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Die letzte Entkolonisierung?

Der Putsch in Niger ist ein weiteres Anzeichen für einen größeren Wandel in Westafrika

Von Paul Dziedzic

Gruppenphoto. Eine Gruppe von Menschen mit und ohne Uniform posieren für ein Bild. Im Hintergrund sind die Fahnen vieler Länder zu sehen. In der Mitte hinten ist ein großes Fahnenmast mit den Flaggen Nigers und der USA.
Grüße aus der Vergangenheit: Gruppenfoto bei einer militärischen Trainingsmission in Agadez in Niger 2018. Foto: US Africa Command / Flickr, CC BY 2.0

In Deutschland dürften die wenigsten das Land Niger vor dem 26. Juli gekannt haben. Heute ist es fast täglich in den Schlagzeilen – die befremdliche Perspektive der deutschen Auslandsberichterstattung inklusive. So werden Niger und seine nun vom Militär abgesetzte Regierung im Nachhinein als »Vorzeigeprojekt« der Region aufgewertet: demokratisch und partnerschaftlich. Einige, besonders deutsche Kommentator*innen, blicken mit Missgunst auf den Ausdruck der Freude vieler in Burkina Faso, Mali, oder nun auch Niger über die Coups. Unterschätzt wird immer wieder, wie stark der Wunsch nach einem Bruch mit den alten und ungerechten Strukturen ist – nicht nur in der Sahel-Region.

Vorzeigeprojekte

Die erste Runde der Präsidentschaftswahlen 2021 gewann Mohamed Bazoum nur knapp, die zweite holte er mit 55 Prozent der Stimmen. Damit übernahm er die Regierungsgeschäfte seines Vorgängers Mahamadou Issoufou, ebenfalls von der Nigrischen Partei für Demokratie und Sozialismus (PNDS), die seit 2011 an der Macht war. Laut internationalen und regionalen Wahlbeobachter*innen soll alles nach Plan gelaufen sein. Der Politologe und Kommentator Rahmane Idrissa, der zu der Zeit vor Ort war, bezweifelt das und ist damit nicht alleine. In seinem lesenswerten Blog »La Gazette Perpendiculaire« beschreibt er die nigrische Innenpolitik und die Prozesse, die nun im Putsch mündeten. So habe die PNDS in den letzten Jahren ihre Macht konsolidiert, die Opposition durch verschiedene Mittel aufgerieben und das Politische vom Parlament in die Bürokratie und das Militär verlagert – das schränkte die Mittel der Opposition erheblich ein.

Auch die Zivilgesellschaft spürte, wie ihr Raum von der Regierung eingeengt wurde. So mussten NGOs rigorose politische Unbedenklichkeitsprüfungen bestehen und Journalist*innen Anklagen befürchten. Einige Kritiker*innen der westlichen Militärpräsenz landeten im Gefängnis, Kundgebungen wurden verboten. Inspiriert von anderen Initiativen in Westafrika, die sich gegen den Neokolonialismus, besonders in der französischen Spielart, richteten, entstand 2022 die M62-Bewegung, in Anspielung auf die 62-jährige Unabhängigkeit Nigers. Dort fanden sich unterschiedliche Akteure zusammen, die das Sicherheitskonzept Frankreichs, die Kolonialwährung Franc-CFA und die Wirtschaftspolitik kritisierten. Bazoum, der gleich zu Beginn seiner Amtszeit einen Putschversuch überstand, wusste, welche Sprengkraft solche Bewegungen hatten. Schon in Guinea, Mali und Burkina Faso waren den Militärputschen ähnliche Posteste vorausgegangen. Auf dieser Welle reitend traute sich das Militär überhaupt, die Zivilregierungen zu stürzen.

»Ich schreibe diese Zeilen als Geisel«, beginnt Bazoum einen Gastkommentar in der Washington Post etwa eine Woche nach dem Putsch. Im Artikel zählt er nochmal die Fortschritte seiner Regierung auf: eine verbesserte Sicherheitslage, eine enge Zusammenarbeit mit Gewerkschaften und Wirtschaftswachstum. Am Ende ruft Bazoum die USA und die internationale Gemeinschaft dazu auf, die verfassungsmäßige Ordnung wiederherzustellen. Ihm zur Seite sprang die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft Ecowas, eine überregionale Organisation mit 15 Mitgliedsstaaten, derzeit angeführt von Nigeria. Präsident Bola Ahmed Tinubu forderte die Wiedereinsetzung Bazoums, schnitt die Stromversorgung von Nigeria nach Niger ab, implementierte mit den Partnerländern strenge Wirtschaftssanktionen und drohte mit einer militärischen Intervention. Bis auf den angedrohten Krieg ist das ein bereits von vergangenen Staatsstreichen bekanntes Maßnahmenpaket.

