analyse & kritik

Zeitung für linke Debatte & Praxis

|ak 704 | Deutschland

34 Schüsse auf Bilel

Vor einem Jahr schoss die Polizei in Herford auf einen 19-Jährigen – wie so oft geben Medien und Politik ihm selbst die Schuld

Von Julia Sorouri und Nima Sorouri

Demonstration vorwiegend jüngerer Menschen. Sie tragen ein dunkles Transparent mit der Aufschrift: "Die Polizei lügt! Aufklärung, Konsequenzen und Gerechtigkeit für 34 Polizeischüsse auf Bilel!"
Wenn die vielen Fälle von Polizeigewalt in den letzten Jahren eines gezeigt haben, dann das: Der Polizeiversion sollte man nicht glauben. Demonstration in Herford am 15. Juli 2023. Foto: Simeon Gerlinger

Eine Verkehrskontrolle am 3. Juni 2023 in Herford wurde zur Verfolgungsjagd, die die Polizei mit einem brutalen Schusswaffeneinsatz beendete. Bilel war zu diesem Zeitpunkt 19 Jahre alt, alleine und unbewaffnet – die Polizei mit 13 Beamt*innen vor Ort. Sechs von ihnen schossen scharf, 34 mal. Bis zu zwölf Kugeln trafen seinen Körper. Dass Bilel diese Schüsse überlebt hat, grenzt an ein Wunder. Doch diese Nacht hat sein Leben für immer verändert.

Offenbar reichte es noch nicht aus, ihn wegen einer lächerlichen Bagatelle ins Koma zu schießen. Es wird zusätzlich wegen versuchten Mordes gegen ihn ermittelt, was angesichts des Vorgehens der Polizei einer Tatsachenumkehrung gleichkommt: Wer wollte hier wen töten? Auch gegen Bilels Mutter wird ermittelt, wegen Duldung des Fahrens ohne Führerschein. Eine Farce.

Was genau in der Nacht des 3. Juni vor sich ging, kann niemand sagen. Aber man muss schon den gesamten Kontext rassistischer Machtstrukturen ausblenden, um auf die Idee zu kommen, dass Bilel sich nur anders hätte verhalten müssen, um nicht Opfer eines solch brutalen Angriffs zu werden.

Unsoziale Medien

Aufgegriffen wurde der Fall in den Medien kaum. Und wenn, dann so wie von Reportern der Neuen Westfälischen, die knapp fünf Wochen später in reißerisch-boulevardesker Rhetorik schilderten, wie der Vorfall abgelaufen sein soll. Mit genauen Zeitangaben wird in dem Text der Eindruck vermittelt, man hätte einen »Insider-Einblick«. Einige Angaben stimmen nicht mit denen überein, die der Solidaritätskreis Bilel Herford und das Autonome Zentrum Wuppertal veröffentlicht haben und die – sollten sie sich bestätigen – ein Skandal wären. Sie sagen, dass der lebensgefährlich verletzt am Boden liegende Bilel durch die Polizei noch Handschellen angelegt bekommen habe, bevor ein Notarzt gerufen wurde.

Das wirft Fragen über das Verhalten der Polizei auf: Haben die Beamt*innen gedacht, dass Bilel, mit mehr als zehn Kugeln im Körper, die unter anderem seine Lunge durchbohrt, sein Rückenmark zerfetzt und ihn von der Brust abwärts gelähmt haben, mit drei Kugeln in einem Arm, einer Kugel im Kopf und mehreren Streifschüssen an Schläfe und Hinterkopf, plötzlich wundersamerweise aufstehen, ihnen die Waffen abnehmen und auf sie schießen würde? Oder, dass er eine verborgene Waffe aus seiner Hosentasche oder seinem Ärmel ziehen oder sie eigenhändig erwürgen würde? Es gibt vergleichbare Fälle, bei denen ein solches Vorgehen der Polizei bestätigt ist, und das sollte Journalist*innen zum Nachhaken bewegen.

