Politisches Spiel mit scharfer Munition
An der türkisch-griechischen Grenze hat die EU eine rechtsfreie Zone geschaffen
Von Salinia Stroux und Chrisa Wilkens
Seit am 29. Februar der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan ankündigte, die Grenzkontrollen nach Europa einzustellen, ist das türkisch-griechische Grenzgebiet geradezu in einem Kriegszustand. Während Erdoğan kaltblütig das Leben Tausender Geflüchteter als Trumpfkarte in seinen Verhandlungen mit der EU ausspielt, nutzt die rechtskonservative griechische Regierung unter Kyriakos Mitsotakis die Notsituation aus, um ihre repressive Anti-Migrations-Politik weiter durchzusetzen. Während Athen von einer »asymmetrische Bedrohung« spricht und damit die fremdenfeindliche Hysterie im Land weiter anheizt, lobt die EU Griechenland für seinen effizienten Grenzschutz und schickt Verstärkung.
An der Landgrenze haben griechische Polizei, Soldaten und Spezialeinheiten gemeinsam mit Frontex und regionalen Bürgerwehren ein Bollwerk errichtet, um die geschätzt 14.000 Geflüchteten im Niemandsland mit aller Gewalt am Grenzübertritt zu hindern. Tränengas, Blendgranaten und Wasserwerfer werden gegen die Menschen eingesetzt, die sich nun in einer rechtsfreien Zone befinden. Laut Medienberichten werden auch Gummigeschosse eingesetzt. Auf der türkischen Seite der Landgrenze und im Grenzgebiet zelten Tausende im Freien und trotzen den unmenschlichen Bedingungen und der Gewalt, die sie täglich erleben. Für sie gibt es keinen Weg zurück.
Mit aller Gewalt gegen Geflüchtete
Nur 350 Menschen schafften es zwischen dem 29. Februar und dem 11. März über die Landgrenze nach Griechenland, 45.000 Grenzübertritte wurden nach Angaben der griechischen Seite verhindert. Berichte über scharfe Munition und den internen Befehl, die »Eindringlinge« mit Gewalt zu stoppen, gerieten an die Öffentlichkeit. Mindestens zwei Todesopfer wurden bislang dokumentiert. Wer tatsächlich auf sie schoss ist unklar, laut Augenzeugenberichten kamen die Geschosse von griechischer Seite.
Muhammad al-Arab aus Syrien und Muhamad Gulzar aus Pakistan ließen ihr Leben in der Landgrenze am Evros. Trotz genauer Rekonstruktion und Dokumentation der Vorfälle durch die Gruppe Forensic Architecture und Belege der rechtlichen Vertretung der Hinterbliebenen, weist die griechische Regierung diese schweren Vorwürfe bislang zurück und spricht von »fake news« und »türkischer Propaganda«.
Seit der ersten Märzwoche kam es auf den griechischen Inseln gleichzeitig zu erhöhten Ankunftszahlen Geflüchteter. Es gab Berichte über Menschen, die durch Manöver der griechischen Küstenwache in Seenot gerieten, während die türkische Küstenwache zusah. Laut Zeugenberichten wurde auf Boote geschossen, die Motoren zerstört und Petroleum gestohlen. Die Menschen wurden in Seenot zurückgelassen. In anderen Fällen wurden wiederholt durch die griechischen Behörden illegale Rückführungen (pushbacks) dokumentiert. Ein sechsjähriges Mädchen ums Leben, als ein Schlauchboot mit 48 Menschen an Bord vor Lesbos kenterte.
Zwischen der Türkei und Griechenland tobt derweil ein Kampf um die Deutungshoheit über die dramatischen Ereignisse. Der türkische Präsident Erdoğan ordnete am 7. März gegenüber der Küstenwache an, keine Boote mit Geflüchteten mehr zur Grenze zu lassen, da sie dort in Gefahr geraten würden.
Schon Tage zuvor hatte er angekündigt, Griechenland aufgrund der Menschenrechtsverletzungen im Grenzgebiet vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verklagen zu wollen. Die Taktiken der griechischen Behörden an der Grenze verglich er später mit denen der Nazis im Zweiten Weltkrieg. Damit bezog er sich nicht zuletzt auf kursierende Fotos von halbnackten jungen Männern, die nach eigenen Aussagen durch griechische Beamte bis auf die Unterhose ausgezogen, geschlagen und wieder zurückgeschickt wurden. Die brutale Maßnahme sollte offensichtlich abschreckende Wirkung entfalten. Der mediale Ringkampf zwischen Türkei und Griechenland läuft auf Hochtouren.