Für einige der Ecowas-Mitglieder sei das »der eine Putsch zu viel«, wie es die senegalesische Außenministerin Aissata Tall Sall formulierte. Denn mit jedem weiteren Coup kommen die Einschläge näher. Kritiker*innen hingegen führen die Doppelmoral der Ecowas an. Viele der Regierungen, die nun mit militärischer Intervention drohen, erlebten in den letzten Jahren selbst teils massenhafte Proteste, sei es gegen die hohe Inflation, den Neokolonialismus oder Versuche, Verfassungen umzuschreiben, um länger an der Macht zu bleiben. In ak 665 argumentierte der Aktivist Alassane Dicko, dass sich die Präsident*innen innerhalb von Ecowas gegenseitig stützten, wenn es aus der Bevölkerung wieder Proteste gebe.

Auf der anderen Seite warnten Vertreter*innen von Burkina Faso und Mali davor, dass sie einen militärischen Angriff auf Niger auch als Kriegserklärung gegen ihre Staaten auffassen würden. Es droht damit ein überregionaler, zwischenstaatlicher Krieg. Das wäre für die Region der denkbar schlimmste Ausgang. Guinea, Mali und Burkina Faso führten Gespräche mit der Ecowas, diskutiert wurde die Aufhebung der Sanktionen, die wiederum von einem Fahrplan für die Übergabe an eine Zivilregierung abhing. Angesichts der Situation in Niger steht das nun infrage.

Westen auf dem Rückzug

»Die Frage, die sich meine Generation stellt, ist, wie Afrika mit so viel Reichtum heute der ärmste Kontinent ist«, so Burkina Fasos Interimspräsident und Hauptmann der Armee, Ibrahim Traoré, beim Russland-Afrika Gipfel im Juli. Diese Frage hätte genauso gut von Kwame Nkrumah oder Thomas Sankara stammen können, jene Vordenker einer alternativen wirtschaftlichen Entwicklung Afrikas. Indirekt stellen sowohl Regierungen als auch Zivilgesellschaften diese Frage – und finden unterschiedliche Antworten. Soll an der internationalen Ordnung, wie sie derzeit besteht, mit Afrika als Lieferanten von Rohstoffen festgehalten und darauf aufbauend stückchenweise mehr für die Menschen auf dem Kontinent erstritten werden? Oder soll die ganze Ordnung auf den Kopf gestellt werden? Traoré trifft einen Nerv, wenn er fragt, warum afrikanische Staaten betteln.

Traoré trifft einen Nerv, wenn er fragt, warum afrikanische Staaten betteln.

Derzeit ist der Westen auf dem Rückzug. So hielten sich sowohl die USA als auch Frankreich bei der Frage der militärischen Intervention bedeckt. Doch es ist fraglich, was eine Ecowas-Intervention ohne westliche Rückendeckung bewirken könnte. Gleichzeitig schützt das Staatenbündnis auch die Interessen des Westens in der Region. Dabei hat Frankreich in der Vergangenheit schon öfter seine schützende Hand über die eine oder andere Partei in politischen Konflikten auf dem Kontinent gehalten und scheute nicht davor, militärisch zu intervenieren. Doch es herrscht eine Krise, die sich selbst bei den Hegemonialmächten bemerkbar macht.

»Die Staatsstreiche sind Ausdruck eines großen historischen und demografischen Umschwungs«, sagte der kamerunische Historiker und Politikwissenschaftler Achille Mbembe in einem Interview mit dem französischen Radiosender RFI. Für ihn beginnt das nächste und vielleicht letzte Kapitel im langen Prozess der Dekolonisierung, der nach dem zweiten Weltkrieg begann. Zwar dürften die Menschen auf dem Kontinent nicht all ihre eigenen Widersprüche auf den Westen projizieren, gleichzeitig habe der Westen mit seiner Sichtweise auf Afrika als Kontinent der Gefahr und durch das eigene militärische Eingreifen seinen Einfluss geschwächt.

Die geopolitische Verschiebung zeigte sich zuvor schon im Auftritt Chinas und anderer, kleinerer Mittelmächte auf dem Kontinent. Eine größere Auswahl an möglichen geostrategischen Partnerschaften, sei es mit Russland, China oder Brasilien, könnte die afrikanische Verhandlungssituation über den Zugang zu Ressourcen auf dem Kontinent verbessern. Doch um von dieser veränderten Lage wirklich zu profitieren, darf sich die Blockbildung, wie sie weiter nördlich geschieht, nicht auch auf dem Kontinent spiegeln. Zu Zeiten des Kalten Krieges gab es dafür die Bewegung der Blockfreien Staaten.

Eine neuer »Wettlauf um Afrika« ist zu beobachten, doch seit dem Ukraine-Krieg von vielen, auch innerhalb der Linken, überbetont. Russland hat zwar eine eigene Afrika-Strategie, doch wie sich jetzt herausstellt, ist das Land so in seinem Feldzug gebunden, dass es weder finanzielle Mittel noch irgendwelche Waffen liefern kann. Letztendlich können also weder Militärregimes noch Blockbildungen jene zufriedenstellen, die seit Jahren auf die Straßen gehen. Interessanter ist, was nach den Übergangsregierungen kommt.

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