*innen. Und fraglich ist, ob das reichen würde. Mit jedem Jahr wird die jüdisch-israelische Gesellschaft rechter, vor allem junge Menschen wählen rechtsextrem. Linksliberale und Säkulare sprechen immer häufiger von Auswanderung.
Der Anführer von Hadasch, Ayman Odeh, hat in seiner ersten Rede nach dem Regierungswechsel genau diesen Punkt thematisiert, als er die Opposition ansprach: »Wir befinden uns jetzt nicht mehr auf einer schiefen Bahn, sondern im freien Fall. Wer die Ermordung der Journalistin Shireen Abu Aqla vertuschte, bekam politische Festnahmen von Journalisten in Tel-Aviv. Wer das (antiarabische) Nationalitäten-Gesetz für konform hielt, bekam jetzt die Klausel zur Annullierung von Gerichtsentscheidungen (…). Solange ihr an Brücken steht, aber die Checkpoints in der Westbank ignoriert – werdet ihr das Recht verlieren, auf Brücken zu protestieren und müsst eure Kinder weiterhin zu den Checkpoints schicken«.
Eine konkrete Antwort auf den drastischen Rechtsruck hat aber auch die linke Opposition nicht. Dass eine Zwei-Staaten-Lösung aussichtslos ist, wird zur Kenntnis genommen, ändert aber noch nicht die politische Praxis. Es gibt zwar nur einen Staat zwischen Jordan und Mittelmeer und genauso viele Palästinenser*innen wie Juden_Jüdinnen in diesem Gebiet; eine Zukunftsvision, ganz zu schweigen von einer politischen Organisation, die beide Bevölkerungsgruppen vereinen könnte, ist jedoch noch nicht in Sicht. Die neue Regierung, deren Mitglieder nicht nur den Apartheid-Zustand im ganzen Land zementieren wollen, sondern zum Teil auch mit einem Genozid drohen, machen diese Vision nötiger denn je.