Ein Artikel bei WDR von Juni 2023 geht noch etwas weiter und wirft die Frage auf, ob Bilel unter Drogen stand. Warum fragt niemand, ob die Polizist*innen Drogen genommen haben? Vielleicht haben sie sich mit billigem Speed aufgeputscht und hatten an dem Abend einfach Bock darauf, einen »Nafri« fertig zu machen. Zu hart? Komisch, weil das umgekehrt fast selbstverständlich bei Bilel angenommen wird. Nach dem Motto: Zu ihm passt das halt, zur Polizei nicht. Bei ihm reichen sein Gesicht und seine Hautfarbe, damit die Polizei ihre Magazine leer ballert. 34 Schüsse. 12 Treffer. 1 Leben.

Gerade bei einer staatlichen Institution wie der Polizei, mit bis an die Zähne bewaffneten Einheiten, ausgestattet mit zahlreichen Befugnissen, sollten Medien als »vierte Gewalt« besonders aufmerksam und mit großem Misstrauen hinschauen. Doch diese Rolle wird von ihnen, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht angenommen. Im Gegenteil: Polizeiberichte werden meistens einfach nur abgeschrieben und als vermeintlich objektive Nachricht wiedergegeben.

Diese Einstellung spiegelt sich auch in den sozialen Medien wider, wo viele genau wissen wollen, was in der Nacht des 3. Juni passiert ist. Es fallen Kommentare wie: »Wer nicht hören will, muss fühlen.« Unter einem Foto, das um Spenden bittet und auf dem Bilel schwerverletzt an ein Beatmungsgerät, Schläuche und Maschinen angeschlossen ist, ärgern sich andere darüber, dass »Kriminelle« so »gehyped« werden. Eine unerträgliche Anmaßung. Zwar fällt hier und da die Frage, ob denn 34 Schüsse wirklich nötig gewesen waren, doch in Sozialen Medien, Zeitungen und bei den politisch Verantwortlichen wird das Verhalten der Polizei im Wesentlichen auf Bilel selbst zurückgeführt, im Großen und Ganzen leiste »unsere Polizei« gute Arbeit. Dass dieser Gewaltexzess das Leben, das Bilel bis dahin geführt hat, komplett zerstört hat, ist kaum eine Erwähnung wert.

Herrschaftsinstrument Dehumanisierung

Das alles ist keine Überraschung, sondern das Ergebnis eines deutschen Diskurses, in dem Talkshows, Kommentare und Expert*innenrunden – zwischen »Nafris« und »arabischen Großfamilien« – rassistische Erzählungen und Erklärungsmuster in der Gesellschaft verfestigen. Dehumanisierung fungiert dabei als Herrschaftsinstrument: Ist das Menschsein einmal in Frage gestellt, geht es leichter von der Hand, jemandem Leid zuzufügen oder gar sein Leben auszulöschen. Dieses Instrument wurde bereits während der Kolonialzeit angewendet. Besteht die Bevölkerung einer Kolonie nicht aus menschlichen Individuen, sondern aus einer Masse von »Wilden«, trägt die Gesellschaft als Kollektiv die Unterdrückung und Ausbeutung leichter mit. Alles, was darauf hinweist, dass Betroffene menschliche Wesen sind, findet auch bei Fällen von Polizeigewalt selten Platz in der medialen Rezeption.

Zusätzlich wird der Einsatz massiver Polizeigewalt als notwendig dargestellt. Betroffene werden dafür zu einer extremen Bedrohung gemacht. Oft haben sie nach Aussage der Polizei eine Waffe in der Hand gehabt oder einen Gegenstand, der als Waffe eingesetzt werden kann. Zum Untermauern dieser Version wird Anzeige gegen sie erstattet. Wegen versuchten Mordes oder zumindest wegen schwerer Körperverletzung. Um von vornherein zu vermeiden, dass echte Aufklärungsarbeit stattfindet, wird die Polizei selbst damit beauftragt, den Vorfall zu untersuchen.

Fälle dieser Art werden genutzt, um erneut das Bild des »kriminellen Ausländers« zu reproduzieren, ohne sich ernsthaft mit dem Hergang selbst oder den Betroffenen der Polizeigewalt zu beschäftigen. Es gibt keine Gegendarstellung und zu selten kritische Nachfragen. Vielmehr werden Betroffene zu unbekannten Figuren ohne eigenes Empfinden und eigene Gedanken herabgestuft.