Derweil leiden auch die wenigen Hundert Geflüchteten, denen es trotz der Eskalation gelingt, das griechische Territorium über Land oder See zu erreichen. Sie sehen sich nun mit den neuen repressiven Verfahren der griechischen Behörden konfrontiert, die seit kurzem angewendet werden und Geflüchtete in Griechenland faktisch in zwei Kategorien unterteilen: Jene, die vor dem 1. März 2020 ankamen und nach dem neuen restriktiven Asylgesetz abgefertigt werden und jene, die danach ankamen und keinerlei Rechte mehr besitzen. Denn in einer Verfügung vom 2. März beschloss die Regierung die Aussetzung der Asylantragstellung für einen Monat, für alle »illegal einreisenden« sowie deren Abschiebung oder Rückführung ohne Registrierung in ihre Herkunftsländer oder vermeintlich sichere Drittstaaten.
Geheimes Lager und Pogrome
Viele schaffen es aber gar nicht erst auf griechisches Territorium. Eine Recherche der New York Times belegte kürzlich die vielen Berichte von Menschenrechtsorganisationen, wonach Geflüchtete in ein geheimes Lager, eine Art exterritoriales Gefängnis, in der Nähe der Stadt Poros verbracht wurden. Dort werden sie ohne Kontakt zur Außenwelt festgehalten, um dann ohne ordnungsgemäßes Verfahren in die Türkei ausgewiesen zu werden – eine klarer Verstoß gegen das Völkerrecht. Nur wenige Menschen schaffen es in den Bezirk Evros und damit auf griechisches Territorium. Einige von ihnen wurden zu vier Jahren Haft und einer Geldstrafe von jeweils 10.000 Euro verurteilt.
Hunderte Geflüchtete werden in Hafenarealen unter freiem Himmel sowie auf einem Kriegsschiff der griechischen Marine bei Lesbos gefangen gehalten.
Neuankömmlinge, die auf See abgefangen werden, werden gemäß der Verfügung vom 2. März nun inhaftiert und haben keinen Zugang zu Asyl. Hunderte Geflüchtete werden deshalb unter unmenschlichen Bedingungen in Hafenarealen unter freiem Himmel sowie auf einem Kriegsschiff der griechischen Marine bei Lesbos gefangen gehalten. Sie sollen in die neuen Abschiebelager auf das Festland gebracht und von dort abgeschoben werden – bislang wurden diese Lager aber noch gar nicht errichtet. Menschenrechtsanwälte beklagen den schwierigen Zugang zu den Gefangenen. Die Menschen selber sind verzweifelt. Schwangere, Babys, chronisch Kranke, Gewaltopfer, Frauen, Kinder und Männer leben aneinander gepfercht, ohne zu wissen, was mit ihnen passieren wird.
Die Normalisierung der staatlichen Gewalt und die Entrechtung von Menschen hat mehr Raum für rassistische Exzesse eröffnet. Auf den Ägäis-Inseln attackierten Mobs tagelang NGO-Mitarbeiter*innen, Journalist*innen und Geflüchtete. Sie blockierten Zufahrtsstraßen zu den Hotspots in Lesbos und Chios und zu ihren Dörfern, um die Regierung zu zwingen, Neuankommende aufs Festland abzuschieben. Schlauchboote mit Geflüchteten wurden angegriffen, ehrenamtlich geführte Schulen niedergebrannt und Rettungsboote nicht an Land gelassen.
Helfer*innen auf den Inseln fürchten um ihr Leben. Auf Samos wurde vergangene Woche das Auto einer ehrenamtlichen Krankenschwester aus Skandinavien in Brand gesetzt. Auf Lesbos wurde in Wohnungen von Übersetzer*innen eingebrochen. Zuvor waren schon Mitarbeiter*innen diverser anderer NGOs und Aktivistengruppen angegriffen und bedroht worden. Auch die Crew der Mare Liberum, die die Menschenrechtslage auf der Seegrenze beobachtet und dokumentiert, ist mehrfach bedroht worden. Man hinderte sie an Land zu gehen, wollte das Schiff in Brand setzen. »Nachdem die Regierung jeglichen Rückhalt der Inselbevölkerung verspielt hat, haben Rechtsradikale die Gewalt auf der Straße an sich gerissen und terrorisieren Einwohner*innen, Geflüchtete, Journalist*innen und NGO Mitarbeiter*innen«, so der Aktivist Philipp Hahn.
Gleichzeitig harren mehr als 20.000 Menschen am Hotspot von Moria aus. Die Bedingungen waren schon zuvor lebensbedrohlich. Seit aber die Attacken auf NGOs und Solidaritätsgruppen zunahmen, haben mehrere Organisationen vorläufig ihre Aktivitäten eingestellt. Die Geflüchteten sind seitdem quasi auf sich allein gestellt. Und der Plan der EU-Staaten, bis zu 1.600 Minderjährigen aus den Lagern aufzunehmen, ist vor diesem Hintergrund nur ein Tropfen auf dem heißen Stein, eine klare Ablehnung jeglicher Verantwortung.
Mitte März wurde auf Lesbos der erste Coronafall bestätigt: Eine Griechin, die in einem Supermarkt arbeitet. Wenn das Virus sich im Lager Moria ausbreitet, weiß keiner, wie gehandelt werden kann.
Mitte März wurde auf Lesbos der erste Coronafall bestätigt: Eine Griechin, die dort in einem Supermarkt arbeitet. Wenn das Virus sich im Lager Moria ausbreitet, weiß keiner, wie im Falle einer Virusausbreitung unter tausenden Geflüchteten gehandelt werden solle. Laut Schätzungen von Ärzte ohne Grenzen haben mittlerweile mehr als 60.000 Asylsuchende und Migrant*innen in Griechenland keinen freien Zugang zum Gesundheitssystem, nachdem die Mitsotakis-Regierung, die im Juli an die Macht kam, die Sozialversicherungsnummer für die Neuangekommenen abgeschafft hat.
Nationalistischer Tsunami
Ahmad*, ein 22-jähriger Mann aus Syrien, der auf Lesbos lebt, beobachtet schockiert die Stimmung in Griechenland: »Es erinnert mich irgendwie an Syrien, die Situation und alles. So wie es angefangen hat. Europa muss sofort handeln.« A., eine Palästinenserin, die auch auf Lesbos wohnt, sagt über die aktuellen Entwicklungen an der türkisch-griechischen Grenze: »Sie nutzen die Flüchtlinge nach wie vor als Teil ihres Spiels zwischen der Türkei und Europa. Sie haben es immer getan, aber jetzt ist das Spiel so klar, so offensichtlich.«
Eine ähnliche brisante Stimmung herrscht auch an der Landgrenze am Evros, wo ein CNN-Journalist verprügelt wurde, als er Zeuge der Misshandlung eines Geflüchteten durch eine lokale Bürgerwehr wurde. Es kursieren diverse Videos, die Nachtpatrouillen von bewaffneten Einheimischen mit ihren Autos, Traktoren und Booten an der Grenze zeigen. Die Behörden tolerieren die Gewalt bislang. Regierungsnahe Medien lobten diese Form der »Eigeninitiativen«.
In europäischen Neonazi-Chatgruppen wird offen darüber gesprochen, den griechischen »Kameraden« beim Grenzschutz unter die Arme zu greifen. Einzelne Rechtsradikale, unter anderem aus Deutschland, Frankreich, Österreich, Irland und Belgien sind bereits vor Ort gesichtet worden – sowohl in Evros als auch auf Lesbos. Der Verleger einer lokalen Zeitung der Region Evros schrieb vor ein paar Tagen: »Im Moment passieren in Evros unglaubliche Dinge. Ein nationalistischer und intoleranter Tsunami fegt über unser Land.«
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen verlor nach einem Besuch im Grenzgebiet in Evros kein Wort über die Gewalt gegen Geflüchtete. Stattdessen stellte sie sich hinter die griechische Regierung und versprach Rückendeckung beim Grenzschutz. Nach einem Spitzentreffen mit Erdogan ruderte die Ministerin ein Stück zurück: Sie fordert nun von der Türkei die Räumung der Grenze und von Griechenland die Einhaltung des Rechts auf Asyl. In bürokratischer EU-Tradition wird auf dieser Grundlage nun eine Neuauflage des EU-Türkei-Abkommens verhandelt. Die EU-Grenzschutzagentur Frontex schickte bereits hundert zusätzliche Grenzschützer*innen in die Region. Athen bekommt mehr Mittel, um mit der »Krise« an der EU-Außengrenze wieder allein fertig zu werden. Bis zu 700 Millionen Euro sollen für die Finanzierung von Grenzschutz, Abschiebehaft und Rückkehrprogrammen zur Verfügung gestellt werden.
An der türkisch-griechischen Landesgrenze trotzen unterdessen hunderte Menschen weiter dem Tränengas und der Militärgewalt auf der Suche nach Sicherheit. »Hürriya, hürriya« (arab.: Freiheit) hört man sie inmitten der Gaswolken in Livevideos rufen. Aus dem Bauch des Kriegsschiffes auf Lesbos, meldet sich Hassan*, ein Vater aus Syrien. Seine Frau ist schwanger: »Wir sind seit Tagen eingesperrt. Was wird mit uns passieren? Einige von uns traten in Hungerstreik. Wir flohen aus dem Krieg und dorthin will man uns wieder zurückschicken.«