Um dieses Bild zu zeichnen, muss vieles ausgeblendet werden: dass die Polizei nachweislich Racial Profiling anwendet, mit Tricks die Kriminalitätsstatistik beeinflusst wird, um die sogenannte Ausländerkriminalität stärker erscheinen zu lassen, dass die Polizei in stigmatisierten Stadtteilen um ein Vielfaches häufiger Kontrollen durchführt als andernorts, der Polizeiapparat von rechten und rassistischen Strukturen durchsetzt ist, dass rassifizierte Menschen ganz andere Erfahrungen mit Gesellschaft, Staat und Polizei machen als die weiße Mehrheitsgesellschaft, dass eine Polizeikontrolle für viele dieser Menschen Ängste, vielleicht sogar Panik hervorruft. Es muss eben der Rassismus als Ganzes ausgeblendet und eine rassistische Tat zu einem »tragischen Unfall« umgedeutet werden.

Die Mauern einreißen

In Deutschland werden Rassismus und Polizeigewalt oft ignoriert. Findet Protest statt, ist er zu leise, kleinlaut und zurückhaltend. Viele deutsche Linke agieren bei diesen Themen sachlich und distanziert. Es sind bis auf einige antirassistische Initiativen vor allem Betroffene und Angehörige selbst, die alles dafür tun, im öffentlichen Raum wahrgenommen zu werden. Kampagnen wie der Solidaritätskreis Bilel Herford sorgen dafür, dass Vorfälle nicht in Vergessenheit geraten. Dennoch, in die weiße Mehrheitsgesellschaft dringen diese Proteste bisher zu selten durch.

Findet Protest statt, ist er zu leise, kleinlaut und zurückhaltend. Viele deutsche Linke agieren bei diesen Themen sachlich und distanziert.

Oury Jalloh, Mouhamed Dramé, Ibrahima Barry, Lamin Touray, Qosay Khalaf, Ertekin Özkan und noch viele mehr sind aber nicht nur Namen. Sie stehen für ein System von Rassismus, Reproduktion von stereotypen Bildern, von Hetze und Lügen, von systematischer Ungleichheit und letztlich Gewalt. Kommt es am Ende dieser Kette zu Mord und Totschlag durch Staat und Polizei, spannt ein Großteil der Medien ein Schutzschild um die bestehenden Verhältnisse, statt die Gesellschaftsform oder machtvolle Institutionen dieses Staates in Gänze kritisch zu hinterfragen.

Wir dürfen diese Zustände nicht achselzuckend hinnehmen. Wir müssen uns wehren. Wir brauchen öffentliche Aktionen, wir brauchen deutschlandweite Demonstrationen. Bilel lässt sich nicht unterkriegen, seine Stärke sollte uns ein Vorbild sein. Seine Familie kämpft jeden Tag für Gerechtigkeit. Ihr Kampf sollte unser aller Kampf sein. Seite an Seite müssen Betroffene und Nicht-Betroffene jeden einzelnen der 34 Schüsse in Wut verwandeln, mächtig sind wir dann, wenn wir eins sind. Es wird nicht das nächste Proseminar zu Rassismusforschung sein, das die herrschende Deutungshoheit ins Wanken bringt, sondern der konsequent wütende Protest von vielen, die den öffentlichen Raum einnehmen und die Story auf ihre Weise erzählen.

Julia Sorouri

wuchs in einem linken Elternhaus auf. Sie lebt als Filmemacherin, Aktivistin und Designerin in Köln. Zurzeit arbeitet sie an einem Dokumentarfilm über Polizeigewalt in Deutschland.

Nima Sorouri

ist Softwareentwickler und kam als Sohn iranischer Eltern in Aachen zur Welt. Er ist politisch aktiv in der Interventionistischen Linken Köln und beschäftigt sich u.a. mit rassistischem Framing in Medien.

Unterstütz unsere Arbeit mit einem Abo

Yes, du hast bis zum Ende gelesen! Wenn dir das öfter passiert, dann ist vielleicht ein Abo was für dich? Wir finanzieren unsere Arbeit nahezu komplett durch Abos – so stellen wir sicher, dass wir unabhängig bleiben. Mit einem ak-Jahresabo (ab 58 Euro, Sozialpreis 38 Euro) liest du jeden Monat auf 36 Seiten das wichtigste aus linker Debatte und Praxis weltweit. Du kannst ak mit einem Förderabo untersützen. Probeabo gibt es natürlich auch.